Von Robert Becker
Einer der Begriffe, durch den sich Ungarndeutsche gerne charakterisiert und beschrieben wissen, ist das Wort: „tüchtig“. Diese Tüchtigkeit ist leistungsorientiert, denn Minderheiten haben von ihrer Natur aus den Drang, auch über ihre Kräfte hinaus sich zu beweisen und es allen zu zeigen, dass sie auch im Vergleich noch standhalten. Nun, ich denke – so man Vergangenheit und Gegenwart in Betracht zieht – brauchen wir auch keinen Vergleich zu scheuen, denn wir haben stets geleistet, was wir nur konnten. Daraus entsprießt bei uns die Quelle unseres berechtigten Stolzes, den wir – da wir auch noch bescheiden sind – in der Regel gerne – hinter ein etwas verlegenes Lächeln versteckt – offenbaren.
Ja, in allem tüchtig zu sein, ist eine Maxime, die als Anspruch nicht so leicht aufgegeben werden kann, denn da geht es scheinbar um eine Gesinnung bis zum letzten Mann oder zur letzten Frau. Bereits vor Jahrzehnten hat auch Valeria Koch – unser „Fixstern am ungarndeutschen Literaturhimmel“, wie sie der Germanist, János Szabó zu Recht bezeichnete – von unserer Tüchtigkeit geschrieben, indem sie in einem ihrer Gedichte bereits im Jahr 1987 festhielt, dass es das Maß der Ungarndeutschen sei, auf diese Art auszusterben („Ungarndeutsch/ist das Maß/des tüchtigen Aussterbens“).
Nach etwas Zögern dabei – denn Worte dringen oft nur langsam bis zu ihrem Aktionswert durch, bis sie endlich verinnerlicht werden – scheint sich das Programm nun doch in die Wirklichkeit umzusetzen. Soll man es halt akzeptieren, was sich aus der letzten Volkszählung von 2022 über unser Schrumpfen herauslesen lässt. In etwa zehn Jahren eine so hohe Zahl von Seelen zu verlieren, die sich selbst dazu bekennen, zu sein, wer sie sind, ist eine wahre, eine bereits schon „tüchtige“ Leistung. Die Leistung ist: die Idee von Abstammung, Muttersprache und die Kohäsion der Gemeinschaft in diesem Eiltempo aufzugeben. Soll das eine Tendenz sein, ist sie jedenfalls viel schneller als das, was unser natürliches Altern in seiner Dynamik prognostizieren oder statistisch vorauszusagen zulassen würde. Dieses Ergebnis hat sich – jedenfalls in meinen Augen – bezüglich dieser Volkszählung nicht in diesem Ausmaß angekündigt.
Sehr erstaunt bin ich trotzdem nicht, nur überrascht. Enttäuscht zu sein, wäre auch kein Ausdruck, den man für diese Erscheinung für sich reservieren sollte. Es ist halt so, dass Früchte heranreifen, selbst wenn sie toxisch sind. Ja, selbst das Tüchtig-Sein kann allem Anschein nach Gift in sich tragen, das eines Tages zu wirken beginnt. Ansonsten besteht noch eine gewisse Chance dafür, dass es hinter der Absage an seine Nationalität bei der Volkszählung noch andere Gründe eines Vorbehalts stecken können. Man muss ja auch nicht gleich davon ausgehen, dass der Atheismus nach sonstiger Erkenntnis in diesem Maße um sich gegriffen hätte. wenn aus der Statistik eine Million gläubige Christen verschwunden sind. In Erscheinung tretende Tendenzen können aber trotzdem ihren Signalwert besitzen, den es sich lohnt, für alle Fälle richtig zu deuten.
Gute Ärzte gab es unter uns leider nicht rechtzeitig, die ein Mittel dagegen gefunden hätten, jetzt noch wenigstens vor uns selbst doch etwas besser da zustehen. Vielleicht ist es ihnen gar nicht bewusst geworden, dass unter uns Patienten das gesunde Aussehen, die roten Wangen, die spielenden Muskeln, das tüchtige Erscheinen – nur noch eine Fassade waren, die rapide bröckelt, seitdem der innere Halt der Gesinnung sich in scheinbar rasantem Tempo verflüchtigt.
Doch Valeria Koch hat es in ihrer künstlerischen Sensibilität erahnt, was im Kommen ist. Nur diejenigen, an die ihre Worte eigentlich als Warnung gerichtet waren, haben es verkannt, was Kunst ist und dass sie nicht nur eine Kategorie der Ästhetik darstellt, sondern – in diesem Fall sehr kurz und sehr bündig – Inhalte in den Mittelpunkt stellt. Eigentlich eine tüchtige Leistung! Viel bequemer ist es aber gewesen, Floskeln in die Sphären fliegen zu lassen, als sich aufzuraffen und in aller Tüchtigkeit – ehrlich und offen, alle erfassend – zu tun, was man kann, um einen Kern noch auffindig zu machen, der bei guten Bedingungen nicht nur keimen, sondern wachsen und eines Tages gesunde Früchte tragen kann.
Der Weg zu solchen Ergebnissen – wie diese Volkszählung – wurde selber geebnet. Wie? In aller Gleichgültigkeit, die in eine Zukunft nur in die Entfernung der eigenen Vorteile blickt, nicht nach Mitwirkenden sucht, sondern vielmehr nach der Herausbildung einer Klientel trachtet, um hinter einer Fassade, die nun bereits stark am Bröckeln ist, bequem danach zu suchen, einen günstigen Anschein als Hologramm aufrechtzuerhalten! Nur eine Apparatur ohne Basis hat nicht einmal so lange Bestand, wie es die eigens vermutete Geschicklichkeit gesichert denkt.
Unser Dasein scheint eine Zeitfrage geworden zu sein. Wo sollen wir jetzt noch herkommen? Aus den Schulen? Sicher nicht! Eine Sprachkenntnis, die einigermaßen in Ordnung ist – vielleicht! Die Identität ist aber jene Gesamtkohäsion, die einen darin stärkt, eine wahre Gemeinschaft zu bilden. Sie gammelt nicht nur herum und lässt sich durch Reste einer überholten Vergangenheit abfüttern, die sich durch Volkstanz, nachempfundene Trachten und durch den Schnaps beim Schweineschlachten unter Beweis stellen soll. Die wahre Gemeinschaft stellt sich durch ein aktuelles Dasein dar – durch die aktive und aktuelle Prägung einer eigenen Zukunft in unserer Zeit, in der wir leben, die uns vereint und tüchtig sprießen lässt.
Die Basis bricht weg, alleine die Spitze bleibt noch schweben. Das geschieht in einem Vakuum, von künstlichem Aufwind eines konsensuellen Stillschweigens beteiligter interessierter Förderer ermöglicht und getragen, ohne das die Gravitation gegebener Tatsachen wohl augenblicklich bereits eine trostlose Realität zur aktuellen Wirklichkeit auftürmen ließe. Was das auf die Dauer bringt? Die Frage aber anders gestellt: Hält man sich eine Dauer noch überhaupt vor Augen? Für noch zwei Volkszählungen in der Zukunft vielleicht? Dann kann es in Kauf genommen werden und geschehen, das noch so „tüchtige Aussterben“?
Zu seiner Geschichte muss man sich mitzählen, sich anhand dieser in der Welt identifizieren zu können. Die tüchtige Fähigkeit des Vergessens, damit man so sich selbst nichts vorwirft, wie man (aus einer falschen Höflichkeit) auch anderen weder etwas vorzuhalten noch vorzuwerfen trachtet, ist falsch. Man muss sich nämlich über sich selbst in allem im Klaren sein, damit man sich nicht gegenstandslos ohne wahren Zusammenhang neu erfinden muss, sondern eine Geschichte als handfesten Kanon in sich trägt, mit dem man sich in seiner Gemeinschaft in Freude, aber auch in Leid und Not definiert – und das nicht als Nostalgie – sondern möglichst unverschönert.
Wenn man sich selbst in seinem historischen Bewusstsein erlebt, hat man auch Bestand. Wird man entlang von Erwartungen, von außen her definiert, geht man es ein, nie und nimmer klares Wasser ins Glas zu gießen, so geht man noch schneller unter, als man denkt. Als Gemeinschaft kann man gegenseitig nützliche Kompromisse eingehen, nicht aber aus einer aktuell als nutzbringend erscheinenden, gesinnungslosen Bequemlichkeit ohne Weitsicht und einen Glauben an eine möglichen Zukunft. Es wäre für die Volksgruppe verderblich, sich bedingungslos und in einen Einheitsbrei einschmieren lassen.
Wir betreiben Nationalitätenpolitik, eigentlich auch noch ohne Grundkonsens. Politik hat wahrlich selbst mit der Kulturpflege nur indirekt etwas zu tun, sondern sieht als ihren Sinn die Interessenvertretung und die Suche nach Möglichkeiten, die den Weg zu den Mitteln begründen und eröffnen. Gibt es keine Basis, bleiben nur Eigeninteressen. Der Mensch, der zu erfassen wäre, lebt in seinem Alltag, in dem man ihn längst hätte finden und erfassen müssen, indem man ihm wahre Alternativen eröffnet, der Gemeinschaft der Deutschen in Ungarn anzugehören – auch ohne, dass es dafür zu beantragende Bewerbungen und Sonderprogramme gibt. Die Atmosphäre – die Mode dessen – hätte geschaffen werden sollen, es offen zu zeigen, dass man seine Identität, die die Gemeinschaft sucht, in sich selbst und in seiner Familie lebt – nicht von außen her dazu gedrungen, sondern bewahrt in einer natürlich vorhandenen Initiative.
Einklang? Unsere Grenze kann weder in der Ausgrenzung noch in der Unbestimmtheit liegen. Wir müssen uns auf einer breiten Palette als Gemeinschaft deklarieren und definieren, die die Kultur erfasst, die Sprache fördert wie sie auch ihren Anspruch auf ein gemeinsames historisches Bewusstsein voraussetzt. Sonst nimmt unsere Gemeinschaft aber in unserer Zeit – in der Gegenwart – moderne Daseinsformen bis zur traditionellsten Existenz in einer Selbstverständlichkeit wahr und erlaubt diese.
Von einer Erwartungshaltung sei man bezüglich einer aktualpolitischen Ausrichtung – in welche Richtung auch immer – gründlich gereinigt. Auch konservative Art soll und kann pluralistisch sein, dazu fähig, von seiner Meinung abweichende Ideen zu dulden. Unsere vorrangige Identifikation soll unser Empfinden für unsere Gemeinschaft als Deutsche in Ungarn sein. Auf dieser Ebene soll sich unser Zusammenhalt, unsere Solidarität und unsere gegenseitige Unterstützung nicht nur zeigen, sondern gar unter Beweis stellen. Die verschiedenen Werte sollen einander nicht ausschließen, sondern die Gemeinschaft auszeichnen und fördern – sie als eine Einheit in ihrer Vielgestaltigkeit ausweisen.
Es ist jedenfalls gewiss, dass dann, wenn etwas von unten her kommt, wenn Initiativen entstehen, sich melden, es auch unerwartet auftauchende Konkurrenz geben kann. Es tauchen etwaige Gegenmeinungen auf, die dazu zwingen können, sich zu behaupten oder auch seine Standpunkte zu revidieren, so sich selbst auch zu entwickeln und zu neuen Einsichten zu gelangen. Nicht die ewige Windstille, sondern manchmal auch Sturm, tüchtige Aufruhr! Na und? Sich an Ansprüchen messen zu müssen (und zwar nicht nur an den eigenen), entfacht ungeahnte Kräfte, erbringt neue Ideen. Keinen Fortschritt hingegen gibt es beim ständig versuchten Konservieren von bekannten – so bereits bequem gewordenen – Zuständen. Eine sich in der Zeit stets reformierende, fortlebende und fortbestehende Zukunft einer Volksgruppe! Was bräuchte man noch mehr? Ist das als Vorhaben nicht tüchtig?