Von Dr. Jenő Kaltenbach
Die deutsche Selbstverwaltung einer Gemeinde nahe Budapest veröffentlichte auf Facebook einen Aufruf zum herannähernden Faschingsball. Kurz danach konnte man dazu folgenden Kommentar lesen:
„entschuldigt, aber wenn ich irgendwo auf der Welt eine ungarische Gemeinschaft besuche erfahre ich dass sie ungarisch reden und, was für ein Wunder, bei euch auch. Wenn ihr hier geboren seid und als Ungarn lebt, spricht, denkt und träumt, warum lässt ihr euch verkrüppeln? Die ungarische Kultur ist doch viel vielfältiger und reicher wie eure, oder ist das für euch genetisch bedingt unerreichbar? Oder warum kehrt ihr nicht nach Hause zurück? Es gibt ja kein Krieg und hier herrscht doch Elend, was wir größtenteils den Deutsch-Römer, den Habsburger, und den Nazis zu verdanken haben. Eure gestörte Identität sollte behandelt werden.“
Mal davon abgesehen, dass dieser Vertreter der so „vielfältiger und reicher“ (sic!) Kultur nicht alle Regeln der Grammatik kennt, konzentrieren wir uns auf das Wesentliche, weil das, außer dem bodenlosen Unwissen, auch alle Merkmale des Jahrhunderte alten, heute wieder gestärkt auftretenden, falschen, gestörten nationalen Identitätsbewusstseins repräsentiert. (Mangels adäquater Erhebungen weiß man nicht, wie verbreitet diese Denkweise ist, aber sie ist vermutlich keine Rarität.)
Nun gehen wir mal schrittweise der Sache nach:
1. Teile der ungarischen Diaspora behält zweifellos ihre Identität, aber es hängt im Wesentlichen davon ab, wo sie beheimatet ist, wann sie das Mutterland verließ, aber dass sie ihre Identität überall behält, ist eine Übertreibung. Ja, es gibt sogar in den Nachbarländern welche mit einem ungarischen Namen, die aber ihre Identität gewechselt haben. Identitätsbewahrung hängt auch davon ab, welche Identitätspolitik das Land verfolgt. Dabei haben die sog. Ungarn oder besser gesagt Madjaren jenseits der Grenze einen Sonderstatus, weil sie in einer zusammenhängenden Siedlungsstruktur zahlreich zusammenleben und auch das Mutterland alles Mögliche für die Bewahrung der Identität unternimmt. Bei der sonstigen ungarischen Diaspora unterscheidet sich die Identitätsbewahrung von anderen Minderheiten keineswegs.
2. Die Ideologie über die kulturelle Überlegenheit ist ein alter, wohlbekannter nationalistischer Irrglauben, der in die ungarischen Köpfe zwar gut eingetrichtert wurde, aber nichts mit der Wahrheit zu tun hat. Eine Rangordnung der Kulturen ist eine bekannte rassistische Theorie, die nur den Zweck hat, die Unterdrückung der „unterlegenen Kultur“ zu legitimieren. Daher rührt auch die Infragestellung der Minderheitenidentität bzw. der Anspruch sie von außen, das heißt von der Mehrheit bestimmen zu wollen. Unser Zeitgenosse spricht nicht von Deutschen, nur von „Deutschtümmlern“, die in Wahrheit natürlich Ungarn sind, ja, sie denken und träumen ja ungarisch. Ob das wirklich so ist, oder ob doch dazu eigentlich die Betroffenen gefragt werden sollen, steht „natürlich“ nicht zur Debatte, wer möchte denn zu einer weniger vielfältigen, ärmeren Kultur gehören? In deutsch-ungarischer Relation ist diese Aussage besonders grotesk, da Deutsch die Muttersprache der größten europäischen Bevölkerungsgruppe ist und bis zum 2. Weltkrieg als lingua franca der Region galt und auch heute weit verbreitet ist.
3. „Warum kehrt ihr nicht nach Hause zurück?“- fragt unser Mann (Frau?), der sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen kann, dass nicht nur ein ungarischer Muttersprachler, sondern auch alle anderen mit gleichem Recht die Heimat ihrer Eltern, ja ihrer Vorfahren als ihr eigenes Heimatland betrachten dürfen. Mal abgesehen davon, wenn man im obigen Kommentar das Wort Deutsch mit Ungarisch ersetzen würde, was für ein Aufschrei das in den Kreisen der Gleichgesinnten auslösen würde. Das ist etwas anderes!, wäre die tiefgründige Antwort, wie mir vor einiger Zeit einer meiner Gesprächspartner, der unlängst noch im Ministersessel saß, gesagt hat.
4. Und zuletzt das alles entscheidende Argument: Schuld am heutigen Elend sind nicht wir. Die Verantwortung für unser Schicksal liegt nicht bei uns, sondern immer bei anderen. Bei den Deutsch-Römern, den Habsburgern und den Nazis. Armes, ausgeplündertes, unterdrücktes Land, vom Schicksal verfolgt. Davon abgesehen, dass dies offensichtlicher Blödsinn bzw. primitive Geschichtsverfälschung ist, das richtig Bedrohliche daran ist, dass diese unreife Mentalität, Sichtweise ziemlich weit verbreitet ist. Dies ist die bedauerliche Folge der Jahrhunderte langen Volksverdummung bzw. die lang andauernde beschwerliche Lage von weiten Teilen der Gesellschaft, die untergeordnet, in feudaler Abhängigkeit gehalten wurde. Geschlechtsreife, freie Bürger sind daran gewöhnt, dass sie ihr Schicksal weitgehend bestimmen können. Es kann passieren, dass sie mal nicht Herr der Lage sein können, aber dies ist die Ausnahme und nicht die Regel. Typisches Selbstbild und Erfahrung eines Knecht-Volkes ist die Abhängigkeit, die auch der Wahrheit entspricht, aber nicht in der Form, wie es von der eigenen „Elite“, die eigentlich die Unterdrücker sind, vorgegaukelt wird, nämlich, dass sie die eigene Unterdrückerrolle auf andere, auf Fremde schieben.
Es wäre höchste Zeit, dass wir in eigenem Interesse mit dem alten Irrglauben endlich aufhören und der Wahrheit ins Auge sehen, weil ohne dies werden wir die gleichen Fehler begehen und die gleichen Konsequenzen ertragen müssen. Wie gerade jetzt. Obwohl – ich sage es jetzt – uns niemand dazu zwingt. Es gibt keine Bedrohung von außen, auch nicht, wenn das gerade herrschende Regime, den Traditionen folgend, uns das Gegenteil einreden will. Unsere Probleme sind selbstgemacht wie auch deren Lösung an uns liegt, auch wenn uns unsere Herrscher, durch nationalistische Propaganda das Gegenteil glauben machen möchten. Es dient dem einzigen Zweck, nämlich, dass wir für das Scheitern, für unsere missliche Lage nie sie, sondern immer fremde Sündenböcke verantwortlich machen sollen.