Konrad Zacher packte 1820 seine Sachen. Als Weber, den Beruf hatte er gelernt, musste sich doch auch Tausende Kilometer von Grossingersheim im Süden Deutschlands etwas finden lassen. Sein Leben war arm, die Verlockungen aus der Fremde schienen gross. Versprochen waren Land, jahrelange Steuerfreiheit, Kredite, kein Militärdienst und Selbstverwaltung. Der Plan war gefasst, ein Plan, wie ihn Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts Millionen von Menschen realisierten, Handwerker, Bauern, Gläubige, aus Hessen, aus der Pfalz, aus Preussen: auf nach Russland, in die Steppe, an die Flüsse!
Wo Milch und Honig flossen
Zarin Katharina hatte mit einem Manifest 1762 ausländische Bürger in die unwirtlichen Gegenden ihres Reiches gerufen. Vor allem die nach dem Siebenjährigen Krieg gebeutelte deutsche Bevölkerung wagte den beschwerlichen Weg ins Unbekannte, in dieses imaginierte Land, in dem angeblich Milch und Honig flossen. Konrad Zacher aus Württemberg ging genauso wie Johannes Larösch aus Hessen oder Anna Matthiess aus Sachsen einige Jahre davor. Kolonisten aus Deutschland, die sich fast zweimillionenfach an der Wolga ansiedelten oder auf der Krim, im Norden der Ukraine, im Kaukasus, in der Steppe hinter dem Ural. Ein kleines Deutschland im weiten Russland, mit Kirchen, Schulen und Betrieben.
Ihre Geschichten, ihre Lebensläufe, sie sind zu Namen verkommen, mit kurzen Daten, wo sie geboren sind, wo sie geheiratet haben vielleicht. Namen, die heute in Detmold auf einer Holzwand versammelt sind, zu Hunderten hängen sie in der ostwestfälischen Stadt über der Treppe im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte. Es ist ein kleiner Ausschnitt über Menschen, die sich vor rund 200 Jahren auf eine weite Reise begaben, die ihrer Geschichte in Deutschland den Rücken kehrten und Teil eines völlig anderen historischen Prozesses wurden. Nun, nach all den Entbehrungen, der politischen Willkür gleich zweier totalitärer Regime, den Wanderungen und Verschleppungen, der Zwangsarbeit und Stigmatisierungen findet diese Geschichte in den gebrochenen Biografien der Nachkommen all der Zachers, Laröschs oder Matthiess’ etwas Ruhe.
Vor allem in den 1990er Jahren strömten Deutschen aus der gerade zerfallenen Sowjetunion in die unbekannte Heimat ihrer Vorväter, auch sie mit der Vorstellung, es sei ein Land, wo Milch und Honig fliessen. Sehr viele von ihnen haben seitdem das Bild einer überaus gelungenen Integration bestätigt; vor allem die, die als Kinder kamen, fallen in der Mehrheitsgesellschaft nicht auf.
Einige aber haben durch die Emigration Verluste erlitten, sind frustriert ob des Unverständnisses der anderen für ihre persönlichen Erfahrungen oder ob der eigenen Scham, es im gelobten Deutschland nicht geschafft zu haben. Sie ziehen sich zurück ins allseits Bekannte einer sowjetischen Vergangenheit, vertrauen einfachen Erklärungsmustern, die sie im russischen Fernsehen daheim konsumieren. Nicht nur bei der ansässigen Bevölkerung ruft die Tatsache, dass die Russlanddeutschen Deutsche und Migranten zugleich sind, Irritationen hervor, auch bei den Russlanddeutschen selbst tut sie das. Stets sind sie auf der Suche nach sich selbst, nach der Beschreibung ihrer hybriden Identität.
Katharina Neufeld kann darüber stundenlang erzählen, hier in ihrem Büro des Detmolder Museums. Auf zwei Etagen hat sie, die 1997 aus Orenburg am Ural nach Lemgo kam, mit vielen Russlanddeutschen Zeugnisse zweier Kulturen versammelt, eine alte deutsche Bibel, Hochzeitsgewänder, die es längst nicht mehr gibt, Samoware und Kaffeemühlen nebeneinandergestellt. Bilder und Modelle zeigen, wie die Kolonisten am Ufer der Wolga ein neues Leben aufbauten, Texte erklären, wie die «inneren Deutschen» in Russland bereits im Ersten Weltkrieg zu Kollaborateuren des wilhelminischen Reichs abgestempelt wurden, wie Stalin sie im Zweiten Weltkrieg als angebliche Gehilfen Hitlers in die kasachische Steppe oder die sibirische Kälte zwangsumsiedeln liess. Neufeld kann sich gut an die Tränen ihrer Mutter erinnern, wenn diese von Misshandlungen und Vergewaltigungen berichtete, auf Plattdeutsch und leise, denn über sowjetische Greueltaten sprachen nicht nur die Minderheiten im Land hinter vorgehaltener Hand.
Aus Kasachstan nach Westfalen
Es sind Erinnerungen, von denen auch der Abgeordnete Heinrich Zertik in Berlin in ähnlicher Weise erzählen kann wie die Studentin Ina Schneider aus Potsdam. Er, der 1989 aus der kasachischen Sowjetrepublik nach Westfalen kam und vor zweieinhalb Jahren als erster Russlanddeutscher für die Christlichdemokraten in den Bundestag einzog, und sie, die als Fünfjährige mit ihrer Mutter aus dem Nordkaukasus nach Berlin umsiedelte, haben anscheinend wenig gemeinsam. Das Erlebte aber, deutsch mit sowjetischem Hintergrund zu sein, macht sie in ihren Sichtweisen oft gleich. «Schon von zu Hause wurde mir mitgegeben, bloss nicht aufzufallen, also lernte man schnell Deutsch und wollte so sein wie alle anderen hier, man verschwand in der Masse und hat tief in sich verinnerlicht, sich mit seiner Geschichte nicht in den Vordergrund zu drängen», sagt Ina Schneider. Auch wenn in den Neunzigern Schlagzeilen von betrunkenen, randalierenden «Russen» die Runde machten, fallen die Russlanddeutschen heutzutage meist kaum auf, sie sind unsichtbar geworden und halten sich im Hintergrund.
Das bestätigt auch Jannis Panagiotidis, der eine Junior-Professur für Russlanddeutsche Migration und Integration an der Universität Osnabrück innehat. Er spricht von der «Unauffälligkeit sozialer Indikatoren», einer hohen Beschäftigungsquote und niedriger Kriminalitätsrate der Russlanddeutschen. «Es ist eine Erfolgsgeschichte, aus der die heutige Politik auch einiges für den Umgang mit neuen Migranten mitnehmen könnte und sollte», sagt Panagiotidis und meint in erster Linie Förderungen, die Geld kosten. «Eine klare Bleibe-Perspektive, wie sie die Russlanddeutschen hatten, erleichtert die Integration, eine Steuerung oder Quotierung ist gar nicht notwendig oder hilfreich.» Ein prekärer Status, den viele Flüchtlinge derzeit erlebten, sei Gift für die Integration.
«Wir kamen, um zu bleiben», sagt auch Heinrich Zertik, der im Kreis Lippe ein Zuhause fand. «Beheimaten» nennt er das. Was ihm fehlt, ist lediglich die gesellschaftliche Beteiligung der Russlanddeutschen. «Wir haben die politische Ausgrenzung in der Sowjetunion tief verinnerlicht, viele glauben immer noch, dass man als einzelner Mensch kaum etwas ausrichten kann.»
Wandelnder Widerspruch
Kaum aber gehen einige der Russlanddeutschen auf die Strasse, zeigt sich auch schon die hässliche Fratze eines verquer verstandenen Pluralismus. Das legte kürzlich der ominöse «Fall Lisa» im Berliner Stadtteil Marzahn offen. Dabei war ein russlanddeutsches Mädchen aus Angst vor Ärger zu Hause stundenlang verschwunden, woraufhin die ausgedachte Geschichte zunächst im russischen Fernsehen, später bei Demonstrationen auch vor dem Berliner Kanzleramt die Runde machte, die 13-Jährige sei von arabischen Migranten vergewaltigt worden. Die Russlanddeutschen waren in aller Munde, plötzlich wieder als Gruppe, die sich in Deutschland nicht zurechtfindet und Putins Propaganda-Maschinerie leicht anheimfällt. Zu kurz gegriffene Erklärungen, vielerlei miteinander vermischt, die das Unwissen auch vieler Journalisten über die Russlanddeutschen offenbarten. Die Aufgeregtheit im «Fall Lisa» zeigte jedoch etwas Wichtiges: Der oft festsitzende Konservatismus vieler Russlanddeutscher und der geradezu demonstrativ vor sich hergetragene Widerspruch, selbst kein Migrant zu sein, aber aufgrund der eigenen Geschichte als etwas Besonderes wahrgenommen werden zu wollen, lässt bei einigen von ihnen eine grosse Angst entstehen, nicht dazuzugehören, obwohl sie doch qua Pass «richtige Deutsche» seien. Die Detmolder Museumsleiterin Katharina Neufeld glaubt, dass gerade dieser stetige Kampf mit sich selbst viele Russlanddeutsche frustriert und für schlichte Erklärungsmuster anfällig macht. Denn es sei stets dieses «Deutsch, aber», das die Russlanddeutschen, aber auch die ansässige Bevölkerung beschäftige.
«Viele von uns dachten, wir kehren in die Heimat unserer Vorväter zurück, und vergassen dabei, dass diese Heimat sich über die Jahrhunderte, in denen wir in russischer, in sowjetischer Umgebung lebten, ebenfalls weiterentwickelt hat. Sie hat andere historische Ereignisse durchgemacht, andere Werte gelehrt bekommen. Und plötzlich ist diese Heimat gar nicht so ideal, wie wir sie uns vorgestellt haben», sagt Neufeld. Zu Sowjetzeiten war dieses Kapitel, vor allem die Vertreibung und die Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg, ein Tabuthema. Selbst in vielen russlanddeutschen Familien erzählten die Eltern ihren Kindern wenig davon, Familienmythen setzten sich fest, voller Lücken und Halbwahrheiten. Im Detmolder Museum geht Neufeld gegen solches Unwissen vor.
Stolz auf «Germanija»
Die Nachnamen, ja selbst die Vornamen lassen die Zugewanderten kaum auffällig wirken. Mehr als zwei Millionen Aussiedler und Spätaussiedler zählt die Statistik, die meisten von ihnen leben in Nordrhein-Westfalen, allein in der Region Detmold hat jeder Fünfte einen russlanddeutschen Hintergrund. Doch der manchmal osteuropäische Akzent, die seltsam anmutenden Geburtsorte, selbst die Unkenntnis von so manchen deutschen Kinderbüchern oder Jugendserien legen einen Zwiespalt offen. Die Frage «Woher kommst du?» macht manche von ihnen regelrecht sprachlos. Aus der Sowjetunion? Aus Russland? Was sagt man auf die Schnelle? Denn gerade hier treffen Eigen- und Fremdwahrnehmung besonders aufeinander.
Sie selbst sehen sich als Deutsche, die Ansässigen betrachten sie oft als Russen oder empfinden die Art, wie manche Russlanddeutsche ihr Deutschtum pflegen, wie sie sich in Landsmannschaften organisieren, Volkslieder singen und stolz auf ihr «Germanija» sind, als unmodern, ja als politisch unkorrekt. Bei einigen Russlanddeutschen rufen die drei Worte nach der Herkunft oft ein unbequemes Gefühl hervor. Wie soll man einen Überblick über die Geschichte geben, wie erklären, dass die Vorväter einmal in Hessen lebten, dann vielleicht an die Wolga zogen, von den Nazis «heim ins Reich» geholt und später wieder von den Sowjets zurückverschleppt oder gleich in die Arbeitsarmee im weiten kalten Osten der Sowjetunion gezwungen wurden? Dass sie lange Jahre in Lagern lebten, mit «Deutscher» im Pass stigmatisiert wurden, nicht studieren durften, die deutsche Sprache aufgeben mussten und immer von Deutschland träumten, in das sie spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auswanderten? Etwas lang für eine Antwort auf eine einfache Frage. Also entscheiden sie sich – vor allem solche, die akzentfrei sprechen – oft für die schlichteste Variante und sagen nur: «Aus Schwaben». Damit verleugnen sie einen Teil ihrer Vergangenheit, ihrer Identität, verstecken sich, gehen unauffällig in der Gesellschaft unter. Das haben bereits ihre Vorfahren gelernt.
Selten wollen sie als das Gesicht einer gelungenen Integration präsentiert werden, wollen nicht, dass andere für sie «das Andere» in ihnen betonen, sie wollen nur dazugehören, auch wenn sie dieses «Andere» durchaus im Alltag pflegen, sei es mit Russisch, das sie zu Hause sprechen und an ihre Kinder weitergeben, sei es mit slawischem Essen oder den ausgefallenen Hochzeiten, die ähnlich auch heute noch in russischen Dörfern gefeiert werden. «Jeder von uns bastelt sich seine Identität zusammen», sagt Katharina Neufeld. «Sie bleibt oft anders deutsch und ist dennoch ein Teil dieses Deutschlands.»
Quelle: https://www.nzz.ch/international/europa/geschichte-der-russlanddeutschen-die-unsichtbaren-deutschen-ld.82556