Von Richard Guth
Die enttäuschenden Ergebnisse der Volkszählung 2022 beschäftigen mich immer noch. Alles, was ich jetzt über das Ungarndeutschtum erfahre, steht unter dem Eindruck dieses unerfreulichen Zahlenwerkes. In der letzten Ausgabe des Sonntagsblattes haben wir versucht mögliche Antworten zu liefern. In diesem Kommentar soll die Ursachenforschung im Kernbereich „Sprache“ weitergeführt werden, ausgehend von Impulsen, die ich in letzter Zeit im Rahmen von Selbststudien erhielt.
Impuls 1: Viele kennen die wissenschaftliche Tätigkeit von Dr. Ágnes Tóth. Ihr Verdienst besteht in der Erforschung der ungarndeutschen Nachkriegsgeschichte und insbesondere das Aufzeigen von Kontinuitäten (und Diskontinuitäten). So eine Kontinuität ist das fehlende deutsche Schulnetz, auch wenn es gerade in den 1950er Jahren Versuche gab, deutsche Schulen zu gründen. Dies geschah unter dem Generalsekretariat von Dr. Friedrich Wild, einem Siebenbürger, dem die Bedeutung eines muttersprachlichen Schulnetzes wohl bewusst war. In einem Sammelband, den ich mir neulich anschaute, handelt einer der Aufsätze von diesem Thema – nämlich von dem Versuch in Gemeinden mit deutscher Bevölkerung die deutsche Unterrichtssprache einzuführen. Wie wir wissen, ist dieser Versuch kläglich gescheitert: am Widerstand oder dem Desinteresse der verantwortlichen Stellen, aber auch der deutschen Bevölkerung.
Impuls 2: Kurz vor Weihnachten kam ich in den Besitz der DVD „Ein Franke lernt Polka” von Udo Pörschke. Der Film gewährt einen interessanten Einblick in unser Gemeinschaftsleben aus Sicht eines Außenstehenden, der sich dennoch im Laufe der Jahre ein Zugehörigkeitsgefühl zum Ungarndeutschtum entwickelt hat. Auch Führungspersönlichkeiten der deutschen Gemeinschaft kommen darin zu Wort und äußern sich recht offen und kritisch zum Thema „deutsches Schulnetz“. Eine dieser markigen Bemerkungen bezieht sich auf die seit der Wendezeit praktizierte sprachunterrichtende Form (fünf Wochenstunden Deutsch und eine Volkskundestunde). Bei dieser Form könne beim besten Willen keine Zweisprachkeit der Jugendlichen erreicht werden, so eine hochrangige Vertreterin der Gemeinschaft.
Impuls 3: Die sozialen Medien wie Facebook bringen wahrlich Menschen zusammen, die einen ähnlichen herkunftsmäßigen und kulturellen Hintergrund haben. Gleichzeitig offenbaren sich dabei gravierende Unterschiede, wenngleich diese Menschen u. U. nur wenige Kilometer voneinander entfernt lebten. Eine der Facebook-Seiten widmet sich alten Fotos aus dem Kreise von Rumäniendeutschen. Selbst die Fotos sind eine wahre Fundgrube. Noch mehr Informationen über das Innenleben der Sachsen, Schwaben und Landler in Rumänien liefern die Kommentare. Dabei ist wie selbstverständlich: Man besucht(e) als Deutscher (und vielfach auch als Madjare) eine deutsche Schule mit deutscher Unterrichtssprache.
Eingangs habe ich von Kontinuitäten und Diskontinuitäten gesprochen. Eine deutliche Kontinuität ist das flächendeckend fehlende deutschsprachige Schulnetz für die Trianon-Deutschen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Versuche in der Zeit des Zweiten Weltkriegs wurden von den politischen Veränderungen hinweggefegt – Versuche in den 1950ern ebenso. Wahrscheinlich war es damals die letzte Gelegenheit, die Sprache (auch die Dialekte) als Familiensprache zu bewahren. Erfahrungen aus dem Kreise der Banater Schwaben und der Siebenbürger Sachsen zeigen nämlich, dass Schulen deutscher Unterrichtssprache nicht nur hochsprachliche Kenntnisse vermittel(te)n, sondern auch den Fortbestand der Dialekte sicher(te)n.
Der Befund, dass es die sprachunterrichtende Form weder vermag die Dialekte zu erhalten noch die Großmuttersprache wiederzubeleben, verwundert nicht. Vielfach ist diese Form auch nicht einmal in der Lage, den Kindern solide Deutsch-Fremdsprachenkenntnisse zu vermitteln (denn unter dem Deckmantel von Nationalitätensprache versteckt sich allzu oft methodisch gesehen reiner Fremdsprachenunterricht, zumal Deutsch ja für 99,9 % der deutsch(stämmig)en Kinder mittlerweile eine Fremdsprache ist).
Daher stellt sich die Frage: Wie sinnvoll ist/wäre es überhaupt, die Nationalitätenschulen zu zwei- und einsprachigen deutschen Schulen weiterzuentwickeln, wie es die LdU-Strategie auch als Ziel formuliert? Die LdU-Strategen müssen sich doch etwas dabei gedacht haben, könnte man meinen. Tatsächlich, der Schlüssel zum Fortbestand, zur Bewahrung der eigenen Identität führt nun mal über die Sprache als stärkstes Unterscheidungs- und gleichzeitig Kohäsionsmerkmal. Man kann ohne weiteres Traditionen auf Ungarisch pflegen, genauso wie in der Tanzschule Salsa lernen oder gemeinsam italienisch kochen. Aber werde ich zum Haitianer, weil ich Salsa tanzen kann, oder zum Italiener, weil ich Risotto köstlich zubereiten kann? Wohl nicht!
Die Hoffnungen waren groß, dass sich nach der Übernahme von Bildungsinstitutionen in eigene Trägerschaft vieles zum Besseren wenden wird, so auch auf dem Gebiet des deutschsprachigen Fachunterrichts und der Deutschsprachigkeit des Schullebens. Trotz des lobenswerten Engagements vieler Pädagogen, die oft als Einzelkämpfer einen Windmühlenkampf führen, ist der große Durchbruch (bislang) ausgeblieben. Schulen der sprachunterrichtenden Form blieben Schulen der sprachunterrichtenden Form, zweisprachige Schulen zweisprachige Schulen – nun in der Trägerschaft von örtlichen deutschen Nationalitätenselbstverwaltungen. Die Gründe sind vielfältig und reichen von weit verbreitetem Strukturkonservatismus gerade im Schulwesen über das Unverständnis der Elternschaft für ein- und zweisprachige Angebote bis hin zu fehlenden personellen Voraussetzungen. Aber auch die LdU dürfte mit dem „Fortschritt” in diesem strategischen Bereich nicht zufrieden sein und sich die Frage stellen – so der Eindruck einiger -, ob man alles daran gesetzt hat, den Status quo zu verändern.
Der Zusammenhang fehlender (ur)(groß)muttersprachlicher Schulen zu den Volkszählungsergebnissen ist naheliegend: Viele Alten seien in den letzten Jahren gestorben, war vielfach zu hören. Ja, eine Generation ist weggestorben, deren Muttersprache noch deutsch war. Aber das Verschwinden der deutschen Sprache in den Familien hat auch mit Sprachenpolitik zu tun. Das fehlende deutsche Schulnetz (was ja so auch keine Akademikerschaft heranziehen kann) „trägt” nun „Früchte” und trifft die Gemeinschaft mit voller Wucht: Die Veränderung begann schon Jahrzehnte zuvor bei der Auflösung der geschlossenen Dorfgemeinschaften, der hohen Zahl an Mischehen und dem steigenden Assimilierungsdruck aufgrund moderner Lebensweisen.
Das Ergebnis ist eine sprachlich weitgehend assimilierte deutsche Gemeinschaft, die vielfach nicht mal mehr das Bedürfnis verspürt, sich um das sprachliche Erbe aktiv zu bemühen. Bequem sind wir geworden: Die Pflege des Herkunftserbes darf nicht mit Mühen verbunden sein und das bedeutet, dass auch die Identität für manche unter Umständen zum austauschbaren Gut geworden ist. Einzig die Kenntnis der Sprache auf hohem Niveau (Eltern haben hier auch ihre Aufgabe) und die Bewusstwerdung der Verpflichtungen gegenüber dem sprachlichen Erbe können den Abwärtstrend stoppen. Die Knochenarbeit bleibt keinem der Akteure erspart, Wohlfühlschwabentum ist fehl am Platze, wollen wir in 30-40 Jahren noch – in welcher Größenordnung auch immer – von einer deutschen Gemeinschaft in Ungarn sprechen.