Für die Gemeinschaft, mit der Gemeinschaft

Für die Gemeinschaft, mit der Gemeinschaft

LdU-Büroleiterin zur Auslandsdeutschen des Jahres gewählt / Erika Rierpl im Sonntagsblatt-Gespräch 

SB: Frau Rierpl, Sie wurden dieses Jahr Auslandsdeutsche des Jahres 2025.  Was waren die Faktoren, die Ihre ungarndeutsche Identität prägten?

ER: Sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits stamme ich aus einer schwäbischen Familie. Ich wurde zwar in Budapest geboren, aber mein Heimatort – heute eine Stadt – ist Raitzenmarkt/Ráckeve, wo ich bis zu meinem 18. Lebensjahr lebte. Raitzenmarkt liegt auf der Tschepele-Insel, umgeben von mehreren kleinen schwäbischen Dörfern, und in der Nachbarschaft gibt es auch eine serbische Gemeinde. Auch Raitzenmarkt selbst hat eine deutsche historische Vergangenheit – leider sind die Traditionen dort jedoch nicht erhalten geblieben. Meine Kindheit verbrachte ich unter älteren Schwaben von Wetsch/Szigetbecse und Sankt Martin/Szigetszentmárton. Jedes Jahr freute ich mich auf die Zeit der traditionellen Kirchweihfeste, denn in den 1970er Jahren konnte man dort die noch natürlich gelebten – und nicht künstlich am Leben gehaltenen – Traditionen am intensivsten erleben. Obwohl die Muttersprache meiner Großeltern und ihrer Geschwister, ja sogar meines Vaters, der 1941 geboren wurde, Deutsch war, wurden diese Kenntnisse leider nicht an unsere Generation weitergegeben. Selbst dem jüngeren Bruder meines Vaters, der gegen Ende des Krieges 1944 geboren wurde, brachte man nur noch Ungarisch bei.

Ich wurde 1972 geboren, zu einer Zeit, als die Weitergabe der schwäbischen Muttersprache in unserer Gegend – nahe der Hauptstadt – nach dem Zweiten Weltkrieg völlig zum Erliegen gekommen war. Der Gebrauch der Sprache lebte zwar unter meinen Großeltern weiter, aber nur noch im engen Kreis der älteren Leute. Ich selbst spreche leider nur das Deutsch, das ich in der Schule bzw. im Gymnasium gelernt habe. Es war für mich auch nichts Besonderes, dass mehr Verwandte von mir in Deutschland als in Ungarn leben, denn sowohl die Vertreibung als auch die Verschleppung zur „Malenkij Robot“ haben meine Familie stark betroffen. Diese Identität war für mich selbstverständlich, ich bin einfach in sie hineingewachsen. Natürlich wusste ich damals gar nicht, dass es so etwas wie Identität überhaupt gibt – ich war einfach ein schwäbisches Mädchen. Sogar meine Spielkameradin benutzte das manchmal als Schimpfwort, wenn sie wütend auf mich war. Mit 16 Jahren begann sich bei mir ein deutsches Nationalbewusstsein zu entwickeln, als ich anfing, unsere Kultur bewusst zu pflegen und am Gemeinschaftsleben im Heimatdorf meines Vaters, in Sankt Martin teilzunehmen – wo ich heute noch lebe. Seit 2019 bin ich Vorsitzende der Deutschen Selbstverwaltung der Gemeinde und seit 2024 auch Erste Gemeinderätin.

SB: Sie sind ja studierte Chemikerin, Journalistin und Büroleiterin des Regionalbüros Nord der LdU. Was hat Sie dazu motiviert, sich für die ungarndeutsche Gemeinschaft einzusetzen?

ER: November 2022, während der Klausurtagung der LdU, erreichte mich die freudige Nachricht, dass Maria Boróczki-Pittler, unsere damalige regionale Büroleiterin, ein Kind erwartet. In einem Augenblick schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass jemand gebraucht wird, der sie während der Zeit, die sie mit ihrem Kind zu Hause verbringt, vertreten kann. Obwohl ich nicht genau wusste, was die Aufgaben dieser Position beinhalten, hatte ich schon lange im Hinterkopf, dass ich eigentlich nur noch für das Ungarndeutschtum arbeiten sollte, denn ihr Schicksal, unser Schicksal, liegt mir sehr am Herzen.

Ja, mein „bürgerlicher“ Beruf spielte sich in einem ganz anderen Bereich ab. Ich arbeitete als Forschungschemikerin, als Laborleiterin und später als Projektleiterin und Mitarbeiterin für technische Projekte. Ich habe meinen Beruf sehr geliebt, aber ich hatte das Gefühl, dass ich – wenn sich die Möglichkeit bietet – mit ganzem Herzen auch für die Ungarndeutschen arbeiten könnte und wollte. Ich dachte, wenn ich einen weniger verzweigten beruflichen Weg einschlagen und meine Aufmerksamkeit auf ein Gebiet konzentrieren könnte – das natürlich an sich auch sehr vielfältig ist –, dann könnte ich meine Ziele auch effizienter verwirklichen. Ich strebte danach, den inneren Konflikt in mir aufzulösen, dass ich sowohl in meinem Beruf das Beste geben wollte als auch für das Ungarndeutschtum alles tun wollte, was in meiner Macht steht. Mein Herz sagte mir, dass ich den Weg wählen sollte, auf dem ich mich voll und ganz für unsere Nationalität einsetzen kann.

Die Entscheidung fiel also in Bruchteilen einer Sekunde: Ich bewerbe mich um diese Aufgabe. Sobald die Stelle ausgeschrieben war, habe ich meine Bewerbung eingereicht. Zu meiner großen Freude konnte ich am 15. Februar 2023 als Büroleiterin der Region Nord meine Arbeit aufnehmen.

SB: Gab es im Laufe Ihrer Tätigkeit besondere Momente oder Herausforderungen, die Ihre Leidenschaft noch weiter gestärkt haben?

ER: Unsere nationale Kultur ist ein großer Schatz, den wir jeden Tag der Welt zeigen können. Wenn ich dazu beitragen kann, dass dieser Schatz in neue Hände und neue Herzen gelangt, spüre ich wirklich, warum ich diese Arbeit mache.

Meine Kolleginnen und Kollegen, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Ungarndeutschtum beschäftigen, sind natürlich äußerst motiviert, dass ich meine Arbeit präzise und gut mache. Es hat mich immer angespornt, wenn ich erfahrenere und fachlich versiertere Kolleginnen und Kollegen um mich habe, die mich dazu inspirieren, mein eigenes Wissen weiterzuentwickeln. Da ich offiziell erst seit drei Jahren in diesem Bereich tätig bin, konnte ich sehr, sehr viel von ihnen lernen. Und es ist auch sehr wichtig, dass ich in einem menschlich sehr kooperativen und liebevollen Umfeld arbeiten darf. Ich habe mich wirklich davon überzeugt, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, als ich die Ergebnisse meiner Arbeit gesehen und dabei erkannt habe, wie wichtig das ist, was ich tue. Auch die vielen kleinen Anerkennungen, die ich für meine Arbeit erhalten habe, haben mich darin bestärkt, dass ich meine Aufgabe gut mache und dass es sich lohnt, weiterhin für das Ungarndeutschtum zu arbeiten. Einen so bedeutenden Titel zu erhalten, gibt natürlich noch zusätzlichen Antrieb.

Wenn ich wirklich einen Moment aus meiner Arbeit hervorheben möchte, dann wäre es die jährlich im November stattfindende Gala der Region Nord. Sie ist eines der größten, wenn nicht sogar das größte Event, an dem wir im Laufe des Jahres in der Region Nord arbeiten. Zu den letzten Momenten der Gala gehört es, gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen unsere Arbeit zu würdigen, während ein ganzes Sporthallenpublikum seine Anerkennung zeigt. Es sind jedes Mal 500 bis 1000 Zuschauer dabei, die aus den mit uns verbundenen ungarndeutschen Gemeinden anreisen und ihren Applaus als Zeichen der Wertschätzung spenden. Das sind immer diese besonderen Augenblicke, in denen wir alle Schwierigkeiten, die uns im Laufe des Jahres bei der Arbeit begegnet sind, vergessen und mit neuer Kraft in die nächste Zeit, ins nächste Jahr starten.

SB: 42 % der weltweiten Stimmen haben Sie bei der Wahl zur „Auslandsdeutsche des Jahres“ erhalten. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie erfahren haben, dass so viele Menschen aus Ihrem Heimatland und aus aller Welt für Sie gestimmt haben?

ER: Die Abstimmung, die von September bis November lief, fiel genau in eine Zeit, die für mich beruflich besonders anspruchsvoll und ehrlich gesagt auch von Überlastung gekennzeichnet war. Deshalb konnte ich mich nicht so sehr auf die Werbung für die Abstimmung konzentrieren, aber natürlich habe ich Schritte unternommen. Umso größer war meine Freude, denn das zeigt, dass unser System, unser offizielles Netzwerk und unsere Kontakte – das Netzwerk der Ungarndeutschen – wirklich sehr gut aufgebaut, sehr gut funktionierend und eine Gemeinschaft ist, die Interesse und gegenseitige Anerkennung zeigt.

Und hier bin ich der LdU wirklich sehr dankbar, dass sie mir die Möglichkeit eröffnet hat, über die Organisation und die dazugehörigen Regionalbüros, Schulen, sowie über die Facebook-Seite des Zentrums für die Abstimmung Werbung zu machen.

SB: Was hat dieser Titel in Ihnen persönlich ausgelöst? Verändert er Ihre Motivation oder Ihr Verantwortungsgefühl?

ER: Natürlich spüre ich eine Verantwortung im Zusammenhang mit diesem Titel. Wenn mir in Ungarn und weltweit so viel Vertrauen geschenkt wurde, bedeutet das für mich, dass es umso mehr meine Pflicht ist, die deutsche Gemeinschaft in Ungarn würdig zu vertreten. Dieser Titel ist nicht nur eine Auszeichnung, sondern auch ein Ansporn, weiterhin dafür zu arbeiten, dass unsere Kultur sichtbar, lebendig und liebenswert bleibt.

Natürlich kamen sofort Gedanken in mir auf, dass ich, um diesen Titel auch weiterhin verdient zu behalten, in bestimmten Bereichen noch Entwicklungspotenzial habe – es gibt Bereiche, in denen ich mich definitiv weiterentwickeln muss. Einer dieser Bereiche ist die spontane mündliche Anwendung der deutschen Sprache. Und ich bin zuversichtlich, dass ich in diesen Bereichen Fortschritte machen werde. Im Moment bin ich sehr motiviert, die nötigen Schritte zu unternehmen, damit mein Wissen weiterwächst.

SB: Sie schreiben auf einer Plattform in den sozialen Medien: „Dieses Ergebnis betrachte ich nicht als meinen persönlichen Erfolg, sondern als Erfolg unserer Gemeinschaft […]“. Viele hätten eine solche Auszeichnung als persönlichen Erfolg betrachtet. Warum ist es Ihnen wichtig, diese Anerkennung mit der Gemeinschaft zu teilen?

ER: Für mich ist diese Auszeichnung der Beweis dafür, dass eine Gemeinschaft dann stark ist, wenn ihre Mitglieder aufeinander achten und zusammenarbeiten können. Dass so viele Menschen für mich gestimmt haben, zeigt, dass unsere Identität, unsere Kultur und unsere Traditionen lebendig und wichtig sind. Dafür setzen sich viele von uns ein – oft „unsichtbar“ für das weitere Umfeld. Das Ergebnis unserer Arbeit ist eine gemeinsame Leistung. Deshalb bin ich überzeugt, dass auch unsere Erfolge gemeinschaftlich sein sollten. Ohne das Individuum gibt es keine Gemeinschaft, aber ohne eine unterstützende Gemeinschaft kann auch die Kraft des Einzelnen nicht voll entfaltet werden. Indem wir einander stärken, werden wir wirklich stark.

SB: Welchen Rat würden Sie jungen Menschen geben, die ihre kulturelle Identität pflegen und weitertragen möchten?

ER: Es ist wichtig, neugierig und offen zu bleiben, um die eigenen ungarndeutschen Traditionen nicht nur zu bewahren, sondern sie auch mit anderen zu teilen. Dabei können Begegnungen und der Austausch mit Menschen aus verschiedenen deutschen Gemeinden, sogar Kulturen bereichernd wirken und den Blick für neue Perspektiven öffnen. Durch aktives Engagement in der eigenen Gemeinschaft, das Erlernen von Sprachen oder das Weitergeben von Geschichten und Bräuchen wird die kulturelle Identität lebendig gehalten und gleichzeitig den jüngeren Generationen weitergegeben.

Ich würde die Jugendlichen dazu ermutigen, unsere Kultur und Traditionen möglichst authentisch zu bewahren und weiterzugeben. Natürlich bringt jede Generation ihre eigenen Neuerungen ein, aber die Wurzeln sollten wir erhalten. Ich halte es für wichtig, dass sie nicht nur in Kulturgruppen aktiv sind, sondern auch Aufgaben und Rollen in lokalen Vereinen, in den ungarndeutschen Selbstverwaltungen, in regionalen oder sogar landesweiten Organisationen übernehmen – denn sie sind die Gestalter unserer Zukunft. Wenn sie ihr Studium in der Hochschulbildung fortsetzen, gibt es heute bereits zahlreiche Studiengänge, die sie später direkt bei ihrer Arbeit für das Ungarndeutschtum unterstützen können.

Die bevorstehenden Parlamentswahlen sind entscheidend für die deutsche Gemeinschaft in Ungarn. Eine stabile Vertretung erfordert, dass insbesondere die junge Generation ihr Wahlrecht verantwortungsbewusst nutzt und die Deutsche Liste unterstützt.

SB: Frau Rierpl, vielen Dank für das Interview! Ich gratuliere Ihnen nochmals ganz herzlich zu der Auszeichnung und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg!

Das Gespräch führte Vinzenz Szűcs-Cilli.

 

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