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Bischöfliches Archiv Stuhlweißenburg/Székesfehérvár, Schreiben 7341
Der handgeschriebene Brief von Pfarrer István Tőke auf Ungarisch an das Ordinariat, 16. März 1946: „Hochachtungsvoll erstatte ich Bericht, dass gestern die Vertreibung der Schwaben aus Edeck/Etyek durchgeführt wurde, die Kampfgeräuschte verstummten und genauso die Polizeieinheiten abgezogen wurden: 500 Menschen, 300 Beamte…”
„Wie es in diesen drei Wochen zugegangen ist, wie das Befreiungskomitee die Familien exekutierte, wie der Mann von der Frau, das Kind von den Eltern getrennte wurde – kann man kaum beschreiben. Es war ein erbarmungsloser, herzloser Job, im Ergebnis die vollständige Vernichtung dieser blühenden, reichen Gemeinde, die selbst die drei Monate währende Front des Krieges im Begriffe war in Kürze zu überwinden.”
„Es tröstet mich, dass eine große Masse zur heiligen Kommunion kam, um so von ihrem Heimatdorf und den Gräbern der Väter Abschied zu nehmen.”
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Von Rudolf Bender (Deutsche Übersetzung: Richard Guth)
Die Ereignisse vor 77 Jahren rund um die Vertreibung sind nicht in Vergessenheit geraten. Die damaligen Geschehnisse haben in der Seele der Vertriebenen und deren Nachkommen Spuren hinterlassen, die bis heute währen.
Nach 1945 wurde die Bevölkerung auch mit dem Instrument der Vertreibung dazu gezwungen, die linke Ideologie zu akzeptieren. Die nicht eingelösten Versprechungen, die häufigen Anzeigen, das Fehlen des gemeinsamen Lastentragens, das Zerreißen des Bindegewebes der Gesellschaft geistern auch heute herum. Die damaligen Gräueltaten – die auch viele Edecker traf – dürfen sich nicht wiederholen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass dieses dunkle Kapitel der Geschichte wieder zurückkehrt.
Im Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen, Ungarn geriet unter sowjetische Besatzung. Im Land wurde Stalins Wille durchgedrückt, die ungarischen Handlanger der stalinistischen Brutalität hatten mit wirkungsvoller Unterstützung der sowjetischen Bajonette im ganzen Land ein Terrorregime eingeführt.
Die Durchführung des Terrors, der Willkür, der Unterdrückung wird unheimlich vereinfacht, wenn man gewisse Prinzipien als Grundwahrheiten durchzusetzen versucht. Eine solche „Grundwahrheit” ist das Prinzip der Kollektivschuld, das ein sehr nützlicher und effektiver Grundsatz ist: Mit dessen Hilfe kann man großen Massen die Lebensgrundlage entziehen, sie einschüchtern, ihrer Freiheit berauben und sogar massenhaft ermorden. Wir kennen dazu zahlreiche gute Beispiele: von der Großen Französischen Revolution über den Hitlerschen Nazismus bis hin zur kommunistischen Diktatur. Das Prinzip der Kollektivschuld hat nur einen Haken: Es ist nämlich grundfalsch! Die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung lehnen es ab, denn sie können damit nichts anfangen. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wenn im Dorf ein Hahn gestohlen wird, heißt es nicht, dass alle Dorfbewohner Diebe sind. Laut des Prinzips der Kollektivschuld schon, so dass man das ganze Dorf verurteilen kann!
Wessen wurden die ungarländischen Schwaben beschuldigt? Des Vaterlandsverrats? Vaterlandsverräter, weil sie als Deutsche geboren wurden, sich zur deutschen Volkszugehörigkeit bekannt haben, deutscher Muttersprache waren und/oder Mitglieder des Volksbunds waren? Es ist nicht schwer einzusehen, dass keiner etwas dafür kann, als was er geboren wurde, was seine Muttersprache ist – weil dabei keine Wahlmöglichkeit besteht, sondern das Ganze einen Zustand beschreibt. In irgendeinen Zustand hineingeboren zu werden, ist kein Vaterlandsverrat. Die ungarländischen Schwaben haben als Teil der ungarischen Nation als Verbündete Deutschlands gekämpft, aber über dieses Bündnis haben nicht die Schwaben eine Entscheidung getroffen, sondern die Führungspersönlichkeiten des ungarischen – also madjarischen und deutschen – Volkes.
Die Schwaben wurden entweder in die ungarische oder die deutsche Armee eingezogen, und das war bzw. das konnte kein Gegenstand von Wahl und Nichtwahl sein: Es ging ja um verbündete Armeen. Die eventuelle Freiwilligkeit kann auch nicht als Vaterlandsverrat gewertet werden: aufgrund der Bündnispflicht. Als neuralgischen Punkt könnten wir auf die Organisation namens „Volksbund“ blicken. Seine Mitgliederzahl betrug 1940 50.000. Aber auch hier hält der Vorwurf des Vaterlandsverrats keiner Prüfung stand – aufgrund des bereits erwähnten deutsch-ungarischen Bündnisses sowie der offenen, engen Zusammenarbeit des Volksbundes mit der ungarischen Regierung. Der Volksbund betonte stets offen, dass seine Treue zur ungarischen Nation aufgrund seines angeborenen Deutschtums unerschütterlich sei – trotz der Verbundenheit mit Deutschland. Eine Ausweisung aus dem Land ist keinesfalls zu rechtfertigen, denn es ging um ungarische Staatsbürger, auf die man die damaligen ungarischen Gesetze hätte anwenden sollen und nicht das Prinzip der Kollektivschuld, das die Rechtsprechung auch damals nicht anerkannt hat.
Die deutsche Besetzung Ungarns am 19. März 1944 hat eine neue Lage gebracht: Deutschland wurde vom Verbündeten zum Besatzer. In dieser Situation ist es völlig legitim zu untersuchen, wer diejenigen waren, die mit den deutschen Besatzern kollaborierten bzw. zusammenarbeiteten. Für eine Differenzierung sorgt die Tatsache, dass zur gleichen Zeit – zur Zeit der Besetzung – eine ungarische Regierung gebildet wurde, die mit den Deutschen kollaborierte und auf die die Individuen keinen Einfluss nehmen konnten. Die politische Leitlinie der kollaborierenden ungarischen Regierung hatte sich im Vergleich zu früher nicht grundlegend geändert. Ziel Nr. 1 der ungarischen Regierungen war seit jeher die Revision des Friedensvertrags von Trianon und die Wiederherstellung der Grenzen des historischen Ungarn gewesen. Das erhoffte man sich jetzt von einer Zusammenarbeit mit den Deutschen. Dieses Konzept wurde auch vom Volksbund getragen, er widersprach diesem nicht.
Auf überraschende oder weniger überraschende Art und Weise hielt das kommunistische Regime nicht die Untersuchung der deutschen Besatzung 1944 für notwendig, sondern legte bei der Vertreibung die Daten der Volkszählung von 1941 zugrunde, d. h., es wandte das Konzept des „schuldgeladenen Volkes” aufgrund der Volkszugehörigkeit an. Wenn wir uns darüber Gedanken machen, dann erkennen wir, dass das kein Zufall war. Denn, wenn sie die Lage anhand der Besatzung 1944 bewertet hätten, dann hätten sie ein Eigentor geschossen! Auf die deutsche Besatzung folgte die sowjetische und deren Kollaborateure und Begünstiger waren die Kommunisten. Wenn die Kollaborateure bei den Deutschen Vaterlandsverräter waren, dann mussten auch die bei den Sowjets solche sein. Diese Selbstoffenbarung wollte das kommunistische Regime nach Möglichkeit vermeiden.
Die Kommunisten waren bestrebt, das Ungarndeutschtum in Gänze zu vertreiben, also nach Deutschland zu deportieren. (Anm. des Übersetzers: Auch wenn die Sowjetunion als Besatzungsmacht die entscheidende Macht besaß, muss hinzugefügt werden, dass in der Frage der Vertreibung die Mehrheit der Parteien eine befürwortende – wenn nicht danach verlangende – Position eingenommen haben, so auch die Vertreter der Kleinlandwirtepartei wie die der Nationalen Bauernpartei.) Die Gesamtzahl des Ungarndeutschtums wurde damals offiziell mit 350.000 beziffert. Die deutsche Regierung (Anm. des Übersetzers: besser sollte man hier von den Administrationen der Besatzungszonen sprechen), von dem Vorhaben und den Zahlen informiert versprach die Aufnahme von 500.000 Personen. Das bedeutete, dass die Kommunisten dem Wunsch Stalins nach Vertreibung aller Volksdeutschen aus Ungarn nach Deutschland entsprechen konnten – und so nahmen sie sich der Aufgabe an.
Sie verkündeten die Parole: Die Schwaben sind mit einem Bündel gekommen, sie sollen auch mit einem Bündel gehen. In dieser unverschämten Parole fehlt nur, dass zwischendurch 250 Jahre vergangen sind und die fleißige Aufbauleistung der 250 Jahre dadurch verloren gegangen ist. Diejenigen, die die Schwaben in diese Lage brachten sind die richtigen Vaterlandsverräter und haben mit den zurückgelassenen Gütern der Schwaben Geschäfte gemacht.
Die Vertreibung der Bevölkerung deutscher Nationalität in Edeck/Etyek erfolgte zwischen 6. und 15. März 1946. 80 % der Dorfbevölkerung, 2500 Personen, wurden nach Deutschland deportiert. Man kann sich den Gemütszustand der Menschen kaum vorstellen, die die Hölle des Krieges durchlaufen hatten, seelisch verkrüppelt, verletzt durch die Traumata des Krieges oder schwer verletzt von der Front heimkehrten und versuchten im friedlichen Alltag ein neues Leben zu beginnen, um gleich nach der Rückkehr mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, sie seien Vaterlandsverräter! Wodurch wurde für sie ein größeres Trauma verursacht: durch die Gräuel des Krieges oder durch diesen schweren Vorwurf?
Zwecks Abwicklung der Vertreibung wurden im Dorf Komitees gebildet. Der Vorsitz wurde einem ortsansässigen Kommunisten anvertraut, dessen Niedrigkeit bekannt war und der die missliche Lage der zu Vertreibenden missbrauchend mit deren Gütern Handel trieb, um sie danach zu vertreiben. Die ersten Pferdewagen setzten sich langsam in Bewegung aus Edeck Richtung Bahnhof Wiehall-Kleinturwall/Biatorbágy, wo die „Vaterlandsverräter” bereits von Viehwaggons erwartet wurden.
Die Fahrt in den Viehwaggons nach Deutschland dauerte zwei Wochen ohne Mindeststandards an Hygiene. Viele – allen voran Ältere – starben wegen dem Stress, dem sie ausgesetzt waren, bereits in den Waggons. Die Zugbegleiter stoppten dann den Zug und setzten die Leichen aus, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Es gibt unter ihnen auch solche, deren Schicksal seitdem unbekannt ist, ihre Familien konnten sie nicht beisetzen.
Viele dachten, die Vertreibung wäre aus irgendeinem Missverständnis heraus geschehen und sie könnten bald nach Ungarn zurückkehren. Bis Ende der 1960er Jahre verflog diese Hoffnung und die meisten erkannten, dass es keinen Weg zurück gibt. Heilend wirkte, dass sie ab Ende der 1960er Jahre als deutsche Staatsbürger und Touristen Ungarn besuchen durften. Zu dieser Zeit konnte man oft Menschen am Ungarischbrunnen beobachten – die Augen voller Tränen, die die schönen Erinnerungen an die Jugend gerade wachgerufen zu haben schienen.
Diejenigen, die mit dem quälenden Gefühl des Heimwehs nicht fertig wurden, kehrten heimlich heim und versteckten sich. Meine Mutter erzählte von einem Edecker Schwaben, der sich jahrelang in der Fünfhäusergasse versteckt hielt. Andere versteckten sich in den Presshäusern des Dorfes. Diejenigen, die man entdeckte, wurden nach Deutschland abgeschoben.
Unter den Edecker „Vaterlandsverrätern” starben als ungarische Soldaten 176 Personen im Ersten und 212 im Zweiten Weltkrieg den Heldentod. Und diejenigen, die den Weltkrieg überlebt hatten und auch der Vertreibung entgangen waren, wurden Opfer der inneren Deportation: 53 Personen – Familien mit Kindern – ließ das blutrünstige kommunistische Regime nach Tiszaszentimre deportieren. Über dieses Ereignis berichteten meine Familienmitglieder folgendermaßen: „In der Nacht auf den 6. Februar 1953 erschienen mitten in der Nacht so gegen zwei Uhr mit Maschinenpistolen Bewaffnete und richteten ihre Gewehre auf die dort Schlafenden. Sie befahlen ihnen – natürlich im Namen des Gesetzes -, sofort aufzustehen und zu packen. Dafür hatten sie 20 Minuten Zeit und konnten nur einige Habseligkeiten mitnehmen. Danach wurden sie auf Lkws geladen und fuhren nach Tiszaszentimre ins kommunistische Umerziehungslager.
Die als wertlos eingestuften Habseligkeiten – wie Familienfotos – landeten auf dem Misthaufen, die anderen als wertvoll betrachteten wurden in den damaligen Kindergarten und auf den Schulhof gebracht, um dort die im Namen des Volkes konfiszierten Wertgegenstände zu verwerten. Die Begründung für die Beschlagnahmung war, dass sie den rechtmäßigen Besitz (es ging da um Möbel, Essgeschirr und Sonstiges) nicht durch Rechnungen belegen konnten, so dass der Verdacht aufgekommen sei, sie wären im Besitz von gestohlenen Gegenständen. Auf die Idee kamen sie wohl erst gar nicht, dass das, was sie selber tun, Diebstahl ist. Aber das war ja kein Diebstahl, da es im Namen des Volkes erfolgte! Nebenbei bemerkt haben sie nicht im Namen des Volkes gehandelt, denn niemand hat sie als dessen Vertreter gewählt. Die Macht haben sie mit Gewalt an sich gerissen, deshalb waren sie weder berechtigt, sich auf das Gesetz noch auf den Volkswillen zu berufen.
Die nach Tiszaszentimre Deportierten wurden auf unbeheizten, mit gefrorenem Schafmist durchtränkten Schlafplätzen untergebracht – auf Pritschen, die 50 cm breit waren. Sie mussten jeden Tag harte Arbeit leisten. Die kommunistischen Handlanger konnten nicht wissen, dass harte Arbeit den Schwaben nicht fremd ist, so konnte man sie nicht brechen – obwohl öfters verlautbar wurde, dass man die Schwaben so lange arbeiten lassen werde, bis sie sterben, um den madjarischen Mutterboden mit ihren Überbleibseln zu düngen.
Ein Jahr nach dem Tod von Stalin am 5. März 1953 wurden die ungarischen Arbeitslager aufgelöst, aber der Zustand der Entrechtung und des Enteignetseins wurde weiterhin aufrechterhalten. Mein Opa durfte mit Angehörigen nach Edeck heimkehren, aber durfte das Haus der Familie nicht mehr betreten, weil es beschlagnahmt wurde. Sie kamen in Kleinturwall bei einer befreundeten Familie unter – in einer Schlafgelegenheit im Hühnerstall und das für eine ziemlich lange Zeit.
Zum Schluss lasst uns einen solchen Vorwurf gegenüber dem Schwabentum in Erinnerung rufen, der von völliger Ahnungslosigkeit zeugt: „Der Boden, der nun dem Schwabentum gehört, wurde dem madjarischen Bauern geklaut.” Ja, es ist so, aber nicht die Schwaben, sondern die Osmanen. Von der Niederlage bei Mohatsch im Jahre 1526 bis zur Rückeroberung Ofens herrschten die Osmanen in Ungarn. Der von ihnen beherrschte zentrale Landesteil entvölkerte sich. 50 Jahre nach der Vertreibung blieb dieser Landstrich unbewohnt, denn es bestand die Gefahr einer Rückkehr der Osmanen (Anm. des Übersetzers: Dies mag auf bestimmte Gebiete zutreffen, aber die ersten Siedler von Werischwar/Pilisvörösvár beispielsweise kamen bereits 1689 an, einer der Vorfahren des Übersetzers mit dem Familiennamen Manhertz im April 1696.). Als dies nicht mehr als möglich erschien, richtete Maria Theresia einen Aufruf an die Völker des Habsburgerreiches (und nicht nur an die Deutschen!), dieses verwilderte, ein halbes Jahrhundert lang brachliegende Territorium zu bevölkern. Eine bedeutende – aber nicht die einzige – Rolle bei dieser Neubesiedlung spielten die Schwaben. Um weiterer Legendenbildung entgegenzutreten muss betont werden, dass diese Ansiedlung nicht reibungslos verlief. Die deutschen Fürstentümer versuchten die Abwanderung aus ihren Gütern zu unterbinden, der ungarische Hochadel versuchte sie zu fördern. Oft kam es vor, dass die ungarländischen Werber zwar in deutschsprachige Gebiete entsandt, dort aber verhaftet und ins Gefängnis gesperrt wurden, um so die Auswanderung zu unterbinden.
Ich möchte die Zeilen des Gedenkens mit einem Zitat schließen, das die Vertriebenen mit Kreide auf einen der Waggons schrieben: „Isten veled hazánk, mi jó magyarok voltunk!” (Auf Wiedersehen, unsere Heimat, wir waren gute Ungarn!)
Ich möchte hinzufügen, dass wir es nicht nur waren, sondern auch sind und werden!
Wir ungarischen Schwaben werden das Gedenken an unsere vertriebenen Brüder und Schwestern stets bewahren.