VOR 74 JAHREN
VERTREIBUNG AUS WUDERSCH/BUDAÖRS
Von Andreas Grósz
Das Ende des Zweiten Weltkrieges gab Möglichkeit nicht nur die „deutschen Kriegsverbrecher” zur Verantwortung zu ziehen, sondern auch das Prinzip der Kollektivschuld in die Wirklichkeit umzusetzen. Letzterem hat die Konferenz zu Potsdam einen neuen Schwung gegeben. Der größere Teil der damals neuen ungarischen politischen Elite hat ja wesentlich nur auf die Gelegenheit gewartet, das Ungarndeutschtum-Problem endlich und endgültig zu regeln, möglicherweise auch über den Weg einer massenhaften Vertreibung.
Der Beschluß des Alliierten Kontrollrates vom 20. November 1945 erlaubte der ungarischen Regierung die sogenannte Aussiedlung von 500 000 Deutschen in die amerikanische Besatzungszone Deutschlands. Auf der Sitzung des ungarischen Ministerrates am 22. Dezember 1945 hat man die Verordnung zur Umsiedlung der ungarländischen deutschen Bevölkerung befürwortet und diese dann am 29. Dezember veröffentlicht. Kaum eine Woche später, am 4. Januar 1946 wurde die Durchführungsverordnung unter Nr. 70010/1946 erlassen, deren praktische Verwirklichung in der von der ungarischen Hauptstadt westlich gelegenen Großgemeinde Budaörs/Wudersch ihren Anfang genommen hat.
Wudersch war schon früher in das Blickfeld der ungarischen Landespolitik geraten: Die öffentliche Presse hat in ihren deutschfeindlichen Hetzartikeln die Ortschaft als „Hauptsitz des Nazismus” und „Sammelhort des Volksbundes” genannt, obwohl nur 3 % der Bewohner der Gemeinde Mitglied des Volksbundes gewesen waren. Es ist eindeutig, daß die negative Propaganda in entscheidendem Maße die Tonart der Presseberichte bestimmte, die wieder grundlegend die Stimmung der öffentlichen Meinung für den Beginn der Vertreibung beeinflußten.
Zwar sind die Erinnerungen hinsichtlich einer genauen Chronologie der Wuderscher Vertreibung nicht übereinstimmend, es ist dennoch sicher, daß die Ortschaft am 13. Januar 1946 von einem 600 Mann starken Polizeiaufgebot aus der Hauptstadt umzingelt wurde. Alle Zufahrten und Wege waren gesperrt. Rasch verbreitete sich die Nachricht im Ort, daß die deutsche Bevölkerung ausgesiedelt werden soll. Es herrschte Verzweiflung und Unruhe, man verstand nicht die Geschehnisse, obwohl man über Zeitungsartikel wußte, die schon im Winter 1945 von der bevorstehenden Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn berichteten. Bald erschienen auch die Plakate auf den Straßen in Wudersch, die die Aussiedlungsabsicht offiziell bekanntgaben. Am 14. Januar wurde veröffentlicht, wer freiwillig nach Deutschland umsiedeln will, kann sich bei der bereits nach Budaörs versetzten Aussiedlungs-Komission melden. Niemand meldete sich…
Am 19. Januar begann im westlichen Teil von Wudersch (Umgebung des Kalvarienberges und des heutigen Rathauses) nebst Einsatz von mehreren hundert Polizisten die Aussiedlung der Einwohner und systematische Ausräumung der Häuser. In der Nacht und am frühen Morgen schreckte die Polizei durch Klopfen und Poltern an Fenstern und Türen die Menschen aus ihren Betten. Man ließ ihnen zwei Stunden Zeit, um das Allernötigste zusammenzuraffen, da sie ja nur 50 kg mitnehmen durften. Dann jagte man sie aus ihren Wohnungen hinaus in die kalte Nacht. Sie mußten zu den Sammelstellem ins Gemeindehaus bzw. in die Knabenschule gehen, wo die Aussiedlungskomission residierte. Diese Komission trieb in Wudersch unter Berufung auf die Anweisung des Innenministeriums nicht nur jene aus ihren Häusern, die sich zur deutschen Nationalität und deutschen Muttersprache bekannten, sondern auch alle, die sich mit deutscher Muttersprache für die ungarische Nationalität erklärt hatten. Es gab wohl die Möglichkeit von der Aussiedlung befreit zu werden, doch dies ist nur sehr wenigen gelungen. Zur Befreiung konnte dienen eine vom Statistischen Zentralamt ausgestelle Bestätigung über die Aussage bezüglich Muttersprache und Nationalität bei der Volkszählung 1941, sowie auch ein Zeugnis von Partei oder Gewerkschaft über linksorientierte Tätigkeit des Betreffenden, bzw. die ungarische Abstammung des Ehepartners wurde auch als Grund zur Enthebung akzeptiert. Allgemein war es jedoch aus Zeitmangel unmöglich besagte Bestätigungen einzuholen, oder sie wurden einfach nicht in Betracht gezogen.
Traurige und verzweifelte Menschen warteten auf ihr Schicksal, und mußten dann bei bitterer Kälte zu Fuß zum Bahnhof gehen, der ziemlich weit außerhalb des Ortes war. Der erste Transport fuhr am 19. Januar ab, wo die Vertriebenen in ungeheizte Viehwaggons gebracht worden waren. Diese erste Gruppe wurde von dem Kaplan Tamás Nyiri nach Deutschland begleitet. Hier ein Zitat aus seinen Aufzeichnungen: Die Ausgesiedelten konnten nicht viel mitnehmen (…) Ihre Habe wurde auf dem Bahnhof von einem Komitee überprüft und wenn man etwas fand, was nicht mitgeführt werden durfte, so wurde es weggenommen. Der Zug wurde von ungarischen Polizisten begleitet (…) Ich habe es freiwillig auf mich genommen, unsere Menschen auf dem in die völlige Unsicherheit führenden Weg zu begleiten. Nur wenige glaubten, wirklich nach Deutschland ausgesiedelt zu werden, wie es amtlicherseits behauptet wurde. Meine Anwesenheit wirkte sich auf jeden Fall sowohl auf die Einwaggonierten als auch auf die Daheimgebliebenen beruhigend aus (…) Die Fahrt selbst erwies sich, gemessen an den Umständen, als erträglich. Wenn die Lage es zuließ, habe ich für die Ausgesiedelten die Messe gelesen (…)” Als einzigartige Dokumente der Wuderscher Vertreibung gelten die Zeichnungen des damals zwölfjährigen Josef Grosz über den Verlauf und die Stationen des Geschehens – mit den Augen eines Kindes.
Noch weitere sechs Transporte rollten in den darauffolgenden zwei Wochen aus der Gemeinde in Richtung Baden-Württemberg nach den Zielorten Mannheim, Mosbach, Heilbronn-Aalen, Bad-Mergentheim, Tauberbischofsheim, Öhringen-Künzelsau und Karlsruhe.
Anfang Februar war Wudersch praktisch leer. Die Häuser standen offen, die Haustiere herrenlos zurückgelassen und unversorgt, die Preßhäuser und Keller von Plüderern belagert. Nahezu 80% der 10 000 deutschen Einwohner waren abtransportiert, die Zurückgebliebenen weitgehend eingeschüchtert.
Am 23. August 1947 kam es zu einer neueren Aussiedlung. Diesmal wurden achtzig Familien in die russisch besetzte Ostzone Deutschlands, in die spätere DDR vertrieben. Auch der Gemeinderichter, Georg Ebner und seine Familie wurden mitgenommen. „(…) Mein Mann war ihnen schon längst ein Dorn im Auge. Als Dorfrichter kämpfte er immer wieder gegen ihren Unfug und Terror an. Nun erfaßten sie die Gelegenheit ihn loszuwerden und schnappten sich auch noch ein schönes Vermögen.”
Die in Deutschland Angekommenen wurden von armseligen Umständen erwartet, anfangs wurden sie in Notwohnungen untergebracht. Erst nach vielen Jahren konnten sie sich in den deutschen Alltag einfügen, so daß sie sich bis heute noch vorwiegend als Wuderscher fühlen. Die in Wudersch zurückgebliebene deutsche Gemeinschaft wähnte sich noch lange in ständiger Gefahr und konnte ihre Traditionen auch später nur eingeschränkt pflegen.
Die Vertreibung aus Wudersch war ein Meilenstein im Leben der Gemeinde. Die Erinnerungs-Gedanken von Josef Hauser (Obrigheim) widerspiegeln jene Stimmung, die den mit Bitterkeit vermischten Lebenswillen der vertriebenen Deutschen zum Ausdruck bringt: „Keiner der Vertriebenen hatte sich etwas zuschulden kommen lassen. Es war eine unaussprechliche und unvorstellbare Ungerechtigkeit, Menschen, die immer nur fleißig ihrer Arbeit nachgegangen sind, von Haus und Hof zu vertreiben (…)
Man hat uns die Heimat genommen. Wir meinten immer noch, daß die Gerechtigkeit siegen müßte und wir eines Tages doch wieder in die alte Heimat zurückkehren können.”