Bei einer Hutterer-Gemeinde in Montana

Immer wieder verfolgt, fand die religiöse Gemeinschaft der Hutterer nach Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika eine neue Heimat. Wie andere strenggläubige Gruppen versuchen sie, ihr Weltbild und ihre Lebensart auch inmitten eines zunehmend säkularisierten Umfelds zu bewahren.

Die andere Welt beginnt, wenn man in North Harlem die Strasse nach Norden nimmt, drüben, jenseits der Bahngeleise. North Harlem hat vielleicht 700 Einwohner und liegt ganz oben im US-Gliedstaat Montana, an der Grenze zu Kanada. Dort wo es so flach ist, dass der Himmel mit seinen Wolken gar nicht enden mag. Und da, zwischen dem Winterweizen und den Erbsenfeldern, beginnt die andere Welt. Man erkennt sie daran, dass Eli Hofer auf Deutsch mit Tiroler Akzent sagt: «Im Juli, da wird’s guat hoass bei uns.» Oder «Des da, des son die Liedla, die ma singa.» Sprachlich verstehen wir uns gut – ich, der bayrische Journalist, und der Prediger der Huttererkolonie von North Harlem. Hier auf dieser seltsamen Insel im Meer des amerikanischen Lebensstils, ohne Fernsehen, Fast Food und Konsum. Dafür mit kommunistisch anmutendem Kollektivbesitz, ohne Löhne und ohne Geld. Und politisch wiederum so konservativ, dass die CVP dagegen als linksradikaler Verein erscheinen würde.

Die nach ihrem Gründer Jakob Hutter benannten Anhänger dieser Täuferbewegung waren im 16. Jahrhundert aus Tirol vor der Verfolgung geflohen, erst nach Mähren, dann in die Ukraine des Zarenreiches, um 1870 schliesslich nach Amerika. Heute leben rund 50 000 Hutterer in 500 Gemeinden in Kanada und den US-Gliedstaaten Montana und South Dakota.

Bäuerlicher Wohlstand

Die Fahrt mit dem Geländewagen bringt uns nach Norden, und irgendwann passieren wir die Felder der Kolonie – 20 000 Acres bewirtschaften sie hier, das sind etwa 8000 Hektaren oder 80 Quadratkilometer. Es ist auf jeden Fall eine Menge Land, von dem es sich leben lässt. Riesige Mähdrescher, modernste Traktoren im Wert von 300 000 Dollar und einige grosse Lastwagen zeugen von Wohlstand. Die Kolonie selbst besteht aus einer Ansammlung moderner Flachbauten. In der Mitte die zentrale Küche mit dem Speisesaal für alle. Darum herum die Wohnhäuser mit grünem Rasen. Elf Familien mit 43 Menschen bilden die North-Harlem-Kolonie, man siedelt hier seit 1961. Die Kolonie gehört zu den «Darius-Leut», denen 170 Gemeinden angehören. Von den «Schmiedel-Leut» gibt es 185 Kolonien, von den «Lehrer-Leut» 150. Sie unterscheiden sich durch den Grad an Konservatismus.

Die Lehrer-Leut gelten dabei als die Gruppe mit der traditionellsten Lebensform. Die Mitglieder unterliegen einer starken sozialen Kontrolle, Computer, Faxgeräte oder Telefone sind nur erlaubt, wenn sie wirtschaftlichen Zwecken dienen. Ihre Abschottung gegenüber der Aussenwelt geschieht bewusst, um die eigene Kultur aufrechtzuerhalten. Bei den Schmiedel-Leuten wiederum ist die Bandbreite zwischen orthodoxen und liberalen Kolonien sehr gross. In vielen Gemeinden besuchen die Kinder sogar die öffentliche High School, und ihnen steht das Studium offen. Die Schmiedel-Leut nehmen auch Pflegekinder auf und adoptieren nichthutterische Kinder. Auch bei den Darius-Leut besteht ein grosser Unterschied zwischen konservativen und weltoffeneren Kommunen. Eli Hofer hat den Ruf, ein fortschrittlicher Prediger der Hutterer zu sein. Er nutzt das Internet und hat seiner Frau Marie einen Tabletcomputer geschenkt. Beide sind nette, sehr gastfreundliche Menschen, auch wenn sie die Evolutionslehre doch eher für Teufelszeugs halten und die Regierung der Demokratischen Partei in Washington wie auch die liberalen Kalifornier für «Radikale».

Wir gehen hinüber zur Kirche der Kolonie. Der Betraum ist nach pietistischer Manier nüchtern und kahl, an der Stirnseite das Katheder, daneben die Bank für die «Ältesten». Rechts und links im Raum sind kleine Schulbänke festgeschraubt, hier lernen die neun Kinder der Kolonie in der Sonntagsschule deutsche Fraktur- und Sütterlinschrift. Der normale Schulunterricht findet auf Englisch statt. Am Sonntag um neun Uhr versammeln sich im Betraum die Hutterer von North Harlem und stimmen – Männer und Frauen getrennt sitzend – einen seltsam anmutenden A-cappella-Gesang mit hohen Frauenstimmen an; dann wird Eli Hofer aus den Schriften der Alten und aus der Bibel lesen, zum Beispiel über die Vorteile der Gottesfurcht. So auch beim Abendgottesdienst und dreimal in der Woche.

Ordnung und Reinlichkeit

Wenn ein Prinzip in der Siedlung sichtbar wird, dann ist es das der Ordnung. Tische sind mit Klarsichtfolie überzogen, die Rasen gemäht, die Häuser sauber, der Fuhrpark ist gepflegt. Ordnung zeigt sich auch beim gemeinsamen Essen in der zentralen Kantine. Die Frauen sind für das Kochen und Abspülen zuständig, an den schweren Steintischen sitzen die Geschlechter getrennt und nach Alter gruppiert. Eli Hofer spricht das Tischgebet. Joe, sein älterer Bruder, ist der «Wirt», er verwaltet die Finanzen. Benjamin wiederum ist der «Weinzedel», er teilt die Arbeit auf den Feldern ein. So hat alles seinen Platz, sind die Dinge gefügt. Gesprochen wird beim Essen nicht viel, man kennt sich ja.

Unter den jungen Frauen, die nach dem Essen den Abwasch machen, ist Judith. Ihre moderne Brille steht ein bisschen in Kontrast zur traditionellen Kleidung, der blauen Kittelschürze und dem dunklen Kopftuch. Sie wird bald heiraten, einen Mann aus einer anderen Kolonie. Das ist einer der Wege der Hutterer, ihre Welt zu erhalten. Ehen mit Nichthutterern, das gehe nicht, sagt Eli Hofer. Die Kultur sei eine andere. Einer seiner drei Söhne hat die Kolonie verlassen, er lebt mit seiner Familie in Havre. «Er bereut’s», sagt Eli.

Die Abgeschiedenheit ist ein weiteres Hilfsmittel. In der Weite Montanas kann man unter sich bleiben, der nächste Ort, North Harlem, ist zehn Kilometer entfernt. Fernsehen gibt es nicht in der Kolonie. Trotzdem bleibt die Frage, wie sich diese Welt aufrechterhalten lässt, umgeben von den Anfechtungen des Konsums, der Technik und des Liberalismus. Scheidung, Homosexualität oder Abtreibung sind keine Bestandteile dieser Welt, ebenso wenig wie die Anerkennung der Evolution. Ihre Grenzen sind eng, die Dinge bestimmt, und auf dem Tisch liegen Zeitschriften, deren konservatives Weltbild fest geschlossen ist.

«Wichtig ist, dass der Prediger fest steht», sagt Eli Hofer. Das hält die Gemeinschaft zusammen. In einem Bücherschrank stehen dafür die schwarz gebundenen Schriften mit den Glaubenssätzen. Bei den Schmiedel-Leuten gingen viele Junge weg, heisst es. Manchmal, aber eher selten, löst sich eine Kolonie auch auf. Und wird sie zu gross, so dass zu wenig Arbeit vorhanden ist, dann teilt sie sich wie eine Zelle. So sind aus den drei ursprünglichen Mutterkolonien in den USA mittlerweile über 400 einzelne Kommunen geworden. Der Teilungsprozess einer Kolonie erstreckt sich in der Regel über mehrere Jahre und geht geplant und geordnet von sich. Vor dem Landkauf wird genau bestimmt, welche wirtschaftliche Grundlage die Kolonie haben wird. Materielle Güter wie auch anfallende Schulden werden zwischen Mutter- und Tochterkolonie aufgeteilt. Bei der Neugründung wiederholt sich in der Regel die räumliche Struktur der Siedlungen. Den Mittelpunkt bilden kollektive Räume wie die gemeinsame Küche und der Speisesaal, darunter im Keller die Vorratsräume und die Wäscherei. Um dieses Zentrum herum gruppieren sich die Wohnhäuser, deren Eingang den Kollektivräumen zugewandt ist. Im weiteren Umfeld sind dann die Wirtschaftsgebäude angeordnet.

Rückzug oder Öffnung?

Doch trotz dieser Uniformität differenziert sich die Lebensweise der Hutterer aus, nicht nur nach den drei grossen Gruppen, sondern auch innerhalb der einzelnen Kolonien. «Die Mitglieder der Hutterischen Kirche stehen heute vor der schwierigen Frage, wohin der Differenzierungsprozess ihre Gemeinschaft führen wird», schreibt die Soziogeografin Andrea Perterer in ihrer Studie über den «Kulturraum der Hutterer». Und konstatiert, dass es fraglich bleibe, wie deren Lebensweise erhalten werden könne: durch den Rückzug auf die Tradition oder eher durch die Öffnung hin zur Moderne?

In der North-Harlem-Kolonie ist es Sonntagabend geworden. Am Montag werden wieder die Männer mit den Traktoren über die Felder fahren und sprühen. Und die Frauen in der Küche die Speisenfolge für die Woche planen. Vor ihnen liegt die schwierige Aufgabe, weiterhin eine Balance zwischen ihrer traditionellen Lebensweise und den Anforderungen der Modernisierung – auch was die wirtschaftlichen Grundlagen anbelangt – zu finden. Bisher jedenfalls haben die Hutterer es geschafft, das Aufgehen in der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft zu verhindern und ihre kulturelle und religiöse Lebensform zu erhalten.

 Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/die-darius-leut-von-north-harlem-1.18170693

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