Von Richard Guth
Der Befund ist eigentlich besorgniserregend. Dabei handelt es sich um ein globales, aber mindestens europäisches Phänomen. Bistum Fulda, ein katholisches Dorf – die Gemeinde feiert Kirmes, die Kirche füllt sich zaghaft. Vorne sitzen adrett gekleidete junge Männer, Mitglieder des örtlichen Bloos, also der Dorfjugend. In der Kirche verstreut sitzen weitere Gläubige, mit den Mitgliedern des Bloos zusammen nehmen diesmal ungefähr 50-60 Personen am Patrozinium der Pfarrkirche teil – 50-60 von an die 1000 Katholiken oder Katholischstämmigen im Ort. Ich beobachte insbesondere die Bloomitglieder: Die jungen Männer gehen fast geschlossen zur Kommunion (also das machten sie noch mit), aber ihre liturgische Textsicherheit (bis auf das Vaterunser) und ihre sehr verhaltene Beteiligung zeugen von einer Abkehr vom gelebten Katholizismus im Alltag. Später erfahre ich, dass viele von ihnen wohl nur unter Androhung einer Vertragsstrafe zur Kirmesmesse erschienen seien. Den Schwund an Gottesdienstbesuchern beobachte ich schon seit Jahren, insbesondere im Vergleich zu den 1990ern, als ich nach Deutschland kam, ist der Unterschied gewaltig. Die Gründe wurden vielfach beschrieben: Missbrauchsskandale und deren Missmanagement, Lockerung der religiösen Bindungen, Verweltlichung, alternative Formen des Glaubens (an was auch immer) und der Verwendung der Freizeit… Corona diente dabei lediglich als Brand- oder Niedergangsbeschleuniger.
Orts- und Landwechsel: Eine ungarndeutsche Gemeinde in der Region Nord, die Gemeinde feiert Kirmes im Freien. Zum feierlichen Hochamt, das seit jeher auf Deutsch gefeiert wird (wenn der Ortspfarrer es hält, mit ungarischer Predigt), füllen sich die Reihen zögerlich, obwohl die geistliche Stunde zu einer äußerst günstigen Uhrzeit stattfindet: Die Feierwütigen des Vorabends dürften es wohl schaffen, sich wieder zu berappeln, und auch die Hausfrauen dürften es mit Vorbereitung am Morgen schaffen, das Festessen für die Familie zuzubereiten. Erfreulich ist der Anblick vieler junger Gesichter, manche in Volkstracht gehüllt. Weniger erfreulich die Beobachtung, wie im Falle der Stiffoler Gemeinde in Deutschland, dass die liturgischen Texte vornehmlich von den Älteren gesprochen werden, ein Zeichen dafür, dass vornehmlich die Letztgenannten an den Sonntagen im Jahreskreis die Kirchenbänke (spärlich) füllen. „Wie sieht es in den ungarischsprachigen Messen aus?”, will ich wissen, und erfahre, dass auch dort die Bänke immer öfter leer blieben. Droht bald auch in Ungarn die Zusammenlegung von Pfarrgemeinden und gar die Veräußerung von Kirchenbauten, was in Ungarn viele als Zeichen des Niedergangs der christlich-abendländischen Kultur im „Westen” werten!?
Ortswechsel: Westungarn, ein Gebiet, das lange als tiefreligiös galt. Chrobotische (kroatische), deutsche und madjarische Gemeinden wechseln sich ab, ich halte an einer der frisch renovierten Kirchen in einer deutschen Gemeinde und komme mit der Sigristin ins Gespräch. Ich will wissen, wie rege die Gottesdienste besucht werden. Auch hier ein ähnlicher Befund: Gerade unter der Woche fänden sich meist nur ältere Gemeindemitglieder ein, um die Heilige Messe zu feiern. Viele der Älteren zögen dem Gottesdienst Fernsehserien vor, was der Pfarrer auch schon mehrfach moniert habe.
Jahrhundertelang bildete der christliche Glaube, ob katholisch, evangelisch-lutherisch oder reformiert-calvinistisch, das Rückgrat unserer deutschen Identität in Ungarn, zumal er auch einen starken gemeinschaftsbildenden Charakter volkskirchlicher Prägung hat(te). In der Regel bis Ende des Zweiten Weltkriegs war kirchliches Leben in den meisten Dörfern deutsch oder mundartlich geprägt (und mancherorts auch danach), auch wenn gerade die Katholische Kirche eine Vorreiterin der Madjarisierung war. Auch wenn die Rolle der Kirchen bei der Bewahrung von Identität und Sprache – auch wegen der vorgenannten Gründe – bei weitem nicht so stark war wie im Kreise der evangelischen Siebenbürger Sachsen und Landler und (welch ein Wunder!) der katholischen Banater Schwaben, hielt die kirchliche Bande die Gemeinschaft zusammen und war identitätsstiftend.
Nach der Auflösung der Dorfgemeinschaften durch Vertreibung, Industrialisierung, Landflucht und neue Formen der Migration ins Ausland, bei Zunahme der Mischehen und weiterhin fehlendem muttersprachlichem Unterricht in der Fläche mit Folgen für die Weitergabe der deutschen (Mutter-)Sprache wankt somit ein weiteres Standbein unserer Identität.
Die Frage wird daher sein: Reicht die Pflege bühnenkulturellen Erbes langfristig aus, um uns weiterhin als deutsche Gemeinschaft definieren zu können?