Mit Zeitzeugen im Gespräch (2)

Klara Wagner (79) aus Ratzkoslar/Raab

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Von Richard Guth

Alles begann mit einem Like (Gefällt mir) auf Facebook. Frau Wagner gefiel mein kritischer Kommentar bezüglich des Sprachgebrauchs in der Öffentlichkeit und mir gefiel es eine Gleichgesinnte gefunden zu haben. Der Rest lief wie am Schnürchen: Nachricht im Messenger, Termin vereinbart, Gespräch im Messenger durchgeführt – denn uns trennten in dem Moment gut 800 km.

Klara Wagner, Jg. 1943, leitete lange Wirtschaftsabteilungen und wechselte dann als Selbstständige in die Gastronomie. Die 79-Jährige stammt aus der Branau, aus dem Dorf Ratzkoslar/Egyházaskozár, wohnt aber seit 1962 nicht mehr dort. Wenn sie ihr Heimatdorf besucht, müsse sie trotz ausgedehnter Verwandtschaft Ausschau nach einer Unterkunft halten. Ihr anderthalb Jahre älterer Bruder, Julius Wagner, brachte sie auf die Idee, sich mit der Familiengeschichte und der Geschichte des Heimatdorfes zu beschäftigen. Eine weitere Stütze bedeutete ihre Bekanntschaft mit Anton Tressl. Ihr profundes Wissen zeigte sich auch im Laufe des Gesprächs, dennoch ist sie gleichzeitig mit fast acht Jahrzehnten eine Zeitzeugin, die wertvolle Erinnerungen an die früheren Jahrzehnte besitzt.

Klara Wagner hat zudem mehrere Fotobücher über die Familie angefertigt: Das erste „Wagner-Buch” ist den Ahnen gewidmet, darauf folgten die Bücher „Wagner 2 und 3”. „Ein Urahn wurde 1782 in Wikal/Bikal eingetragen, da er dort eine Ehe geschlossen hatte. Damals wurden Geburten, Eheschließungen und Todesfälle der evangelischen Ratzkoslarer in den katholischen Kirchenbüchern von Wikal eingetragen. „Bis zur Generation meines Großvaters waren die Wagners eine Bäckerfamilie, sie beschäftigten sich daneben aber auch mit Weinbau. Mein Großvater zum Beispiel verfügte über 26 Joch Besitz, besaß vier Pferde und galt als Kulake. Er verlor alles: den Bodenbesitz, das Weingut, landwirtschaftliche Geräte, die Tiere und musste die Ernte abliefern. Um die Requirierungsanforderungen des kommunistischen Regimes zu erfüllen, musste mein Vater Getreide zukaufen. Wir lebten sehr bescheiden, beispielsweise tauschten wir Kleidungsstücke gegen Zucker und Mehl ein”, gewährt Klara Wagner einen Einblick in die Geschichte der evangelischen Familie.

Besonders die ersten Nachkriegsjahre bedeuteten für die Familie eine Zäsur: Von den 1200 Ratzkoslarer Deutschen wurden nach Wagners Angaben 900 vertrieben, „vornehmlich sind die Armen” geblieben. Eine Ausnahme soll dabei die wohlhabende Wagner-Familie gebildet haben, in deren Haus die Vertreibungskommission tagte. Damals wohnte im Haus des Großvaters neben anderen Familienmitgliedern ein Flüchtling aus Jugoslawien – Klaras Familie wohnte in der Kantorwohnung. Wagner vermutet, dass die Familie deswegen nicht vertrieben wurde, weil der Großvater Bäcker war und der Vater, der 1945 seinen Namen in Várszegi änderte (gut zehn Jahre nach der Namensänderung des Bruders, der nur so Notar sein durfte) den Lehrberuf ausübte. Großvater und Vater verband aber bei allen Unterschieden auch noch etwas anderes: „Großvater und Vater lernten erst in Bonnhard mit 10 Jahren Ungarisch.”

Der Werdegang des Vaters von Klara Wagner war dennoch ein Novum in der Familie: Er wurde Kantorlehrer und unterrichtete zusammen mit drei anderen Lehrern 300 Grundschulkinder. Nach Wagners Angaben war in der evangelischen Elementarschule die Unterrichtssprache Deutsch, lediglich in einigen Stunden lernten die Kinder die Staatssprache, die aber keinen großen Einfluss auf die Sprachpraxis im Dorf gehabt habe: „Auch noch die Generation meiner Mutter, sie war Jahrgang 1924, sprach gebrochen Ungarisch – in meiner Jugend sprachen junge Frauen in ihren 30ern, 40ern vornehmlich Mundart. Eine interessante Episode: Meine Eltern haben 1962 in Fonyód am Plattensee ein kleines Häuschen gekauft. Jeden Sommer arbeitete sie dort, weil sie ja gut Deutsch konnte. Das rief auch die Staatssicherheit auf den Plan: Man wollte sie als Inoffizielle Mitarbeiterin engagieren, um die vielen Verwandtschaftsbesuche von heimatvertriebenen und -verbliebenen Deutschen zu beobachten. Das konnte meine Mutter aber erfolgreich abwehren.” Ihr Vater wurde im Krieg eingezogen, sein Nachfolger wurde eine Lehrerpersönlichkeit, die Spuren in Ratzkoslar hinterlassen hat: Johann Pfeiffer, der sich später intensiv mit der Geschichte der Gemeinde beschäftigte und eine Dorfmonografie herausbrachte.

In diese Zeit fiel die Ankunft der ersten „telepesek”- noch vor der Vertreibung – in einem Dorf, aus dem 1944/45 73 Menschen in die Sowjetunion verschleppt wurden, vornehmlich Frauen und Mädchen – 14 kehrten nie heim. Zuerst kamen einige Bukowinasekler und Tschangomadjaren aus der Moldau, danach 1948 in großer Zahl Tschangomadjaren aus der Batschka. Sie nahmen die Häuser der Schwaben in Besitz, die nach Lendl/Lengyel interniert wurden. „Auf der Oberfläche, so meine Erinnerungen, war alles friedlich, aber wie eine Bekannte vor einigen Jahren erzählte, schwelte es noch lange in meiner Generation”, so Klara Wagner. Auch die Verstaatlichung der evangelischen Dorfschule brachte große Veränderungen – auch für die Familie Wagner/Várszegi: „Mein Vater musste mit 40 Jahren zur Nachqualifizierung an die Hochschule in Fünfkirchen. Er als ehemaliger leitender Lehrer unterrichtete noch Deutsch und wurde vornehmlich in der Nachmittagsbetreuung eingesetzt. Damals sind viele junge Lehrer eingestellt worden, die bereits über Abitur und Studienabschluss verfügten. In der Kirche durfte er erst 1966 bei unserer Hochzeit wieder Orgel spielen. Bei meiner Konfirmation Mitte der 1950er Jahre durfte er nicht dabei sein. Das hat meinen Vater 20 Jahre lang unter Druck gehalten, er starb 1969 mit nur 57 Jahren an Krebs. Der Arzt sagte, dass bei seinem Tod wohl die seelischen Belastungen eine entscheidende Rolle spielten.” Aber auch für den Großvater bedeutete der Systemwechsel

– wie bereits beschrieben – eine Umstellung, denn er wurde 1950 nach Wagners Erzählungen unter Druck gesetzt, der LPG beizutreten: „Opa weigerte sich als Einziger im Dorf. Daraufhin wurde ihm gedroht, der Sohn würde die Anstellung als Lehrer verlieren. Danach trat Opa der Genossenschaft bei, durfte aber eine Zeit lang ein Stück vom Weingut und angrenzend ein Stück Ackerland zum Bewirtschaften behalten. Er starb 1962.”

„Mein Vater verschwieg die deutsche Herkunft der Familie, obwohl meine Oma – aus einer ebenfalls wohlhabenden Wikaler Familie – Mundart mit uns sprach. Wir haben ihr dafür Ungarisch beigebracht. Auch Mutter und Vater sprachen ab und zu deutsch miteinander, wenn wir was nicht verstehen sollten”, erzählt die heute 79-Jährige. Erst später sei ihr ihr Deutschtum bewusst geworden: „Über meine Geburtsurkunde, die ich bei der Beantragung des Personalausweises brauchte, erfuhr ich, dass ich als Wagner geboren wurde. Ich habe das Leöwey-Gymnasium in Fünfkirchen besucht und vier Jahre lang Deutsch gelernt. Am Gymnasium gab es sogar eine Klasse mit deutscher Unterrichtssprache – sie hatten alle Fächer bis auf Ungarische Sprache und Literatur auf Deutsch – die Abiturienten gingen danach fast geschlossen zur Pädagogischen Hochschule.” Anfang der 1990er Jahre traf sie sich öfters mit Heimatvertriebenen, die in ihrer Kindheit Ungarn verlassen mussten. Das hat nach eigenen Angaben die Verbundenheit mit dem Deutschtum gestärkt und dazu geführt, dass sie nun die deutsche Sprache wieder auf „Anwenderniveau” beherrsche.

Auch schon damals waren für sie „das Evangelischsein das bindende Glied” und die Gemeinschaft;  weniger entscheidend war die ethnische Herkunft. Die vielen Heimatbesuche der Vertriebenen seien mit der Zeit immer weniger geworden. Dadurch verlor nach ihrem Eindruck die heimatverbliebene Gemeinschaft an Kraft, so dass es heute nur noch 50 Deutsche in Ratzkoslar seien – auch als Ergebnis der Landflucht und „des fehlenden Interesses der Jugendlichen am deutschen Erbe”. Zudem seien die Deutschen zu passiv, was sie an einer Grabreinigungsaktion in Ratzkoslar demonstriert, die sie zusammen mit nur einer geladenen Person stemmen musste, die anderen hätten nicht reagiert. Auch die Arbeit der deutschen Selbstverwaltungen sieht Wagner kritisch: Sie sei in ihrer Wahlheimat Raab/Győr aktives Mitglied der deutschen Gemeinschaft – unter anderem mehrere Jahre als Sängerin im Rosmarein-Chor – und bekenne sich bei den Volkszählungen stets zur deutschen Volkszugehörigkeit: „Die Nationalitätenselbstverwaltungen funktionieren nur zum Schein, sowohl hier in Raab als auch in Ratzkoslar. Sie tun einfach zu wenig und es geht ihnen um die Posten. Ein-zweimal im Jahr wird die Vergangenheit lebendig, aber nach dem Aussterben dieser Generation wird das verschwinden und damit auch die Erinnerungen. Übrigens auch ein Phänomen, das auch andere deutsche Gemeinschaften in der Welt betrifft, zu denen ich Kontakt habe!”

Genauso schmerzlich fand sie den Abbau des Heldendenkmals von 1848/49 auf dem Platz vor der evangelischen Kirche Mitte der 1990er Jahre, an dessen Stelle ein Turul und das Doppelkreuz gekommen seien. Die Gedenktafel zu Ehren der Gefallenen der beiden Weltkriege – alle Deutsche – habe man nur am Zaun der evangelischen Kirche anbringen können. „All dies mit Billigung des deutschstämmigen Bürgermeisters!” betont Wagner. Den Turul hätte man im Umkreis der neu an der Stelle eines alten deutschen Hauses errichteten katholischen Kirche aufstellen können, wo er hingehöre, so die Zeitzeugin.

Das Sonntagsblatt berichtete vor einer Woche über einen Verwandtschaftsbesuch von Frau Wagner in den USA im Juli und über ihre Erfahrungen: https://sonntagsblatt.hu/2023/09/22/wenn-der-grosse-teich-verbindet/

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Bild: Klara Wagner (r.) mit ihrer Mutter

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