Deutschpilsen – wo sind die Sachsen geblieben?

von Richard Guth

Die vor drei Jahren wiedereröffnete Waldbahn nähert sich behäblich-langsam dem Sackgassendorf nahe der slowakischen Grenze. Der Weg führt über steile Hänge und tiefe Täler, die Natur zeigt – dank der Herbstsonne – ihr schönstes Gesicht. Die ersten Häuser werden sichtbar, der Zug erreicht die Endstation. Die Straße säumen alte Bauerhäuser, die vom Reichtum der Vergangenheit zeugen – manche bewohnt, manche unbewohnt, aber gut in Schuss, die gehören wahrscheinlich Hauptstädtern, die sich in der Abgeschiedenheit des Pilsner Gebirges ein Feriendomizil zugelegt haben. Ein zweisprachiges Schild, deutsch Schmalspurbahn, ist zu sehen, wahrscheinlich mit touristischem Hintergrund. Auf dem Hauptplatz erinnern Weltkriegsdenkmäler an die Opfer der großen Weltbrennen, auf ihnen überwiegend deutsche Namen. Gegenüber erinnert ein anderes Schild dreisprachig, ungarisch-deutsch-slowakisch, dass hier ein Bauernmarkt abgehalten wird. An der anderen Ecke des Dorfplatzes steht die „Községháza”, das Rathaus. Es geht weiter Richtung evangelischer Kirche – eine von drei Kirchen im Ort, trotz der zentralen Lage auch nicht die älteste (das ist die romanische Stefanskirche) und nicht die bekannteste (das ist die Bergmannskirche) -, vorbei an Gästehäusern, die oft den Zusatz „Ház”, also Haus tragen. Hinter dem „Schneider-Ház” erhebt sich die evangelische Kirche, die gerade renoviert wird. Ich betrete das bescheidene, aber dennoch einladende Gotteshaus und schaue mich um. Die Glasfenster aus der Zwischenkriegszeit als Gaben der Gemeindemitglieder sind ungarischsprachig, eine Inschrift unterhalb der Orgel, aus dem Jahre 1901, hingegen deutschsprachig. Sonst fehlt es an deutschsprachigen Informationstafeln und -zetteln in der Kirche. Das verleitet mich zu der Frage: Wo sind die (evangelischen) Sachsen geblieben?

Richtig, Sachsen, stellt Deutschpilsen/Nagybörzsöny das einzige (Zipser/Hauländer) sächsische Dorf von (Trianon-) Ungarn dar. Der Ort wurde in einer Zeit besiedelt, als sich die Siebenbürger und Zipser Sachsen im Königreich niederließen. Wahrlich waren sie keine „Sachsen”, stammten die meisten aus Tirol, der Steiermark und einige doch aus der Erzgebirgsregion – auf diese Herkunft weist der Pilsener südbairisch-südmittelbairisch-ostmitteldeutsche Mischdialekt, mit Verbindungen zum Mittelhochdeutschen, hin. Man spricht in einer Ortsmonografie, die um die Jahrtausendwende in der Reihe „Száz magyar falu könyvesháza” erschienen ist, davon, dass Deutschpilsen „ein letzter Rest der südlichen Siedlungsgruppe des heutigen mittelslowakischen Haulands” sei, denn das Deutschtum der nahegelegen Lorenzen/Vámosmikola und Martinau/Szokolya, das über die gleichen Wurzeln verfügt, hat sich bis zum 19. Jahrhundert völlig madjarisiert.” Die Kontakte zu den nördlich gelegenen Zipser Städten blieben bis Trianon rege, dienten diese als Hauptabsatzmarkt für den Deutschpilsener Wein. Aber auch in konfessioneller Hinsicht gab es eine Verbindungslinie: Luthers Lehren wurden auch von den Pilsener Deutschen übernommen. Der Ort, der den Rang eines Marktfleckens hatte und dessen Steueraufkommen lange sogar das von größeren Städten in Ungarn übertraf, blieb auch in der Zeit der Dreiteilung des Landes deutsch besiedelt, was Aufzeichnungen evangelischer Geistlicher und die deutschsprachige Korrespondenz der Dorfrichter mit der ungarischen Kammer belegen. Nach der Vertreibung der Osmanen kamen neben deutschen auch madjarische und slowakische Familien neu in den Ort, was dessen wirtschaftlichen Attraktivität zeigt. Diese Familien assimilierten sich – so Forschungsergebnisse – sprachlich und kulturell in wenigen Jahrzehnten weitgehend, so dass Pilsen auch 1941 zu 85% deutsch(sprachig) war. 25 Jahre später, 1969 sprach man auf einer Ratssitzung davon, dass man „von Nationalität (…) von Nationalitätengefühl nicht mehr sprechen kann”, denn „im Falle unserer Gemeinde geht es um einen abgeschlossenen Assimilierungsprozess”. Trotzdem zeigten ein Exekutivkomiteesitzungsprotokoll aus dem Jahre 1979 sowie Daten der Volkszählungen und Schätzungen aus den Jahren 1976, 1983 und 1986, dass sich immer noch 60-62 % der Einwohner zum Deutschtum bekannt hätten. Eine andere Quelle, die Dorfchronik des Archäologen und ehemaligen deutschen Gemeinderates und später Bürgermeisters (2008-2010) Zoltán Batizi auf der Internetseite der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde Deutschpilsen, aus der Zeit der Jahrtausendwende spricht aber bereits davon, dass die „deutsche Ethnie und das deutsche Selbstbewusstsein bis heute fast gänzlich untergegangen sind, lediglich die Alten über 65-70, also die Generation meiner Großeltern, sprechen die alte, in Ungarn einzigartige Pilsener „sächsische” Mundart.”

Der Ortshistoriker datiert den Anfang des Prozesses des Untergangs der Pilsner Deutschen auf die Zwischenkriegszeit: „Nach der Verstümmelung des Landes wurde – aufgrund einer Anweisung der Regierung, die eine Beschleunigung der Assimilierung der Nationalitäten anstrebte – in den beiden konfessionellen Schulen von Börzsöny, also Deutschpilsen, die deutsche Unterrichtssprache durch Ungarisch ersetzt – den Unterricht der deutschen Sprache hat man auf wöchentlich drei-vier Stunden beschränkt, was für eine solide Aneignung der Sprache unzureichend war. Als Folge dessen löste sich die uralte, kulturelle und emotionale Bindung, die zwischen den Bewohnern, die die für Außenstehende unverständliche Pilsener „sächsische” Mundart sprachen, und den anderen deutschsprachigen Gebieten bestand. So empfand die Generation, die in der Zwischenkriegszeit aufwuchs, nicht nur die Madjaren als Fremde, sondern verstand auch diejenigen Deutschen nicht, die eine andere Mundart oder Hochdeutsch sprachen. Darüber hinaus verstand die Mehrheit derjenigen Kleinkinder, die in den 1920er, 1930er Jahren eingeschult wurden, von dem ungarischsprachigen Schulstoff und den Erklärungen der Lehrer im ersten oder in den ersten zweiten Grundschuljahr so gut wie nichts. Nach den sechs Grundschuljahren (sic!) sprachen sie in der Regel lediglich das Deutschpilsener auf Muttersprachenniveau, das sie aber nicht verschriftlichen konnten, wohingegen ihnen das ungarische Lesen und Schreiben – jedenfalls theoretisch – beigebracht wurde, welche Sprache aber für sie eine gelernte, fremde Sprache blieb, was deren Pflege und schriftliche Anwendung sehr erschwerte. 1910 hatte Deutschpilsen 1900 Einwohner, unter denen sich 85%, also ungefähr 1600 Menschen, zum Deutschtum bekannten. Als Ergebnis des Drucks seitens der von ungarischer/madjarischer Ungeduld (sic!) beseelten Gesellschaft und Regierung bekannten sich 1941 nur noch 226 Menschen zu ihrem Deutschtum.” Bemerkenswert offene Analyse eines Pilsener Lokalpatrioten. Nicht weniger bemerkenswert sind seine Ausführungen zu den Schicksalsjahren zwischen 1944-1956: „Infolge des verlorenen Krieges – im Zeichen der Kollektivschuld – traf eine ganz Reihe von Vergeltungen die deutsch bewohnte, also eindeutig „kriegsschuldige” Gemeinde. Januar 1945 trieben sowjetische Soldaten mehrere dutzend Männer und junge Frauen ins Sammellager in Berzel/Ceglédbercel, wo sie per Bahn nach Russland weitertransportiert wurden. Manche konnten nach einem, die große Mehrheit erst nach 2, 3 oder gar 4 Jahren zurückkehren – viele starben aufgrund der unmenschlichen Zustände in den Arbeitslagern. Während des Zweiten Weltkrieges beziehungsweise der Malenkij Robot starben 74 Pilsener. Hinzukommen die Verluste der 4-5 jüdischen Familien. (…) Der landesweite Prozess der Vertreibung der Deutschen erreichte Deutschpilsen 1948. Alle kamen auf die Liste, die sich bei der Volkszählung von 1941 zum Deutschtum bekannten beziehungsweise Mitglied des Volksbunds waren oder in der SS Dienst taten. Es ist traurig, dass es der ungarische Staat war, der April 1944 ein Abkommen mit Hitler-Deutschland abgeschlossen hat, in Folge dessen er seine deutschsprachigen Staatsbürger dem Reich, also der SS, überließ. Von den etwa 100 Pilsener SS-Soldaten wurden im Laufe von 1944 auf Grundlage dieses Abkommens – mit Unterstützung der ungarischen Streitkräfte – 85 zwangseingezogen, und wenige Monate später war es derselbe ungarische Staat, der sie zum Kriegsverbrecher und Vaterlandsverräter abstempelte.„

Tibor Fleischer, der sich 2002 auf die Suche nach seinen Pilsener Vorfahren begab, berichtet in seinen Aufzeichnungen, die sich auch auf Informationen von Zoltán Batizi beruhen, dass etwa 40% der Deutschpilsener vertrieben wurden – aber anders als Deutsche woanders kamen sie in slowakisch bewohnte Dörfer des Komitats Naurad. Die restlichen Bewohner mussten zusammenziehen, um Platz zu machen für die Madjaren aus der Slowakei, die – wie Batizi bemerkt – „ebenfalls wegen ihrer Nationalität vertrieben wurden.” Diese verließen aber in den nächsten Jahren den Ort und verkauften ihre Häuser an die Deutschen, die bis Mitte der 1950er Jahre in großer Zahl nach Deutschpilsen zurückkehrten. Was bewusste Assimilierungspolitik, Verschleppung und Vertreibung nicht schafften, das gelang dem zum Teil politisch intiierten Transformationsprozess: Viele wanderten aus der Landwirtschaft in die Industrie ab, die besser bezahlte. Die Zwangskollektivierung tut ihr Übriges und sorgte für einen Niedergang der Weinkultur. Die „Pflege anderer Traditionslinien” sorgten auch nur zum endgültigen Verschwinden der Deutschen in Pilsen. In den bereits zitierten Ratsprotokollen steht: „Das Volk von Pilsen kann nicht richtig Deutsch. Diese Sprache ist eine zum Dialekt verkommene angelsächsische Sprache.” „In seiner Familie kann jeder diese Sprache pflegen. (…)” „Im Falle unserer Gemeinde geht es um einen abgeschlossenen Assimilierungsprozess, den man künstlich nicht ändern kann, und ein derartiger Versuch würde für Unruhe in der Bevölkerung sorgen und auf heftigen Widerstand stoßen.” Und der Rat fasste folgenden Beschluss: „Der Rat stellt fest, dass es in der Gemeinde kein Nationalitätenproblem gibt, die Bevölkerung (Nationalität) möchte diejenigen Rechte nicht nutzen, die der Nationalität auf Grundlage der Verfassung unserer Volksrepublik zustehen.” Sie unterstützten hingegen all die Bestrebungen, (…) die darauf zielten, die nichtschriftlichen Zeugnisse „für die Zukunft” aufzuheben.” Also, Archivieren und Ausstellen, was dann jeder wehmütig oder auch nur kulturinteressiert bestaunen darf.

Am Ende dieses Prozesses das traurige Fazit von Batizi: „Die Bevölkerungsabnahme, die 1945 ihren Anfang nahm, dauert aufgrund der Abwanderung und Alterung seit sechs Jahrzehnten an, gegenwärtig wohnen hier gerade einmal 800 Seelen. Die deutsche Ethnie und das deutsche Selbstbewusstsein sind bis heute fast gänzlich untergegangen, lediglich die Alten über 65-70, also die Generation meiner Großeltern, sprechen die alte, in Ungarn einzigartige Pilsener „sächsische” Mundart. Die Zahl der im Dorf ansässigen – und ebenfalls madjarisierten – Roma ist in den letzten Jahrzehnten – zum Teil dank den neu Zugezogenen, aber vielmehr wegen der großen Zahl von Familien mit 6-8 Kindern – explosionsartig gestiegen und beträgt gegenwärtig 150.”

Bild: panadea.hu

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