Von Richard Guth
(August 2023) Die Obst- und Gemüsestände reihen sich aneinander wie Perlenketten. Dahinter erstreckt sich plattes Land, landwirtschaftlich rege genutzt. Das Jahr verspricht gute Ernte, ein Teil der Erntearbeiten ist bereits abgeschlossen, davon zeugen die gelb glänzenden Heuballen. Petrești/Mezőpetri/Petrifeld prangt auf dem dreisprachigen Ortsschild, unser Weg führt durch das Siedlungsgebiet der Sathmarer Schwaben.
An der Kirche biege ich rechts ab, ich will mir ein Bild von der Gemeinde mit dem größten sathmarerschwäbischen Bevölkerungsanteil des Landes machen. Eine Frau in ihren Sechzigern erblicke ich am Wegesrand – mit Gladiolen in der Hand. Als wäre die Vergangenheit lebendig geworden, denn auch meine Großtante machte sich regelmäßig auf den Weg, um die Grabstätte der Verwandten im Gemeindefriedhof mit bunten Gladiolen oder Lilien zu schmücken. Das ist nicht das Einzige, was mich an meine donauschwäbische Heimat nahe Budapest erinnert, aber dazu mehr.
„Wie schwäbisch ist noch Petrifeld?”, will ich von der Frau auf Deutsch wissen. Sie spricht fließend Deutsch, man hört aber heraus, dass sie ungarischer Muttersprache ist. „Zur Hälfte”, berichtet sie und erzählt von dem Jetzt und dem Vergangenen, als Petrifeld noch deutschsprachig war. Ihr Vater war für fünf Jahre zur „kleinen Arbeit” in der Sowjetunion, ‑ „im Donbass”, fügt sie auf die Ereignisse der Gegenwart hindeutend hinzu – und hielt es nach ihren Angaben für angebracht, nicht als Deutscher aufzufallen; so habe man zu Hause ungarisch gesprochen. Ohnehin dominiere Ungarisch seit jeher im Alltag – trotz der Versuche in der Vergangenheit seitens des Staates und später von Intellektuellen, die Sprache wiederzubeleben. Trotz des deutlichen Sprachverlusts bekenne sich ein Großteil der deutschstämmigen Bevölkerung zu ihrer Herkunft, was auch andere bestätigen. Die Deutschstämmigen pflegten auch die Bräuche, wird immer wieder betont: Es geht ja auch ohne Sprache.
Ich treffe die Frau noch ein zweites Mal, mitten im Friedhof. Die Grabmäler sind teils deutsch beschriftet, dennoch dominiert auch hier das Ungarische – natürlich neben dem Rumänischen. Auf einigen Grabmälern finde ich mir bekannte Familiennamen, allen voran „Mánhercz“ – was mich an Werischwar erinnert, denn eine meiner Omas hieß „Manhertz“.
Zurück an der Kirche erblicke ich eine alte Frau, sicher jenseits von 90, die die Kirche betritt. Ich spreche sie auf Deutsch an, sie sagt, dass sie nur gebrochen Deutsch spreche, genauso zwei Frauen um 60, die auf die Heiligenverehrung warten. Auch sie spreche ich auf Deutsch an, das löst bei ihnen Zeichen von Verlegenheit aus. Dennoch antworten sie auf Deutsch, zeigen sich aber erlöst, als ich zu Ungarisch wechsele. Die Heiligenverehrung findet wie alle anderen liturgischen Handlungen auf Ungarisch statt. Eine deutsche Messe habe es früher einmal im Monat gegeben, aber die Leute hätten die Sprache der Liturgie nicht beherrscht und das Ganze sei eingeschlafen, so eine der Frauen. Irgendwie kommt das mir bekannt vor. Das Dorf verändere sich ohnehin stark: Um das Revolutionsjahr herum seien viele nach Deutschland ausgewandert, was auch die Frau mit den Gladiolen bestätigt, und durch das Wegsterben der Alten sei die Sprache, „das Schwäbische”, noch mehr aus dem Alltag verschwunden.
Auch in der Schule habe man früher (auf) Deutsch unterrichtet – wie intensiv, das kann mir keiner genau sagen. Die Schule leide ohnehin an Mangel an Nachwuchs und noch ein anderes Phänomen beobachten die Frauen, was auch in Ungarn wohlbekannt ist: Durch die immer größere Zahl von ungarischsprachigen Romakindern sehen sich Nichtromaeltern veranlasst, ihre Kinder in Kindergärten und Schulen unterzubringen, die einen deutlich geringeren Romaanteil aufweisen – im nahe gelegenen Großkarol/Carol beispielsweise,. Schulische Segregation pur
Die Roma seien diejenigen, die die sathmarschwäbischen und partiummadjarischen Arbeitskräfte auf dem grenznahen ungarischen Arbeitsmarkt ersetzt hätten. Das sagt ein junges Paar, das ich vor der Kirche anspreche. Die anderen würden in Westeuropa arbeiten, allen voran in Deutschland. Auch das Paar würde gerne „abhauen”, wenn es bloß nicht so schwierig wäre mit den Fremdsprachen, so auch mit dem Deutschen, das das Paar trotz schwäbischer Herkunft nicht spreche. So bleibt die Arbeit in einem nahe gelegenen Ort.
Ich breche auf, in Richtung Großkarol, mache aber einen Abstecher ins Land berühmter madjarisierter sathmarschwäbischer Geistlicher: nach Fienen/Foieni/Mezőfény und Schinal/Urziceni/Csanálos. Das Ortsbild des einen Ortes gleicht dem des anderen: Es dominieren Sechzigerjahrebauten (wie bei uns die Kádár-Würfel) mit einem ausgetüftelten Regenwasserleitungssystem Richtung Straßengraben, Marke Eigenbau. Es wechseln sich bewohnte und unbewohnte Höfe ab, die Straßen sind an diesem Sonntagabend so gut wie menschenleer. Am Ortseingang von Schinal (oder Schönthal) treffe ich eine Frau Anfang 60, die ich wie gewohnt auf Deutsch anspreche. Sie schaut verdutzt, ich versuche es auf Ungarisch. Sie berichtet, dass ein Großteil der Bevölkerung deutscher Herkunft sei, worauf man stolz sei und deswegen die Arbeit des Forums unterstütze. Sie bestätigt den Befund: Die deutsche Sprache sei so gut wie verloren, selbst die Oma habe gebrochen Schwäbisch gesprochen. Eins muss man aber sagen: Alle Gesprächspartner sprechen ein „reines”, akzent- und sprachfärbungsfreies Hochungarisch, eigentlich in dieser Form sehr selten im Kreise von Ungarischsprachigen in den Nachbarländern. Kazinczys Széphalom ist doch nicht so weit entfernt. Die Frau steht vor ihrem schönen Gemüsegarten, so drängt sich die Frage auf, was man hier neben Landwirtschaft noch machen könnte. Sie erzählt von den Fabriken, an denen wir vorbeigefahren sind. Aber dennoch sei die Abwanderung (bei moderater Zuwanderung) auch für Schinal charakteristisch, was auch die Zahl der Schulkinder beeinflusse. „Wir kommen nur noch auf 10-15 Kinder pro Jahrgang, manche Jahrgänge müssen auch doppelt gesteckt werden”, das erzählt bereits eine andere Frau um 60, die ihr Enkelkind aus Ungarn vor sich herschiebt – es ist die Zeit der großen Verwandtschaftsbesuche. Sie kenne sich als Lehrerin der Josef-Tempfli-Grundschule aus – wie die Bildungseinrichtung heißt, benannt nach dem Sohn der Gemeinde, Altbischof Josef Tempfli. Es gebe nur noch den ungarischen Zweig, der rumänische existiere hingegen nicht mehr. Früher habe man Deutsch unterrichtet, aber nachdem man Schwierigkeiten hatte, Deutschpädagogen zu finden, habe man Englisch als Fremdsprache angeboten.
Es gibt ein Dorf in der Gegend um Großkarol, das von vielen Gesprächspartnern als Musterdorf genannt wird, was Identität und Erhalt der schwäbischen Muttersprache anbelangt: Das Sackgassendorf Beschened/Dindeștiu Mic/Kisdengeled, unweit von Petrifeld. Auch Wikipedia präsentiert das Dorf als eines, das die ganze Zeit seine deutsche Bevölkerungsmehrheit bewahren konnte:1977 stellten die Schwaben noch Zweidrittel der Bevölkerung, heute schätzen Dorfbewohner deren Bevölkerungsanteil auf etwa 50 %. Wesentlich pessimistischer ist ein Mann Anfang 40, den ich im Dorfladen treffe. Im Hintergrund läuft ungarisches Fernsehen und auch die Verkäuferinnen reagieren verblüfft auf das deutsche Wort. Wir setzen deshalb das Gespräch auf Ungarisch fort, auch mit dem zuvor genannten Mann. „Im Altenheim leben mittlerweile mehr Schwaben als in den Häusern. In Deutschland leben mittlerweile 300 Bescheneder, hier etwas über 200”, sagt er. Und tatsächlich bestätigen die Zahlen die allmähliche Entvölkerung: Die jüngste verfügbare Bevölkerungszahl von 2011 spricht von 257 Bewohnern. Das Dorf wird an diesem Augusttag von Fahrzeugen mit deutschen Kennzeichen bevölkert – fast ausnahmslos aus den südlichen Bundesländern. Mit einigen Besuchern komme ich auch ins Gespräch, beispielsweise mit zwei Mädels, die die Hauptstraße herunterlaufen, mit einem Mann mittleren Alters – eigentlich Siebenbürger Sachse, aber verheiratet mit einer Sathmarer Schwäbin – und einer Frau, deren Mann aus Beschened stammt (mit dem sie zu Hause „Schwäbisch” spreche): Wenn sie da sind, holen sie die Schwiegermutter aus dem Heim, um in der alten Heimat einige Wochen zu verbringen. Die Frau selbst stammt aus einem deutschen Dorf im Maramuresch und wanderte mit anderen Bewohnern kurz vor der Revolution nach Deutschland aus. Dieses Schicksal ereilte auch Beschened und sie erzählt, in welchen Häusern noch Alteingesessene wohnen – viele sind es nicht.
Über interessante Bevölkerungsbewegungen weiß ein Sathmarer Schwabe auf der ungarischen Seite der Grenze zu erzählen. Wir sind nun in Wallei/Vállaj – also neben Merken/Mérk in einem der beiden sathmarschwäbischen Dörfer, die bei der Grenzziehung bei Ungarn blieben. Der Mann mittleren Alters, mit dem ich mich ungarisch unterhalte, stammt aus der Nähe von Großkarol und zählt munter die Namen in seiner Familie auf: ausnahmslos deutsche Namen. Deutsch habe nur die Großmutter der Frau gekonnt, aber im Alter habe selbst sie vieles vergessen. Nicht anders gestalte es sich in Wallei: Die Sprache ist nach seinen Angaben auch hier verschwunden, dennoch habe man eine deutsche Selbstverwaltung, fügt er hinzu. An die deutsche Vergangenheit erinnert hier wenig, nicht einmal das Ortsschild ist zweisprachig. Die Grundstücke sind großzügig geschnitten, das Dorfbild macht einen sehr aufgeräumten Eindruck – gerade im Vergleich zur rumänischen Seite: Das waren wohl die Gründe, warum sich die Familie aus Rumänien vor zehn Jahren für Wallei entschied – nicht zuletzt auch dank der wesentlich günstigeren Preise auf der ungarischen Seite, auch wenn diese in letzter Zeit angezogen hätten. Ihrem Beispiel folgten auch andere, die zum Teil weiterhin in Rumänien arbeiteten, so der Mann. Die Ungarn hingegen würden kaum pendeln, unter anderem wegen der Sprachschwierigkeiten. Arbeit finde man nach seinem Eindruck ohnehin auf beiden Seiten in den großen Fabriken. Aber trotzdem suchten viele ihr Glück im Ausland.
Ein junger Mann mit Roma-Herkunft nähert sich, ich spreche ihn an. Er bestätigt, dass es zwar noch viele Deutschstämmige gebe, aber dass die Sprache kaum noch präsent sei. Dennoch sei es ein „deutsches Nationalitätendorf”, auch die Schule sei eine Nationalitätenschule mit „sechs Deutschstunden pro Woche”. Von der Anwesenheit der rumänischen Staatsbürger habe er auch Notiz genommen, dennoch gehöre das mittlerweile zum Alltag.