Prof. Dr. Josef Bayer: Sprachgrübelei

Die Sprache, allen voran die Muttersprache prägt zutiefst unsere Identität. Auch die nationale Identität eines Menschen wird bestenfalls durch die Sprache bestimmt – erinnern wir uns an den Satz von Gyula Illyés, wonach Ungar ist, der Ungarisch spricht. Es ist wohl auch viel besser, wenn die nationale Identität durch die gemeinsame Sprache und nicht durch Blut, Hautfarbe und andere biologisch bestimmte Eigenschaften bestimmt wird. Denn Sprache ist erlernbar, sie fördert gegenseitige Verständigung und schafft einen kulturellen Raum, der nicht ausgrenzt, sondern im Gegenteil, verbindet und integriert.

Seit dem Aufstieg des modernen Nationalstaates – meist auf den Trümmern ehemaliger multiethnischer Großreiche – ist die Sprache aber auch zur Machtfrage geworden. Überall wurde eine Mundart zur Nationalsprache normiert, regionale Mundarten zurückgedrängt und oft als rückständig und lächerlich hingestellt. Und noch schlimmer, nationale Minderheiten wurden allzu oft einer Zwangsassimilation unterzogen von den Machthabern des Nationalstaats. Deutsche in Ungarn, Ungarn (Madjaren) in Rumänien und viele andere Minderheiten in Europa hatten bittere Erfahrungen damit gemacht. „Hier wird ungarisch gesprochen, verstanden?” – hörte ich noch den Offizier dröhnen in der Volksarmee, als wir wagten, mit meinen Kumpeln aus Werischwar untereinander auf Schwobisch zu plaudern. (Ich sah einmal einen italienischen Film, wo ein junger Soldat aus Sardinien genauso gerügt war von seinen Vorgesetzten in der italienischen nationalen Armee.) Kein Wunder, dass in der deutschen Minderheit innerhalb von zwei Generationen die Nutzung und Beherrschung der Muttersprache sehr zurückging und bei den Jüngsten beinahe verschwunden ist. Der Prozess des Sprachverlusts der nationalen Minderheiten ist wohl bekannt. Wegen Repressionen und Vertreibung nach dem Krieg sprachen die Eltern untereinander zwar noch Deutsch, aber zu den Kindern sprachen sie immer mehr auf Ungarisch. Deutsch war zwar nicht verboten, es war nur nicht ratsam, oder nicht förderlich, die Sprache zu benutzen. Mein lieber Dorflehrer rühmte sich damit, dass er den Schülern während der Pause auch am Schulhof verbot, untereinander Deutsch zu reden. Für ihn war es eine pädagogische Aufgabe, die Sprösslinge dazu zu veranlassen, „ordentlich“ Ungarisch zu sprechen. Dieses Milieu konnte unsere Deutsch-Lehrerin nicht aufwiegen, so sehr sie versuchte, in einer einzigen Deutschstunde pro Woche in einer gemischten Klasse gewissenhaft uns die Sprache beizubringen. Meine ältere Schwester, die noch vor dem Krieg in die Schule ging, spricht noch einwandfrei die örtliche Mundart, wir Jüngere können sie noch verstehen, aber nicht mehr fehlerlos sprechen. So ging unsere etwas archaisch anmutende deutsche Mundart langsam unter, überlebte höchstens im Schatten als eine Küchensprache. Mit dem Verschwinden der alten Lebensweise verstummte auch die lokale Mundart. Nationalisten mögen es als einen Sieg des Fortschritts betrachten, ein Verlust ist es immerhin.

Dieser Prozess nationaler Gleichschaltung der Sprachen wird heutzutage von der Globalisierung überholt, indem Englisch in den letzten Jahrzehnten zum „Globish“ aufgestiegen ist. Englisch ist heute zweifellos zur Weltsprache der Geschäftswelt (business community), der Kommunikation (siehe Internet), der Technik und Wissenschaft geworden. Robert McCrum hat in seinem Buch „Globish: How the English became the World’s Language“ einige Gründe für diese Entwicklung beschrieben. Ausschlaggebend dafür waren freilich das weltweite Britische Imperium und die amerikanische Hegemonie in Wirtschaft und Politik. Aber auch die Vereinfachung der grammatischen Struktur einer Sprache, die historisch aus Verschränkung verschiedener Sprachen zustandegekommen ist und sich für die Kommunikation von Menschen verschiedenster Herkunft anbot, hat das Ihre geleistet. (Kein Zufall, dass Mark Twain sich in einem Essay lustig machte über „Die schreckliche deutsche Sprache“, die er beim Erlernen zwar sehr ausdrucksvoll, aber allzu kompliziert fand.) Für etwa 400 Millionen Menschen gilt Englisch heute als Muttersprache, aber viel mehr Leute benutzen heute Englisch als Zweitsprache. Dabei verschwinden jährlich hunderte Sprachen der Welt. Der Fluch von Babel soll bald brechen, sollte es so weitergehen.

Latein war die „lingua franca“ der Gelehrten im mittelalterlichen Europa. Es war ein großer Fortschritt, als vor fünfhundert Jahren Wissenschaftler, wie Galilei und andere, begannen in ihrer nationalen Sprache zu schreiben. Das war ein demokratischer Zug: Ein jeder sollte Zugang zur Wissenschaft haben, nicht nur die Gelehrten. Heute erleben wir eine gegenseitige Tendenz, als wissenschaftliche Publikationen höher bewertet werden, wenn sie auf Englisch erscheinen. Es geht manchmal so weit, dass Konferenzen auch in Ungarn oder Deutschland auf Englisch organisiert werden, selbst wenn unter den Teilnehmern kaum jemand sich Englisch als Muttersprache bedient. Stefan Klein, deutscher Biophysiker, hat in dem Aufsatz „Dümmer auf Englisch“ mit viel Ironie über diese Entwicklung geschrieben. Ihm ging es dabei um die Frage: Was wird das Schicksal der nationalen Wissenschaftssprachen werden, in denen die meisten großen Entdeckungen der letzten Jahrhunderte gemacht wurden? Denn, wie er zu Recht betont, besonders die theoretische Seite der Wissenschaft, die Begreifung der breiten Zusammenhänge und der kreativen, innovativen Ideen liegen am Denken in der Muttersprache.

Während wir den Vormarsch von Globish sehen, wird von Sprachwissenschaftlern und Psychologen gleichsam auf die Vorteile der Zweisprachigkeit (bilingualism) hingewiesen. Lernt man eine Fremdsprache, erhält man viel mehr als nur Worte. Man eignet sich eine andere Kultur, eine andere Denkweise an und schafft dadurch auch eine gewisse Distanz zur eigenen Sprache. Das verhilft zur größeren Objektivität, bietet mehr Assoziationen und freieren Umgang mit der Sprache. Auch andere Nebenwirkungen werden positiv verzeichnet wie verbessertes Gedächtnis, höherer Grad an Entscheidungsfähigkeit, erhöhter Widerstand gegen Manipulation. Und letztens, das Sprachenlernen selbst in hohem Alter verhindert den geistigen Verfall und soll die beste Medizin gegen Dementia sein.

Unter diesen Umständen müsste man darüber nachdenken, wieso die Ungarn in der Beherrschung von Fremdsprachen in Europa so sehr nachhinken? Ja, die ungarische Sprache ist schwer und gehört nicht zur indoeuropäischen Sprachfamilie. Aber vielleicht gibt es auch andere Gründe!? Vielleicht war die einstige forcierte Hungarisierung doch keine so gute Idee? Früher war die deutsche Sprache in Mitteleuropa noch sehr verbreitet als zweite Sprache. Heute hat sie zwar eine starke Konkurrenz durch Englisch. Mit dem Systemwandel erlebten wir zum Glück eine erneute Aufwertung der deutschen Sprache, sie erhielt echten Nutzwert besonders in den vermehrten westlichen Kontakten, in Gemeinschaftsunternehmen und bei multinationalen Unternehmen aus dem deutschsprachigen Raum. Vielleicht gibt’s noch was zu retten aus einer verschütteten Tradition.

Ursprünglich veröffentlicht:

http://www.deutsche-in-ungarn.hu/index.php?option=com_content&view=category&layout=blog&id=125&Itemid=725

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