Vor 100 Jahren: Die Gründung der ’Republik Heinzenland’ in Westungarn

Von Stefan Pleyer

Das Chaos nach den Waffenstillständen an den Fronten des Ersten Weltkriegs löste einen weltgeschichtlichen Kataklysmos aus: Der Übergang von der „alten Ordnung” zur neuen, modernen radierte die Österreichisch-Ungarische Monarchie auf der Landeskarte aus, im Ergebnis erschienen neue Staatsgebilde wie die im Dezember 1918 proklamierte ungarndeutsche „Eintagsrepublik” Heinzenland, die wegen der Länge oder besser gesagt Kürze der Zeit ihres Bestehens – 22 Stunden – als einer der die kürzeste Zeit bestehenden Staaten in der Geschichte bekannt wurde.

Westungarn-Deutsch-Westungarn-Heanzenland-Burgenland

Zuerst müssen wir die im Artikel verwendeten Begriffe klären – wir fangen mit „Westungarn” an: Die treffendste Benennung sollte da „Deutsch-Westungarn” sein, wie es die damaligen Zeitgenossen bezeichneten. Unter „Deutsch-Westungarn” versteht der Historiker die früheren Gebiete des heutigen Burgenlandes, die auch bis heute von Ungarndeutschen bewohnten ehemaligen westlichen Landesteile Ungarns in den Komitaten Wieselburg, Ödenburg, Eisenburg. Mit einem Blick auf die ungarische Landkarte von 1910 wird es sichtbar, dass die hiesige deutsche Bevölkerung einen wesentlichen Anteil des historischen Ungarndeutschtums ausmachte, die sich trotz der Stürme des 20. Jahrhunderts (hinsichtlich Bevölkerungszahl und Sprache, dank der Nähe zum deutschen Sprachraum) gut erhalten konnte. In dieser Region werden zwei verschiedene deutsche Volksgruppen unterschieden, nämlich die Heanzen und die Heidebauern: Hinsichtlich der Herkunft des Heanzenvolkes entstanden in der Vergangenheit mehrere kontroverse Legenden, von den „alten Gothen über die Franken Karls des Großen bis zu den „Söhnen des Schwabenzugs”. In Wirklichkeit ist das Heanzentum ein Resultat von den ständigen, aus den süddeutschen (bayerischen, steirisch-österreichischen, schwäbischen) Gebieten seit dem Mittelalter über Jahrhunderte erfolgten Einwanderungswellen, wodurch dieses deutsche Element sein Siedlungsland Heanzenland oder Heanzerei vom Wieselburger Seewinkel bis Güssing erweiterte. Die Geschichte der Heidebauern gestaltete sich ähnlich, mit dem Unterschied, dass ihre Ethnogenese von den frühneuzeitlichen protestantischen Glaubensflüchtlingen und dem Schwabenzug stärker betroffen war. Ihr traditionelles Wohngebiet deckte den heutigen österreichisch-ungarischen Heideboden (ung. Mosoni síkság) ab. Unter diese westungarndeutsche Kategorie fällt auch das Preßburger Land, das einer eigenen Vorstellung bedürfte.

Das Gebiet Deutsch-Westungarns (Bildquelle: https://vignette.wikia.nocookie.net/)

Deutschtum in Westungarn: ohne Bürgertum keine Identität

Die mit dem Thema vertrauten Autoren sind sich darin einig, dass das Westungarndeutschtum (also die Heanzen und die Heidebauern) – im Gegensatz zu anderen deutschen Volksgruppen in Ungarn- ein Bauernvolk blieb. Bereits im Mittelalter verfügten die Siebenbürger Sachsen über ihre „Universitas”, die Zipser hatten schon vor 700 Jahren eine „Zipser Willkühr”, während die Westlichen solche gemeinsame historische Entwicklung nicht mitmachen konnten. Diese fortgeschrittene gesellschaftliche Entwicklung zeigte sich später in Gestalt der starken Bürgerschaften im Kreise der einzelnen deutschen Volksgruppen. Nicht nur die Siebenbürger oder die Zipser Sachsen, sondern auch die Batschkaer-Banater Donauschwaben verfügten im 19. Jahrhundert über ein eigenes Bürgertum, das eigentlich der größte Motor der im Jahre 1904 gegründeten Ungarndeutschen Volkspartei war. Die Städte und die dort ansässigen bürgerlichen Schichten sind für die Ausbildung der Intelligenz „zuständig”, und durch diese Akademikerschicht wird eine Volksgruppe unter eine möglichst gemeinsame Identität und Selbstbild geordnet. Unseren Heanzen und Heidebauern war die bereits erwähnte städtische Struktur keinesfalls fremd, was in Siebenbürgen oder in Oberungarn vorhanden war. Die Stadt Güns betrachtete man als die „Hauptstadt des Heanzentums”, Ödenburg ebenfalls, aber diese Städte konnten keine absolute geistliche Primärrolle innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung einnehmen, da die klassische Assimilation des deutschen Bürgertums eine Grenze zwischen den Dörfern und den Städten zog.

Alldeutsche Versuche für die Westungarndeutschen

In Deutsch-Westungarn waren Anhänger der großdeutschen Schönerianer Bewegung die ersten Erwecker in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Sankt-Gottharder Landwirt Karl Wollinger und der Neusiedler Apotheker Adalbert Wolf versuchten die Bevölkerung, mit Hilfe der österreichischen Deutschnationalen, für die „deutsche Sache” zu mobilisieren. Diese ersten Schritte verkörperten sich in Gründungen von deutschen Kulturvereinen und Bibliotheken, und auch der Eisenburger Volksbildungsverein wurde ins Leben gerufen. Ein wichtiger Sammelplatz für die westungarischen deutschgesinnten Studenten und Intellektuellen war der Wiener „Verein zur Erhaltung des Deutschtums in Ungarn”, wo unter anderen der berühmte heanzische Dichter, Josef Reichl, und der alldeutsche Alfred Walheim mitwirkten. Der Wollinger-Kreis schloss sich 1907 der frisch gegründeten UDVP (Ungarländische Deutsche Volkspartei) an, Karl Wollinger leitete die westungarische Flügel der Partei, allerdings aus ihrer Sicht mit wenig Erfolg: Die UDVP blieb von Anfang an treu zum ungarischen Staatsgedanken, aber die österreichfreundlichen Stimmen meldeten sich in der Bewegung der Westungarndeutschen immer häufiger. Die Anfangsphase des Ersten Weltkriegs verging mit fieberhaften Presseaktivitäten rund um die „Heinzenland-Burgenlandfrage”.

Karl Wollinger, Alfred Walheim (Bildquelle: www.parlament.gv.at)

Am Scheideweg: Autonomie in Ungarn oder Deutsch-Österreich?

Im Oktober 1918 zerbrach die österreichisch-ungarische Hälfte der italienischen Front, und die Monarchie unterzeichnete Anfang November in Padua den Waffenstillstand mit Italien. In Budapest führten die Ereignisse zur sogenannten Asternrevolution, und die Fraktionsbildung begann natürlich auch im Kreise der Elite der Deutschen in Ungarn. Jakob Bleyer vertrat den madjaronen Standpunkt samt kultureller Autonomie und Staatstreue, der sächsische Rudolf Brandsch wirkte ganz im Gegenteil (siehe Mediascher Anschlusserklärung 1919). Wie das ganze Ungarndeutschtum, so stellten sich die Westungarndeutschen ihre politische Zukunft unterschiedlich vor. In den unstabilen Oktobertagen setzte sich Wollinger für das freie Selbstbestimmungsrecht der westungarischen Bevölkerung erneut ein, was bei ihm eindeutig die Anschlusslösung bedeutete. So formulierte die von Wollinger gegründete Zeitung „Deutsche Freiheit”, die Parteizeitung der Deutschen Freiheitspartei:

Es gibt keinen österreichischen Kaiser und ungarischen König mehr. Geblieben ist das Volk. Soll es von fremden Völkern, von fremden Beamten, die mit uns nicht fühlen und denken, weiter beherrscht werden? Wir Deutsche sind kein Sklavenvolk, sondern ebenso frei wie die anderen Völker…”

In dieser Atmosphäre, aber zuerst nicht Anschluss-orintert, kam die westungarndeutsche Autonomiebewegung zustande, die die allgemeine Unterstützung der Bevölkerung genoss. Darüber hinaus wurde am 10. November der „Deutsche Volksrat” in Mattersdorf (heute Mattersburg) unter Mitwirkung mehrerer deutscher Vereinigungen gegründet. Dieses Ereignis ist auch als Geburtsstunde Deutsch-Westungarns / des Burgenlandes als politische Entität zu betrachten. Die Akteure der Bewegung trachteten zuerst nach einem Kompromiss mit Budapest, um die kulturell-territoriale Autonomie für Deutsch-Westungarn durchzusetzen, aber die ungarische Partei war misstrauisch gegenüber der Autonomiebewegung. Dazu kommt auch die Tatsache, dass in diesen Tagen die politische Lage in Budapest alles andere als übersichtlich war. Die anfängliche Begeisterung für Ungarn seitens der Westungarndeutschen gab nach, und die Führung stellte ein Ultimatum an die Regierung: Sie gewähren Autonomie oder die Deutschen werden einen eigenen Staat ausrufen. Obzwar Budapest ein neues Autonomiegesetz verabschiedete, wurden darin die Ziele der Autonomiebewegung aber noch nicht berücksichtigt, deswegen wurde das Gesetz unter der Führung von Wollinger abgelehnt. Danach eskalierte sich die Lage in Deutsch-Westungarn immer mehr.

Ein ungarndeutscher „Staat” wird geboren

Die gescheiterte territoriale Autonomie brachte Enttäuschung für die deutsche Bevölkerung, und die allgemeine Stimmung richtete sich gegen Ungarn und ungarische Beamte. In den in der Nähe von St. Gotthard liegenden Dörfern wurden Protestveranstaltungen abgehalten, wobei die Teilnehmer ihr Selbstbestimmungsrecht und eine zukünftige Trennung von Ungarn forderten.

Im Dezember trat eine neue Persönlichkeit in den Wirbelwind der Geschichte ein: Der Mattersdorfer Sozialdemokrat Hans Suchard erlebte die revolutionären Tage sowie die Proklamation der Republik Deutsch-Österreich in Wien. Suchard, der verwundete Kriegsveteran, der sich ein österreichisches Deutsch-Westungarn wünschte, war mit den Wiener Sozialdemokraten gut vernetzt, die viele Waffenlager in ihrer Hand hielten. Sein Interesse traf auch den Willen der österreichischen Regierung, also einer militärischen Annexion sollte nichts im Wege stehen. Suchard konnte in den österreichischen Kasernen Milizionäre rekrutieren, mit denen er in Westungarn einmarschierte, noch dazu wurde ein größeres Waffenarsenal an der österreichisch-ungarischen Grenze für sie bereitgestellt. Im Dorf Mattersdorf hielten die Autonomiebefürworter und die Anschluss-Unterstützer am 6. Dezember eine improvisierte Versammlung ab, aber letzendlich wurde das Drehbuch der Separatisten von Suchard geschrieben.

Hans Suchard, der selbsternannte Staatsgründer (Bquelle: www.derstandart.at)

Noch am selben Tag rief Suchard, beziehend auf das Wilson’sche Selbstbestimmungsrecht der Völker, „das freie deutsche Heinzenland” aus. Es war eigentlich eine provisorische Lösung von ihm: „Bei Ungarn wolln ma net bleiben. Nach Österreich lasst ma uns net. Na, dann ham ma halt a eigene Republik gmacht”, wie er später erklärte. Die Republik Heinzenland sollte solange existieren, bis Österreich selbst das Land nicht annektiert. Zur Republik gehörten theoretisch alle deutschsprachigen Ortschaften Westungarns.

Die Mattersdorfer stellten eine sogenannte „Volkswehr” auf, welche Einheit nur 300 Männer zählte – eine Rekrutierung unter der dortigen deutschen Bevölkerung war auch nicht möglich, weil die Dörfer über das Vorhaben der Separatisten nicht informiert wurden. Die fehlende Munition erschwerte die militärische Situation Suchards noch weiter, da die Waffentransporte von ungarischen Soldaten gestoppt wurden. Unter diesen Umständen mussten die heanzischen und österreichischen Volkswehr-Soldaten weitere Ortschaften besetzen. Am Abend traf eine österreichische Truppe in Mattersdorf ein, mit frischen Männern und Munition. Suchard entschloss sich, einen Angriff auf Ödenburg (die auserwählte Haupstadt der Republik Heinzenland) vorzunehmen, aber erst am nächsten Tag. In der Nacht wurde aber das ungarische Militär in Ödenburg mobilisiert, und im Morgengrauen des 7. Dezember zingelten sie die Aufständischen in Mattersdorf ein: Ein Widerstand gegen die viel besser ausgerüsteten Ungarn (Madjaren) schien aussichtslos zu sein, also wurden die Separatisten ohne einen einzigen Flintenschuss entwaffnet. Wegen Hochverrat wurde Suchard verhaftet und in Ödenburg eingekerkert. Der ungarische Gerichtshof verurteilte ihn zum Tod, aber er wurde an kommenden Weihnachten gleich begnadigt. Damit endete die westungarndeutsche „Eintagsrepublik”, die Republik Heinzenland, die, laut Suchards Erzählungen, 22 Stunden existierte.

Die Zeitdauer gilt als ein Rekord auch in der Weltgeschichte unter solchen ein- oder zweitägigen kurzlebigen Staaten. Der Plan für die Errichtung eines Staates scheiterte, aber die Republik Heinzenland war eine wichtige Station auf dem Weg zur Gründung des Burgenlandes: Ein spektakulärer, fast beispielloser Vorfall, wodurch die internationale Öffentlichkeit die Bedeutung der deutschwestungarischen Frage erkannte.

Titelbild: wienerzeitung.at

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