Von Prof. Dr. Zoltán Tefner
Die einzige Farbe – zum großen Kummer von Honecker und seinen Getreuen – brachten die Westsendungen. In der abendlichen Dunkelheit richteten sich die Antennen auf den Balkonen der Plattenbausiedlungen auf den Westen und diese bewusstseinsgespaltene Gesellschaft beobachtete im Fernsehen, über diesen riesigen Gucker, gespannt, wie eine bessere Welt drüben glänzte.
Der Stipendiat der Lajos-Kossuth-Universität, Csaba F., hat im Frühling 1973 im Studentenclub der Uni Jena Sabine kennen gelernt. Das Mädchen war zu damaliger Zeit bereits seit zwei Jahren bei der berüchtigten Stasi, dem Geheimdienst für Innen- und Außenabwehr, beschäftigt, verdeckt. (Csaba F. ist eine reale Person, seine Geschichte auch, der Name aber ist ein Pseudonym, da dessen Träger auch heute – 2009, R. G.- noch lebt.). Sabine absolvierte offiziell ein Philosophiestudium, im Geheimen aber diejenigen internen Kurse, die die Stasi hielt, um die jungen, sehr intelligenten und auch für die Erledigung sensibler Aufträge geeigneten Kader auszubilden. Ihr Kennenlernen war nicht dem Zufall geschuldet. Sabine hatte einen Auftrag. Das ausgedehnte Beziehungsgeflecht von Csaba F. erachtete die Stasi als solches, über das die Überwachung der ungarischen Stipendiaten in Jena am effektivsten realisiert werden könnte. 1973 war es der 1968 in die Wege geleitete „Neuer Wirtschaftsmechanismus“ genannte Reformversuch, weswegen für die DDR-Parteiführung nicht nur die Budapester Regierung suspekt wurde, sondern auch die ungarischen Studenten, die die Stasi als zersetzende Kräfte zu erkennen meinten, und das nicht ohne Grund.
Csaba F. galt auch als eine solche „zersetzende Kraft“, der es nie versäumte, seine Lieblingstheorie offen zu propagieren: Die DDR sei eigentlich ein „Flohzirkus”, ein unbedeutender Pickel, ein Versuch, der ganz geschwind auf dem Misthaufen der Geschichte landen würde. Heute wissen wir, dass er nicht ganz falsch lag. Damals aber in der effektivsten Phase der Brežňev-Doktrin, als an die Ewigkeit des Kommunismus nur wenige nicht glaubten, galten diese renitenten Bekundungen als Kapitalverbrechen.
Die Überwachungsaktion kam anfangs gut voran, später geriet sie aus den Fugen. Es kam etwas in die Quere, was die Stasi-Chefs nicht erwartet haben. Sabine und Csaba F. haben sich ineinander verliebt. Sabine verbrachte den Sommer 1973 in Debrezin, und im Wohnheimzimmer im Großwald, wo sie übersommert haben, kam ernsthaft eine Übersiedlung nach Ungarn zur Sprache. Die Stasi war im Zugzwang. Nicht nur deswegen, weil ein verliebter Geheimagent kein Geheimagent mehr ist, sondern auch, weil man mit Sabine konkrete Pläne hatte. Das Mädchen war wegen seines attraktiven Aussehens, seiner Empathiefähigkeiten und nicht zuletzt der überdurchschnittlichen Fähigkeit, Kontakte herzustellen, für die Erledigung komplizierterer und gefährlicherer Aufgaben vorgesehen, also für Einsätze in Westeuropa. Ein Geheimdienst wäre kein Geheimdienst, wenn er für unerwartete Situationen keinen Plan B hätte. Die Beziehung wurde per Befehl gestoppt. Sabine musste einen „Trennungsbrief” kreieren.
„Lieber Csaba, (…) ich kann jetzt nicht zu Dir fahren. Ich habe viel zu tun. Ich helfe Heidi, sie geht ins Krankenhaus und erwartet in 10 Tagen ihr Baby. Ihre Wohnung ist wundervoll, sie haben diese ansprechend eingerichtet: schmucke Möbelstücke, Kühlschrank, automatische Waschmaschine, alles, was das Herz begehrt. Csaba, es ist so gut wie unmöglich, hier wegzukommen. Es ist traurig, aber wahr. Und Du darfst nicht hierherkommen. Du weißt es genau, was diese beiden Sachen für uns bedeuten. Schrecklich! Küsschen, Sabine. Schreib mir!”
„Das Leben des Anderen“ – diesen Titel trägt ein Film, der vor kurzem in Budapest mit großem Erfolg aufgeführt wurde und der die Probleme der Grenzen der Allmacht des Staates behandelt. Das Drehbuch des Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck entstand auf Grundlage der Methoden der Stasi und der in der DDR unbefriedigenden Lage der Menschenrechte, einer der obigen entsprechenden realen Lebenslage. Aber was war denn dieser komische Einparteienstaat, der so hart in den Alltag der Menschen eingegriffen hat? Inwiefern entsprach die politische Praxis in den 40 Jahren seines Bestehens dem soziologischen und psychosozialen Zustand der DDR-Gesellschaft und den Bedürfnissen und Erwartungen der Gesellschaft? Kann es lediglich als eine Art „Abbildung” betrachtet werden, was nach der Pseudowissenschaft bedeutet, dass jede Gesellschaft unter der Willkürherrschaft eines solchen politischen Systems leidet, das ihr gebührt? Die politischen Wurzeln der DDR reichen mindestens bis Bismarck zurück, aber dass sie zustande kam, dafür liefern die Zustände nach 1945 eine Erklärung: Die Sowjets haben mit dem Sieg über Deutschland reichlich „übergewonnen”. Die rote Sowjetunion, die früher von ganz Europa gefürchtet und verachtet wurde, stand nun in der Mitte Europas. Die DDR, eines der seltsamsten Staatsgebilde der modernen europäischen Geschichte, ist ein typisches Produkt des Kalten Krieges. Die Sowjetunion betrachtete den Status quo, der auf der Potsdamer Konferenz beschlossen wurde, nicht als endgültig, verkündete offen eine Politik der Expansion bis zum Atlantik und sogar noch weiter hinaus. Der Wunsch nach russischer Herrschaft über dem Kontinent hat eine seit Zarin Katharina der Großen währende Tradition. 1945 wurde Deutschland in vier Besatzungszonen geteilt und die östliche sowjetische nannte man SBZ, ebenso die anderen im Westen Britische, Amerikanische und Französische Zone. Die Potsdamer Bestimmungen betrachteten das besetzte Deutschland – um menschliche Katastrophen abzuwenden – als einheitlichen Wirtschaftsraum. Quelle des Übels war, dass man die Potsdamer Bestimmungen nicht umgesetzt hat. Ab 1946 stockte die Zusammenarbeit zwischen den Besatzungszonen, es entstanden große Versorgungsprobleme. Parallel dazu begann eine Rivalität zwischen Ost und West, die Bipolarität des aufgeteilten Europas verfestigte sich. Der eigentliche große Bruch wurde durch die Währungsreform im Jahre 1948 besiegelt, deren Ziel es war, in der Westzone die Wirtschaft in Gang zu bringen, und der darauf folgenden Berliner Blockade, als die Sowjets West-Berlin, das die Westwährung annahm, militärisch umzingelten, und die Versorgung der Stadt ein gutes Jahr über die Luftbrücke erfolgte. Die Westalliierten leisteten eine logistische Wunderleistung, die ihresgleichen sucht: Die 195.000 Frachtflüge schafften 1,5 Tonnen Lebensmittel in das umzingelte West-Berlin, aber auch Kohle, Öl und Baumaterial gelangten auf dem Luftweg in die Stadt.
Während dessen begannen beide Zonen (West- und Ostzone) sich staatsrechtlich und verwaltungstechnisch zu trennen. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Trizone im Westen Deutschlands, die nun den Namen Bundesrepublik Deutschland trug, verkündet. Im August wurden die ersten Bundestagswahlen abgehalten. Parallel dazu rief im Mai auf der östlichen Seite der 2. Deutsche Volksrat die Provisorische Volkskammer ins Leben, die später als Parlament der Ostzone arbeitete. Zu dieser Zeit entstand auch die Verfassung der DDR und mit dem Akt der Annahme am 7. Oktober 1949 entstand auch die DDR. Staatspräsident wurde ein Mann der Sowjets, der ehemalige Emigrant in Moskau, Wilhelm Pieck, Ministerpräsident wurde Otto Grotewohl.
Das neue Staatsgebilde musste sich gleich zu Beginn großen Schwierigkeiten stellen – allen voran der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung des Westteils und der darauf basierenden Lebensniveauexplosion, die man das „deutsche Wirtschaftswunder” nennt. Die DDR war nicht imstande, die vom westlichen Wunder generierte Krise zu bewältigen: Massen verließen die Ostzone und die Regierung sah sich genötigt, die Fluchtwege abzusperren. Die Ostdeutschen wurden zu Geiseln ihres eigenen Landes und seiner Regierung. Die Junikrise des Jahres 1953 in Berlin vermochte die DDR-Führung noch mit Hilfe sowjetischer Tanks zu beherrschen, aber danach entwickelte sich auch die Geschichte der DDR zur Behandlung kleinerer und größerer Krisen wie in den anderen Ländern des sowjetischen Lagers, bei den Polen oder in Ungarn. Die Sowjets konnten sich diese Leichtsinnigkeit nicht leisten. In der DDR musste eine Friedhofsruhe herrschen.
Es stellt sich die Frage, warum. Die Antwort ist einfach: aus militärischen Gründen. Ungarn und das seit 1955 neutrale Österreich waren lediglich eine geostrategische Zone, die man sogar noch verlassen könnte (1956 stellte man in Moskau derartige Überlegungen ernsthaft an), wohingegen die deutsche und polnische Tiefebene schon immer als europäischer Aufmarschplatz russischer Streitkräfte diente. Das militärische Denken, einst russisch nun sowjetisch, konnte nie mit diesem Stereotypen brechen, aber auch aus logischen Gründen konnte man das auch nicht einfach negieren. Summa summarum: Das vor 60 Jahren geschaffene Land wurde zum bipolaren Gleichgewicht des europäischen Kontinents.
Orwell’scher Alptraum
Die sogenannte GSTD, also die Gruppe der sowjetischen Besatzungsarmee in Deutschland bestand am Ende des Krieges aus 1,5 Millionen Soldaten. Diese Streitkraft wurde bis 1947 auf 350.000 reduziert, dann wieder auf 600.000 erhöht, danach wieder auf 380.000 reduziert, welche Zahl bis 1994 im Großen bestanden hat, bis zum vollständigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte. Im März 1954 wurden sie in GSSD umbenannt, was ein Signal war, denn hier fehlte das Wort „Besatzer”. Auf die DDR-Gesellschaft wirkte die Namensänderung trotzdem nicht beruhigend, denn das Waffenarsenal entwickelte sich schlagartig, die ständige uniformierte Militärpräsenz der Sowjets auf den Straßen führte zu offenen Konflikten mit der Zivilbevölkerung. Während man in Ungarn bemüht war, die Truppen von der Zivilbevölkerung zu isolieren, die Kasernen am Dorf- und Stadtrand zu platzieren, „lebten” die 220.000 Familienmitglieder, unter ihnen 90.000 Kinder, in der DDR praktisch „unterm Volk”. Die Bevölkerung musste wegen des Verhaltens der betrunken randalierenden sowjetischen Offiziere vieles ertragen.
1981 standen in 276 Ortschaften sowjetische Kasernen, es gab 47 Flugplätze und 116 Übungsplätze, es waren 4200 moderne Panzer, 3600 Geschütze, 690 Flugzeuge, 95.000 Transportfahrzeuge und 670.000 Tonnen Munition stationiert. Laut Militärexperten reichte Letzteres aus, um die westeuropäischen Länder dreimal zu verwüsten. Und was das Gefährlichste war: 180 verschiedene Raketensysteme, natürlich mit nuklearen Sprengköpfen. Die Unterhaltung eines derart riesigen Arsenals bedurfte auch militärisch großer Fachkenntnis, aber in erster Linie politisch war dessen Inbetriebhalten kein Kinderspiel. Auf der politischen Elite der DDR lastete die ganze Zeit ein enormer Druck und größtenteils erklärt das den vom allen abweichenden, aber dennoch abstoßenden Charakter (Anm.: des DDR-Systems). Denn in der Sowjetunion war die „Behandlung” der Massen kein Problem, nachdem die despotischen und brutalen Methoden des Zarenregimes sowohl das Stalin’sche als auch das Brežňev’sche Lenkungsmodell wie selbstverständlich übernommen hat und sogar weiterentwickelte. In der DDR kam dieser harsche Ton nicht an, man musste feinere, raffiniertere Techniken ausdenken. Das politische System der DDR wirkte deswegen so abstoßend auf seine Bürger und das Ausland, weil fast alles, was in den vierzig Jahren passierte, diametral zu den humanistischen Traditionen stand, die die deutsche Kultur mit Europa verband. Es ist wahr, dass in den dunklen Jahren des Nationalsozialismus diese humanistischen Normen eine Pause eingelegt haben, aber danach hat die Welt dennoch das, was auf deutschem Boden nach 1949 passierte, mit den alten deutschen Traditionen verglichen. Und in dieser Beziehung hat die DDR total versagt.
Genau das wurde nicht umgesetzt, was der junge Goethe in seinem Drama „Torquato Tasso” verkündet, dass wir unsere angeborenen aggressiven Triebe ablegen müssen; der humanistische Mensch kann nur so für Ordnung und Disziplin sorgen, wenn er sich selbst bezwingt. Der Partei- und Staatsapparat der DDR hat den europäischen Macciavellismus mit der aus der Sowjetunion übernommenen stalinistischen Brutalität vermischt. Weder das eine noch das andere hatte etwas mit Goethe zu tun, auch nicht mit den anderen: mit Hermann Hesse oder Thomas Mann. Das berühmte Gedicht Hermann Hesses von dem deutschen Kriegsheimkehrer voller Selbstzweifel, den „die Scham zu Boden drückt”, war eine kaum zitierte, an den Rand gedrückte Perle der deutschen Lyrik: „Aber wir hoffen. Und in der Brust lebt uns glühende Ahnung von den Wundern der Liebe.” Die DDR sahen tatsächlich auch schon viele andere Zeitgenossen als einen großen Militärübungsplatz an, der von einer lieblosen und zynischen politischen Elite regiert wird und wo die menschlichen Initiativen unterdrückt sind und eine graue Elite versucht die ganze Gesellschaft ins Einheitsgrau zu drängen.
Das in George Orwells Roman „1984” Beschriebene konnte – zum Glück – noch keine Diktatur vollständig umsetzen. Es ist aber nicht auszuschließen, dass unter bestimmten Gesichtspunkten gerade die DDR die Stufe erreicht hat, die dem Orwell’schen Alptraum am nächsten stand. Wer übte die Macht aus? Orwell spricht von grauen Männchen, von käferähnlichen Menschen, deren Gesicht unergründlich ist, die schnell an Gewicht zunehmen und oft in unterschiedlichen Ministerien vorkommen. „Es sieht so aus, als würde dieser Menschenschlag unter der Parteiherrschaft am besten gedeihen”, schreibt Orwell. Auf den Seiten von „1984” werden Tausende Menschen getötet, nach Orwells Phantasiebild werden sie „verdampft”. Wen verdampft man denn nicht? „Parson, die schnatternde Gestalt ohne Augen wird man nie verdampfen. Die kleinen, käferähnlichen Menschen, die sich so schnell im Gängelabyrinth der Ministerien bewegen, wird man nie verdampfen.” Wilhelm Pieck, der erste Staatspräsident der DDR, hat in den dunklen Jahren der Moskauer Verbannung die Säuberungen überstanden, sein Nachfolger Walter Ulbricht ebenso. In der ersten Führungsriege der DDR – bis auf Willi Stoph – gehörte jeder zu diesem grauen Menschenschlag, der sich versteckt hielt und unter allen Umständen am Leben bleibt. Was dann bis zum Sturz im Jahre 1989 aufgrund der Kontraselektion zum bestimmenden Trend bei der Auswahl der Führungskader wurde – bis hinunter zu den Kreissekretären oder weiter hinunter. Die doktrinären marxistischen Parteifunktionäre waren aufgrund ihrer Borniertheit, Engstirnigkeit und ihres Servilismus selbst im sozialistischen Lager legendär. Die Gedankenpolizei, ein von Orwell erfundenes Phantasieorgan, das auch in die Köpfe der Menschen hineinblicken kann, wurde in Gestalt der Stasi in den Jahren der Diktatur quasi verwirklicht. Der Fall von Sabine und Csaba F. ist eine harmlose Romanze im Vergleich zu den Übergriffen auf die Staatsbürger: Nötigung von Familienmitgliedern innerhalb der Familie zu spionieren, Vergiftung von zu aktiven evangelisch-lutherischen Geistlichen durch Depressiva, Nötigung von überführten Frauen zu sexuellen Diensten, Folter…
Diese weniger offene, aber im Tiefsten brutale Form der kommunistischen Herrschaft erwies sich – obwohl dies keinesfalls den Wünschen der Bürger entsprach – als die beste, DDR-spezifische Methode. Sie beruhte auf drei festen Säulen. Die erste war die Anwesenheit der Sowjetarmee, die zweite die omnipräsente Überwachungsgedankenpolizei und die dritte der generell kleinbürgerliche Charakter der deutschen Gesellschaft. Die dritte scheint ein wenig aus dem Rahmen zu fallen, aber aufgrund der tieferen Prozesse in der Gesellschaft sollte man sie dazuählen: die fragwürdige Jahrhunderttradition der deutschen Sozialpolitik.
Blue-Collar-Partner
Letztere fing bei Bismarck an. Der Kanzler mit ultrakonservativem Denken – um das Zepter der Initiative aus der Hand der Linken zu reißen – hat selber das System staatlicher Fürsorge errichtet. Diese Tradition wurde auch vom Naziregime gepflegt. Für die „Arier” baute man Arbeiterwohnungen mit Badezimmern, die Arbeitslosigkeit verschwand, man hat mit ökonomischen Mitteln einen relativen Warenreichtum erreicht, dutzende Kindergärten und Krippen machten in den Außenbezirken Berlins ihre Toren auf. Das Naziregime konnte größtenteils diesen Maßnahmen seine anfängliche Popularität in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre verdanken. Nach dem Krieg fing man in beiden Staaten an, eine umfassende Sozialpolitik umzusetzen. Die BRD, die die Marshall-Hilfe in Anspruch nahm, mehr, die DDR, der Stalin nicht gestattete, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, eher weniger. Trotzdem war die ostdeutsche Sozialpolitik immer noch viel besser als sonst wo im sozialistischen Lager. 40 Jahre lang kostete ein Bier 1,05 Mark, die Semmel 5 Pfennige. Die jungen Leute, die heirateten, bekamen so gut wie sofort eine Wohnung zugewiesen sowie spottbillige Fahrkarten und die grundlegenden Güter in Hülle und Fülle – genau berechnet nach Notwendigkeit. Sabine – die sich im Sommer 1973 in Ungarn gründlich umschaute – wies in ihrem Brief auf einen recht sensiblen Punkt ihrer Beziehung hin: Hier gäbe es alles, in Ungarn nur noch kleine staatliche Geschenke und die auch nicht für jedermann, die Gesellschaft dort teile sich in Arm und Reich auf. Ihre Entscheidung, wozu sie im Übrigen von ihren Vorgesetzten gezwungen wurde, hat dieser Umstand ebenfalls erleichtert.
Die militärischen Interessen der Sowjetunion benötigten, dass die Gesellschaft so wenig wie möglich bahnbrechenden strukturellen Veränderungen ausgesetzt wird. Den geeigneten Partner dafür meinten sie in der Person der Kleinbürger beziehungsweise in deren Synonym, der Blue-Collar-Arbeiterschaft, gefunden zu haben, die – auch wenn nicht so sehr wie ihr BRD-Counterpart – sich materiell weiterentwickeln wollte, aber hinsichtlich Lebensstil und Attitüden nicht zur Mittelschicht werden wollte, also eine problemlose Mammutschicht, die leicht zu handhaben war und die politisch einfach in die Bedeutungslosigkeit geführt werden konnte. In Moskau wusste man wohl, dass die Kleinbürger, die das Rückgrat der Gesellschaft bildeten, sich mit wenig begnügen. Wenn die Staatsführung sie darum bittet, als graue Mäuse ihr Leben zu fristen, dann machen sie das bereitwillig, um nur das zu bekommen, was zu ihrer bescheidenen Lebensführung und zu ihrem zunehmenden Wohlstand im kleinen Rahmen notwendig ist.
Zum Erfolg der Manipulation trug noch ein wichtiger Umstand bei: Die ostdeutsche Gesellschaft wurde – vergessen wir nicht: Der Sozialismus entstand auf preußischem Boden! – durch die Jahrhunderte alte Tradition des Obrigkeitsglaubens und der Ausführung von Befehlen in Schranken gehalten. Mit Hilfe des Zuckerbrotes entwickelte sich die Gesellschaft der DDR in vierzig Jahren zu einer gehorsamen Massengesellschaft, in der aus der Abschottung das fast unerträgliche Einheitsgrau des Alltags erwuchs. Die einzige Farbe – zu großem Kummer von Honecker und seiner Getreuen – brachten die Westsendungen. In der abendlichen Dunkelheit richteten sich die Antennen auf den Balkonen der Plattenbausiedlungen auf den Westen, und diese bewusstseinsgespaltene Gesellschaft beobachtete im Fernsehen – über diesen riesigen Gucker – gespannt, wie eine bessere Welt drüben glänzte. Die Probleme – wie in Ungarn – begannen von 1981 an peu á peu in erster Linie wegen der bayerischen Bankenkredite. Bis 1989 hat sich die Wirtschaftskrise vertieft, was zum zügigen Zusammenbruch der DDR führte.
Am 7. Oktober wurde zu Ehren des 40. Jahrestages der Gründung der DDR noch eine großangelegte Feier veranstaltet. Die SED unter der Leitung von Erich Honecker widerstand noch lange der Perestroika, der Reformpolitik unter Gorbačev. Der Gnadenschuss kam direkt von Gorbačev. Auf der Großkundgebung am 7. Oktober sagte er – angeblich spontan – den zur Legende gewordenen Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.”
Der Zerfall beschleunigte sich. Am 18. Oktober war Honecker politisch bereits tot und die neue Führungsfigur Egon Krenz konnte auch nichts mehr der aufbrechenden Volksbewegung entgegensetzen. Es stellte sich heraus, dass die Stabilität der Gesellschaft nur solange Bestand hat, als die Sozialpolitik der Führung sie unterstützt. Die Nachkommen der bis in die 1960er im Starrzustand befundenen DDR-Generation sind erwachsen geworden und wollten eine neue Welt. Massenproteste von Millionen brachten die Sache in den größeren Städten weiter voran: Es floh aus dem Land, wer nur konnte. Die Berliner Mauer, die seit 1961 stand, hat das Volk zerstört. Im Frühling 1990 begannen zwischen den Besatzungsmächten und den beiden deutschen Staaten die so genannten 4+2-Verhandlungen, am 31. August unterzeichnete man den Wiedervereinigungsvertrag, am 3. Oktober kam zum letzten Mal das DDR-Parlament zusammen, um dann bei den Klängen der DDR-Hymne die Flagge einzuziehen. Um Mitternacht wurde die Einheit vollzogen.
Der Fahrgast der Čajka (Tschaika)
Csaba F. traf die Trennung 1973 wie ein Schock. Es dauerte anderthalb Jahre, bis er sich dank der psychiatrischen und medikamentösen Behandlung wieder als vollwertiger Kämpfer der Germanistik widmen konnte. Misserfolg hin oder her, blieb er mit der DDR tausendfach verbunden. Anfang Oktober 1989, auf Bitten seines damaligen Arbeitgebers in Százhalombatta, beteiligte er sich als Dolmetscher an der Vierzig-Jahr-Feier in Schwedt. Das brandenburgische Städtchen war dreißig Jahre lang Partnerstadt von Százhalombatta. Csaba F. sah nie zuvor ein „freu(n)dloseres” Freundschaftstreffen. Auf den Empfängen und manchmal auch vor dem Plenum gab es eine Flut von Vorwürfen: abweichlerisches, revisionistisches, wortbrechendes Ungarn, Verräter Miklós Németh, Gleisner Horn und Pozsgay. Während das Paneuropapicknick bei Ödenburg bereits stattgefunden hat, die Botschaften voll mit Flüchtlingen waren, feierte die Führung der Brandenburger Industriestadt, die um das Kraftwerk herum erbaut worden war, gegen ihre eigenen Bürger mit dem gleichen Zynismus wie in der gesamten DDR. Auf dem Rückweg am 6. Oktober fand er den größten Flughafen der DDR, den Flughafen Schönefeld, im Belagerungszustand vor. Die riesige Wartehalle war voll mit Flüchtlingen. Decken, Matratzen und Schlafsäcke lagen überall auf dem Boden, die Toiletten funktionierten gerade noch so und das Büffett war nicht imstande, die beinahe 5000 Menschen zu versorgen. Familien mit mehreren Kindern – jede Familie lebte schon seit Tagen auf je einer Decke und wartete auf einen Flugschein oder eine Bordkarte. Von Zeit zu Zeit trafen Verwandte aus der Stadt mit Brot und Salami ein und die kleinen Gruppen fielen dann begierig über das Essen her und auch die „Bewohner” der Nachbarsdecken kriegten ein Stück ab. In der zusammengerotteten Menge, vom Zwang der Flucht getrieben, spielten sich dramatische Konflikte ab. Beim Check-In gab es Störungen. Man wollte in einer der Familien ein Kleinkind hineinschmuggeln. Es hatte keinen Flugschein. Dem Onkel, der mit dem leeren Brotkorb dastand, wäre die angenehme Aufgabe zugekommen, das Kind in die Stadt zurückzubringen. Csaba F. fasste den Entschluss, sein eigenes Ticket auf das Kind umschreiben zu lassen. „Irgendwie werde ich schon heimkommen”, dachte er. Das Geschäft wäre beinahe zustande gekommen, als zwei Männer in Lederjacke und eine Frau erschienen. Er wurde höflich aufgefordert, ihnen auf den Parkplatz gleich neben dem Gebäude zu folgen. In der Halle gab es nicht einmal mehr Licht, es herrschte Dämmerzustand. Csaba F. konnte sein Auge nicht von der hübschen Frau in Lederjacke, die sich im Hintergrund aufhielt, nehmen. Ihre Körperbewegung, ihre Figur, ihre Haarfarbe, und als sie anfing zu sprechen, ihre Stimme… Das lange gehegte Wunschbild erwachte in ihm – das der zufälligen Begegnung. Was würde er nicht alles dafür geben, wenn die Frau in der Lederjacke Sabine wäre. Denn in 16 Jahren verändert sich so viel. Aber draußen auf dem Parkplatz im Tageslicht stellte sich heraus, dass die Frau nicht Sabine war, nur eine ähnliche Frau – genauer gesagt – die gleiche. Er verspürte ein unwiderstehliches Verlangen danach, in Ermangelung von Sabine dieser Frau zu erzählen, was aus ihm wurde. Unter dem Zwang welchen Irrgedankens er sich dafür entschied, sich der Sekte dieser käferähnlichen, kurzbeinigen Gestalten mit unergründlichen Gesichtern anzuschließen. Er hätte gesagt, wie zweifelhaft die Selbstaufopferung für einen deformierten Staatsgedanken ist. „Für das sozialistische Vaterland?” Jetzt, in der Apokalypse der Auflösung hätte es die Frau sogar noch verstanden. Er hatte aber keine Möglichkeit dafür. Nach einigen Sekunden Bedenkzeit ging er wortlos in das Gebäude zurück. Einer der Männer in Lederjacke hat den Widersinn der Situation wohl verstanden und sagte: „Der Genosse hat sich vorhin sehr parteiunwürdig verhalten. Ich bitte Sie, gehen Sie nicht mehr in die Halle zurück, wir bringen Sie über die VIP-Passagierbrücke zum Flugzeug.” Es gab noch zwei Stunden bis zum Abflug. Unter dem Einfluss des Erlebten sowie des Nichtstuns fing er an, sich entlang des Flughafenzauns in Richtung des hohen eisernen Tores der Frachtpforte zu bewegen. Als er dort ankam, ging das Tor plötzlich auf. Über dem Beton, der sich in Oktoberdunst hüllte, erschien plötzlich die Sonne. Auf dem Beton näherte sich eine Wagenkolonne, dreißig Tschaika, Mercedes, elegante, schwarze Wolga, deren Dach in der Sonne glänzte. Nachdem sie das Tor verließ, verlangsamte sich die Kolonne und blieb für eine halbe Minute stehen – man musste abwarten, bis die Motorradstaffel, die auf dem Parkplatz wartete, aufgeschlossen hat. In Armlänge entfernt, in einem der Tschaika, auf dem Rücksitz hatte ein eleganter, glatzköpfiger Mann das Fenster heruntergelassen, und winkte freundlich den auf dem Parkplatz stehenden Menschen zu. Es war Gorbačev. Csaba F. wurde erst einige Wochen später – nach den weltpolitisch bedeutenden Ereignissen – bewusst, dass ihm an diesem nebligen Nachmittag in Berlin etwas widerfuhr, was ein Otto Normalverbraucher nur einmal im Leben erfahren kann: Die Geschichte fuhr ihm entgegen.
Erschienen am 17. November 2009 in der Tageszeitung „Magyar Nemzet”. Aus dem Ungarischen von Richard Guth.
Bild: duitslandinstituut.nl