Ein Siebenbürger Lebensweg

Im Gespräch mit dem Wissenschaftler Franz-Wilhelm Wanek aus Klausenburg

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SB: Ich habe in Ihrem Lebenslauf gelesen, dass Sie offiziell Franz-Wilhelm Wanek heißen – wie wurde aus dem Heltauer „Sachsenburschen” ein Siebenbürger madjarischer Wissenschaftler?

FW: Mein Großvater mütterlicherseits war ein Deutscher aus Schlesien, Anton Tonk. Er fand in Großwardein/Oradea eine madjarische Lebenspartnerin und die Kinder aus der Ehe – bis auf das älteste – wurden ausschließlich in madjarischen Schulen und im madjarischen Kulturkreis sozialisiert und schlossen mit Madjaren Ehen. Alleine meine Mutter, Caroline Tonk, heiratete einen Sachsen aus dem südsiebenbürgischen Heltau/Cisnădie namens Franz-Traugott Wanek. So begann es, dass mein Bruder, Peter-Franz Wanek und ich mit deutscher Muttersprache und im deutschen Kulturkreis aufwuchsen. Jedoch haben die politischen Folgen des Zweiten Weltkriegs dazwischengefunkt. Am 23. August 1944 leitete die rumänische Diplomatie eine Kehrtwende ein, trat aus dem Bündnis mit Deutschland aus und stellte sich auf die Seite der Sowjetunion. In dieser Zeit arbeitete mein Vater in Südrumänien bei Ölbohrungen bei Ploieşti. Als er eines seiner Geschwister im Banat besucht hatte und wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte – zwei Tage nach dem Seitenwechsel – wurde er wegen seiner deutschen Herkunft als Feind betrachtet und erschossen. Meine Mutter hielt sich zu dieser Zeit in Heltau auf. Nach der Ankunft der Sowjets wurden die Deutschen zwischen 18 und 45 Jahren zur Malenkij Robot verschleppt – so auch ein Großteil meiner dortigen Verwandtschaft. Meine Mutter blieb ohne Stütze – krank, mit zwei Kindern. So war sie auf die Unterstützung ihrer zwei Geschwister angewiesen, die im Haus der Familie in Großwardein lebten. 1945 zogen wir nach Großwardein. Es war auch dort nicht ratsam, sich als Deutsche zu bekennen – für eine lange Zeit. In der Stadt gab es auch keine deutschen Schulen, so sind wir in ungarischen Schulen und im madjarischen Umfeld aufgewachsen, während wir sehr unter dem Verlust meines Vaters litten.

SB: Der Name „Wanek“ deutet auf slawische, tschechische Herkunft hin. Wenn wir das mit dem Ingenieursberuf Ihres Vaters zusammen  sehen, dann drängt sich der Verdacht auf, dass der väterliche Zweig eigentlich gar nicht waschechte Sachsen beherbergt, sondern Einwanderer aus Böhmen und Mähren (damals Teil des Habsburgerreiches bzw. der Doppelmonarchie), die sich irgendwann in Siebenbürgen bzw. auf dem Königsboden niedergelassen haben. Irrt man sich dabei?

FW: Nein, das ist Fakt! Für die Protestanten in Böhmen waren die Zeitumstände im 18. Jahrhundert wenig günstig. Man suchte Zuflucht im Großfürstentum Siebenbürgen, das für seine religiöse Toleranz berühmt war. Die tschechischen Wanek-Urahnen waren bereits – wie meine in die BRD ausgewanderten Verwandten überprüft haben – Mitglieder in der deutschen evangelischen Gemeinde und schrieben ihren Namen nicht „Vaňek“, sondern mit W – entsprechend der deutschen Orthografie. Und dann in Siebenbürgen vielfach mit Sachsen verheiratet verlor sich die tschechische Blutsabstammung. Aber auch das ist meins. Auch auf der anderen Linie habe ich einen Tropfen slawischen Bluts.

SB: Sie haben bereits in Großwardein Ihr Abitur abgelegt – inwiefern waren das Sächsische und die deutsche Sprache in der Familie präsent und inwiefern bestanden Verbindungen zur Kleinstadt Heltau?

FW: In Großwardein hatten wir kaum Gelegenheit, deutsch zu sprechen oder deutsches Wort zu hören. Mein Bruder, der zuerst die deutsche Sprache erlernt hat, vermischte lange beide Sprachen. Unsere Mutter sprach selten Deutsch mit uns. Früher fuhren wir öfters zur zahlreichen Verwandtschaft von Onkel Karl in Heltau, ich erinnere mich noch an die lange, nächtliche Zugfahrt, aber böse rumänische Mitbürger brachten ihn mit falschen Anschuldigungen ins Gefängnis, während der Familie alles weggenommen wurde, so dass sie in ihrem Haus in ein Zimmer und eine gemeinsame Küche eingepfercht wurde. So gab es nicht einmal genug Platz, um sich dort aufhalten zu können, ganz zu schweigen von der Armut, unter der sie litten. Erneut ging es erst als Heranwachsender nach Heltau (in dem einen Jahr konnte mein Bruder, im anderen ich einige Wochen bei den Verwandten verbringen). In der Schule haben wir Deutsch als Fremdsprache gewählt – wegen der Erleichterung, da wir immer sehr gut darin waren. Eine betagte Großwardeiner katholische Nonne, Klara Scholz, beschäftigte sich mit uns, um die deutschen Sprachkenntnisse zu vertiefen.

Heltau erscheint vor meinen geistigen Augen auch noch in den 1950ern als eine ruhige, deutsche bürgerliche Stadt, wo der damals bereits betagte Onkel (ehemals Inhaber einer Bäckerei mit gutem Ruf), der aus den politischen Gefängnissen entlassen wurde, anerkanntes Mitglied der sächsischen Gemeinschaft war. Übrigens war er ein strenger und pflichtbewusster Mensch – ein richtiges Arbeitstier – der als richtiger Siebenbürger alle drei heimischen Sprachen beherrschte: Deutsch, Rumänisch und Ungarisch. Er erwies damit jedem die Ehre, wie es ihm gebührte. Dann Anfang der 1960er Jahre machte sich die sozialistische Industriepolitik bemerkbar – damit im Zusammenhang die Einwanderung – und in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts setzte sich die Ausreisewelle der sächsischen Bevölkerung in die Bundesrepublik in Gang. Alle meine Verwandten verließen den Ort. Ein gutes halbes Jahrhundert besuchte ich es nicht mehr. Heute ist es nicht wiederzuerkennen. Unabhängig davon ist die emotionale Bindung immer noch sehr eng.

SB: Großwardein war bis in die 1960er Jahre eine Stadt mit überwiegend madjarischer Bevölkerung und einer mehrere tausend Menschen starken jüdischen Gemeinde – was haben Sie als Kind und als Jugendlicher von all dem mitbekommen?

FW: Bezeichnenderweise waren in dem Hof, wo wir wohnten, alle irgendwie deutscher Herkunft, trugen deutsche Namen, aber hatten ein madjarisches Selbstbewusstsein. Das hat bei mir Fragen aufgeworfen und ich musste soweit reifen, um diese doppelten Wurzeln aufzuarbeiten und dazu zu stehen. Seitdem bin ich emotional damit verbunden.

Großwardein meiner Kindheit war ganz anders. Man konnte fast ausschließlich ungarisches Wort hören. Auch das dort ansässige Judentum war sehr stark mit dem Madjarentum verbunden, aber damals in den Fünfzigern glaubten sie stärker an den Kommunismus, dann wanderten fast alle Juden nach Israel aus. Mit der Industrialisierung haben die Rumänen, die in die Stadt zogen, bis heute die Überhand gewonnen. Ich, der ziemlich früh dort weg kam, fühle mich auch dort mittlerweile fremd.

SB: Ihre (schulische) Karriere begann als Kunstlehrer, aber nahm schnell eine Wendung zur Geologie – was war der Grund dafür?

FW: Lange Zeit war das auch für mich ein höchst sensibles Thema. Als Grundschulkind fühlte ich mich – wohl als väterliches Erbe – sehr von der Natur angezogen: Ich wollte Botaniker werden. Aber auch die Künste zogen mich magisch an, so dass ich mich auf Veranlassung meiner Mutter an einer Volkskunstschule mit Nachmittagsunterricht bewarb. Hier traf ich auf ausgezeichnete Lehrer, die mir geraten haben, auf eine Kunsthochschule zu wechseln. Es würde viel Zeit in Anspruch nehmen zu erzählen, welche Misserfolge ich – völlig zu Unrecht – erleben musste. Fakt ist, dass ich fernab von Wünschen und vielleicht auch von Talent lediglich eine Hochschule für Kunstpädagogik absolvieren durfte. Danach arbeitete ich in einem Grenzort mit madjarischer Bevölkerungsmehrheit namens Diosig/Bihardiószeg, wo ich im Dickicht der Intoleranz gegenüber Nationalitäten eine Reihe von Konflikten erleben musste. Das konnte ich nicht ertragen. Dazu gesellte sich eine Art Lebenskrise: Ich war mir sehr unsicher, ob ich mich zu einem vollwertigen Künstler entwickeln könnte. Womöglich habe ich die Latte zu hoch gelegt. Aber ich wollte mein Leben nicht als halber Mensch verdingen – zumal unter der aussichtslosen Last der Nationalitätenkonflikte. Es gab ein Jahr, 1968, als Ceauşescu den Begriff des vielseitig gebildeten sozialistischen Menschen in Umlauf brachte, was eine vielseitige Qualifizierung voraussetzte. Das war übrigens das Jahr, als in der Schulbildung die Umstellung von 11 auf 12 Schuljahre endete und es deshalb keinen Abiturjahrgang gab. Da hat man es jedem erlaubt, ein Zweitstudium zu absolvieren. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um wieder zur Naturkunde zurückzukehren, aber auf gar keinen Fall zu Botanik bzw. Biologie, denn der Weg hätte mich wieder in die Schule geführt. Ich wollte einen solchen Beruf wählen, der mir den Weg in die Grundschule versperrte. So entschied ich mich für Geologie.

SB: Das Studium führte sie nach Klausenburg/Cluj(-Napoca) und zwar in der frühen Phase der Ceauşescu-Ära, als ähnlich wie in Großwardein die Ansiedlung und Einwanderung von Rumänen in großer Zahl begann. Wie haben Sie das Klausenburg der späten Sechziger und frühen Siebziger erlebt?

FW: Nun, ich habe sehr bewusst erlebt, dass ich viel länger Student sein durfte als andere. Obwohl es an keiner Uni einfach war, musste ich mich selbst ernähren, da unsere Familie nicht die Mittel dazu hatte. Aber es gab auch Gründe dafür, diese Zeit mit Unbehagen bzw. Angst zu erleben – vor allem die ersten Jahre, da die Geheimpolizei Securitate mich auf perfide Art erpresste, mit ihr als Spitzel zusammenzuarbeiten. Auf göttliche Eingebung entgegnete ich, dass ich das nie tun könnte, da ich Schlafwandler bin und nachts rede. Lange Zeit wollten sie dem keinen Glauben schenken und wussten, dass sie am längeren Hebel sitzen, so dass sie mir lange auf die Pelle rückten. Es war eine erbärmliche Zeit, aber mit der politischen Entspannung 1964 konnte ich den Druck loswerden, obwohl mich die Ängste und auch die Angst vor ihnen bis Dezember 1989 begleiteten. Aber die Studienjahre hatten auch ein anderes Gesicht. Ich konnte mich schnell in die madjarischen und sächsischen Kreise integrieren, mit denen ich gemeinsame Ausflüge und Konzertbesuche machte. Damals gab es noch eine gewisse Tradition des deutschen Bürgertums des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, wenngleich madjarisiert, aber dennoch mit einem Hauch sächsischen Selbstbewusstseins. Vielleicht fühlte ich mich in ihrem Kreise befreit bzw. am befreitesten.

In den ersten Studienjahren war Klausenburg noch mehrheitlich madjarisch, jeder sprach Ungarisch. Bis zur zweiten Phase des Studiums nahm der Anteil der Sachsen spürbar ab, trotzdem war er es noch eine starke Gemeinschaft. Der große Umbruch fand in den letzten Jahren meiner Studienjahre statt, Anfang der Siebziger, als neben der forcierten Industrialisierung der Stadt mit dem Bau eines neuen Stadtviertels namens Abtsdorf/Cluj-Mănăștur begonnen wurde, wo sich 120.000 Einwanderer vornehmlich von jenseits der Karpaten niederließen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung der Stadt von damals! Als ich mit dem Studium fertig wurde, erwartete mich eine andere Welt.

SB: Den Großteil Ihres Lebens, Ihrer beruflichen Karriere verbrachten Sie als Forscher der Uni Klausenburg – inwiefern ist es anders als Minderheitenangehöriger zu forschen als einer, der der Mehrheitsbevölkerung angehört?

FW: Dadurch, dass ich in Geologie Jahrgangsbester war, eröffnete sich für mich die Chance, in Klausenburg zu bleiben. Damals galt eine landesweite Rangordnung nach den Studien- und Staatsexamensnoten und so wurde einem eine Stelle zugewiesen. Ich kam an einen Betrieb, der Mineralienrohstoffe erforschte und förderte, der in mehreren Komitaten aktiv war und seinen Sitz in Klausenburg hatte. Ich hatte mich mit geologischer Kartierung beschäftigt, zuerst im westlichen Teil des Bihar-Gebirges, dann im Rodna-Gebirge (offiziell, oder Rodnaer Alpen in der siebenbürgisch-sächsischen Literatur). Ich musste lernen, dass der Minderheitenangehörige selbst in diesem Beruf in der Position des Schwächeren ist, vor allem dann, wenn er keine Bereitschaft zeigt, auf dieses Zugehörigkeitsgefühl zu verzichten. Auch hier erhielt ich reichlich Ohrfeigen, so dass ich mich letzten Endes dafür entscheiden musste, dieses Institut zu verlassen. Als ich meine Lage einem ehemaligen, recht ehrenwerten Universitätsdozenten schilderte, wies der darauf hin, dass in der Fakultät, die ich zuvor absolviert hatte, in einer Forschungsgruppe eine Position frei wurde – in meinem Interessensgebiet, Mikropaläontologie, um die ich mich dann bewerben sollte. Ich möchte betonen, dass der genannte Dozent, Octav Clichici, rumänischer Nationalität war und mir in der Studienzeit und später als Doktorvater bis zu seinem Tode beistand, denn bei ihm zählte die Herkunft nicht. Aber auch an der Uni war das Minderheitendasein nicht ruhmreicher; die Auseinandersetzungen in Fachkreisen und das Bemühen um das Abrechnen mit Konkurrenten kamen noch hinzu, aber es ist besser, darauf erst gar nicht einzugehen.

Die Erniedrigungen endeten so – bereits im neuen System -, dass ich auch „aus freien Stücken” ging. Beim Rumänischen Geologischen Institut fand ich eine Anstellung unter würdigen Umständen, aber nach kurzer Zeit musste ich es auch verlassen, da es Konkurs anmeldete und von 300 nur 30 Geologen blieben. Der Lehrstuhl für Geologie der Babeş–Bolyai-Universität, der sich mir gegenüber sehr feindlich verhalten hatte, musste mich zurückrufen. Ich arbeitete aber lediglich als einer mit einem Lehrauftrag, als externer Mitarbeiter, da man 1997 – dem EU-Beitritt zuliebe – zugestimmt hatte, Geologie auf Ungarisch zu unterrichten. Es gab aber keinen geeigneten Fachmann, der das Fach auf Ungarisch hätte unterrichten können, da der Lehrstuhl 40 Jahre lang keinen einzigen ungarischsprachigen Dozenten eingestellt hatte. Damals war ich einziger rumänienmadjarischer Dozent für Geologie und Paläontologie an der ungarischsprachigen universitären Fachausbildung – mit Gastdozenten aus Ungarn und einem ehemaligen Lehrer von mir, der längst pensioniert war. Aber ich war weiterhin ein Splitter in der Haut, da ich eine selbstständige madjarische Universität in staatlicher Trägerschaft wollte. So kam ich letzten Endes – mit einem bitteren Beigeschmack – an die Siebenbürgisch-Madjarische Universität „Sapientia” und blieb dort bis zu meiner Pensionierung.

SB: Die Babeş–Bolyai-Universität geriet nach der Wende so richtig in den Blickwinkel der Öffentlichkeit des Mutterlandes, vor allem im Kontext des muttersprachlichen Hochschulwesens. Inwiefern konnte diese Uni eine bi- bzw. multilinguale im Herzen Siebenbürgens bleiben? Beziehungsweise welche Veränderungen brachte die Gründung der „Sapientia” im Jahre 2000?

FW: Ich muss sagen, dass die Wurzeln tiefer liegen. Bereits vor dem Friedensdiktat von Trianon hatte die rumänische Besatzungsmacht mit militärischer Gewalt die Klausenburger ungarische Universität vertrieben (deren 150. Gründungsjubiläum letztes Jahr begangen wurde). Von da an bis 1940 gab es keine ungarischsprachige universitäre Bildung in Siebenbürgen. Dann kehrte nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch die nach Segedin vertriebene Franz-Josef-Universität für fünf Jahre zurück. Aber 1945 bekam die rumänische Universität die 1919 konfiszierte Uni zurück – mit all der Ausrüstung. Vor dem Abschluss des Pariser Friedensvertrages schuf der rumänische König – als Zeichen des guten Willens den Minderheiten gegenüber – eine neue madjarische Universität, die im Nachhinein den Namen Bolyai erhielt. Und dann im Moment der Retorsion nach der Revolution von 1956 wurde die Universität mit einer ministeriellen Verordnung (was rechtlich unter der Gründungsverordnung stand) aufgelöst, so dass sie bei Beibehaltung des Namens 1959 von der rumänischen Uni einverleibt wurde und der ungarischsprachige Unterricht kontinuierlich und drastisch abgebaut wurde (beispielsweise wurde zwischen 1959 und 1997 kein einziges Fach in der Abteilung Geologie auf Ungarisch gelehrt). Deswegen formierte sich bereits im Dezember 1989 eine Bewegung für die Wiederherstellung der Bolyai-Universität. Dieser schloss ich mich sofort an, denn ich habe zu mir gesagt, wenn man mir die eine Hand (die deutsche) – durch den Verkauf der Sachsen und Schwaben – bereits abgeschnitten hat, so lasse ich die andere (die madjarische) nicht abschneiden. Denn ich bin davon überzeugt, dass langfristig die Schlüsselfrage des Fortbestands einer Nationalität ist, ob sie eine starke, selbstbewusste Akademikerschaft hat, was die Existenz einer eigenständigen Universität – die stark genug ist – voraussetzt. Die Bolyai-Gesellschaft wurde gegründet, deren Gründungsmitglied, dann Sekretär (1990-1994), Vizepräsident (1994-1996) und Präsident (1999-2004) ich war. Das war Grund Nummer 1, dass ich zum Teufel des Lehrstuhls für Geologie wurde. Ziel unserer Gesellschaft war es, einen fachlichen Beirat für die politische Vertretung der hiesigen Madjaren – die UMDR (RMDSZ) – in Universitätsfragen zu bieten (da eine staatliche Universitätsgründung – gerade eine für die Minderheit – immer eine Frage des politischen Willens ist). Aber dieser UMDR hielt die Universitätsfrage nie für eine Priorität, lediglich Lippenbekenntnisse waren zu vernehmen. Aber mehr noch: Der ganzen rumänischen Politik kam die Gründung der Sapientia gelegen, die mit Hilfe aus dem Mutterland ins Leben gerufen wurde. So wurde die Sache abgehakt. Das war keinesfalls mein Traum, denn wir sind Steuerzahler des rumänischen Staates und uns stünde die staatliche Förderung im Hochschulwesen gemäß unserem Anteil zu. Und das ist in der jetzigen Konstellation keinesfalls gegeben, weil rein rechnerisch die siebenbürgisch-madjarische Minderheit unterqualifiziert ist. Deswegen habe ich früher gesagt, dass ich mit bitterem Beigeschmack an die Sapientia ging, denn deren Gründung war der Misserfolg unserer Gründungspläne.

Die Lage sieht jetzt folgendermaßen aus: Auf 18 Millionen Rumänischsprachige entfallen 50 staatliche und genauso viele Stiftungs- und private Universitäten, während die 1 Million starke madjarische Minderheit über drei staatliche „multikulturelle” Universitäten verfügt, d. h. mit Rumänen zusammen (neben der Klausenburger eine Uni für Schauspielkunst und eine für Medizin in Neumarkt am Mieresch/Târgu Mureș), an denen der ungarischsprachige Zweig eine untergeordnete Rolle spielt und nur wenig Mitspracherechte genießt. Beispielsweise sind die meisten madjarischen Institute an der Babeş–Bolyai-Universität, die sich in der besten Situation befindet, wirtschaftlich nicht unabhängig; der Haushalt wird nach dem Mehrheitsprinzip, von den Rumänen geplant. Aber auch Personalmanagement und Fragen von Beförderungen liegen in ihren Händen. Deswegen ist es beispielsweise so, dass das rumänische Geologische Institut – eigentlich unverhältnismäßig – deutlich mehr und höher eingestufte Dozenten hat als das madjarische Schwesterinstitut, das über unwesentlich weniger Studenten verfügt. Auch jetzt – 25 Jahre nach der Gründung! Neben diesen drei Unis gibt es noch zwei Stiftungsuniversitäten – aus ungarischen Geldern unterhalten. Dies entspricht weder den Anforderungen des Nachwuchses noch den Erfordernissen einer fairen staatlichen Förderung. Aber klar, die Situation ist wesentlich besser als zur Zeit des Sozialismus.

SB: Mit meiner Frau war ich letzten Sommer in Klausenburg. Die Veränderungen seit meinem letzten Besuch im Jahre 1994, damals unter Bürgermeister Gheorghe Funar, sind augenscheinlich. Die Stadt zeigt das Bild einer modernen, europäischen Metropole – wie blicken Sie auf die Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte?

FW: In der Tat erhielt die Stadt im vergangenen Jahrzehnt ein ganz anderes äußeres Erscheinungsbild, auch werden wir als Nationalität mehr anerkannt, aber dies ist bei weitem noch nicht normal, da die Zugezogenen die Mehrheit stellen; für sie sind wir ein Fremdkörper, sie urteilen mit einem falschen Geschichtsbild. Unser Anteil beträgt in der Stadt kaum 10 %. Es ist wohl wahr, dass 25.000 madjarische Studenten hier lernen (aber was ist das für die madjarische Minderheit in Siebenbürgen, die eine Million Seelen zählt?!), was man deutlich spürt. Aber es gibt eine Bürgerinitiative namens Igen-tessék! (Ja-bitte!), wo ein grüner Aufkleber zeigt, in welchem Geschäft oder in welcher Institution man mit dem Kunden ungarisch spricht. Darüber hinaus existieren eigene Vereine, Treffpunkte sowie Veranstaltungen der Schüler- und Studentenschaft und der Einheimischen (wie die Klausenburger Madjarischer Tage). Es gibt aber auch ein ungarisches Theater, Oper, Zeitungen, Rundfunk, niveauvolle weiterführende Schulen und Kindergärten. Aber es gibt sehr wenige madjarische Hausärzte, allen voran aber Fachärzte, und die Ämtergänge sind nur auf dem Papier in Ungarisch. Wohlgemerkt vermählt der madjarische Erste Stadtrat auf Wunsch Braut und Bräutigam auf Ungarisch. Von Sachsentum kann aber kaum noch eine Rede sein. Mein Freund, der aus Kronstadt/Braşov stammende Wilfried Schreiber, pensionierter Geografieprofessor und ehemaliger Prorektor der Babeş–Bolyai-Universität, ist der Einzige, der aus meiner alten Gesellschaft noch hier lebt, aber selbst mit ihm treffe ich mich nur sehr selten. Lange Zeit hat er die kleine Gemeinschaft des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien in Klausenburg geführt.

In der Tat hat unser Bürgermeister groß geträumt über die zukünftige Entwicklung unserer Stadt, vielleicht zu groß. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt, denn bei den Bürgermeisterwahlen im nächsten Jahr darf er laut Gesetz nicht mehr antreten. Ein neuer Mann wird sich sicher mit neuen Vorstellungen beweisen wollen.

SB: Letztes Jahr kamen die jüngsten Volkszählungsergebnisse heraus, die weitere herbe Verluste bei Madjaren und Deutschen zeigen, allen voran in der Diaspora. Mit welchen weiteren Herausforderungen kämpfen die Madjaren in Rumänien?

FW: Leider sind die Tendenzen nicht ermutigend. Die Ergebnisse der Volkszählung zeigen, dass es alle 10 Jahre 200.000 weniger Madjaren in Siebenbürgen gibt. Die Auswanderung ist groß, die Geburtenraten sind niedrig, der Grad der Assimilierung hingegen ist hoch, allen voran in der Diaspora, die über keine Akademikerschaft verfügt. Die Lage der Sachsen ist noch ernüchternder. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten annähernd 700.000 Deutsche in diesem Land. Heute 23.000! Die Sachsen zählen, wenn überhaupt, 10.000 Personen. Mit ihnen ist eine originelle, einzigartige Kultur verschwunden – zu deren Erbe ich mich auch zähle und die auf 900 Jahre Geschichte zurückblicken konnte-, so gut vor meinen Augen. Es ist schwer, diesen Verlust zu verarbeiten.

SB: Für Ihr wissenschaftliches Lebenswerk wurden Sie 2016 mit dem János-Arany-Preis ausgezeichnet – worauf sind Sie bezüglich Ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit am meisten stolz?

FW: In der Tat, meine höchste Auszeichnung ist die János-Arany-Gedenkplakette, die ich von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften erhalten habe, und, obwohl ich noch viele andere Auszeichnungen erhielt (vom rumänischen Staat oder rumänischen Institutionen keine), habe ich mich über den EMKE (Siebenbürgisch-Madjarischer Verein für Bildung)-Lebenswerkpreis am meisten gefreut. Neben den Auszeichnungen erfüllt mich die Anerkennung meiner Studenten mit der meisten Genugtuung.

Es ist schwer zu sagen, worauf ich am meisten stolz bin. Es gab viele Umbrüche in meinem Leben, ich habe mich mit vielen Dingen beschäftigt. Wobei ich Genugtuung verspüre, ist die Tatsache, dass ich immer versucht habe, je nach Kraft, den Herausforderungen zu entsprechen. Mehr oder weniger erfolgreich!

SB: Nächstes Jahr werden Sie 80. Wenn man Sie fragen würde, wie Sie sich mit diesem familiären Hintergrund definieren, wie würde dann Ihre Antwort lauten?

FW: Ich lebe mit doppelten Wurzeln. Ich stehe zu beiden, auch wenn ich als Kulturmensch allem voran auf Ungarisch schuf. Ich widme mich aber im Rahmen der Beschäftigung mit der Wissenschaftsgeschichte besonders dem wissenschaftlichen Erbe der hiesigen Deutschen.

SB: Herr Wanek, vielen Dank für das Gespräch!

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