Reisenotizen (14) – Donausiedlung Darmstadt

Von Richard Guth

(Dezember 2022) Das Navigationsgerät verlangt nach einem Suchbegriff. Hm, „Heimstättensiedlung” könnte passen. Das Navi wird aber nicht fündig, lediglich eine „Heimstättensiedlungsapotheke” wird als Ergebnis angeboten. Ob die Apotheke irgendetwas mit der Donausiedlung und den Heimatvertriebenen zu tun hat? Ratlosigkeit! Erst später wird sich zeigen, dass diese Apotheke durchaus einiges für den interessierten Betrachter zu bieten hat, aber dazu später mehr. Ich versuche es mit einem Straßennamen, denn irgendwo habe ich gelesen, dass hier einige Straßen Ortsnamen aus Ungarn tragen: Fünfkirchener Straße, Ödenburger Straße. Volltreffer, die Reise kann beginnen!

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Diese führt über Bundesautobahnen bis in die Nähe des Zentrums der Wissenschaftsstadt Darmstadt südlich der Mainmetropole Frankfurt. Nach der Abfahrt folgt noch eine zehnminütige Fahrt durch die Außenbezirke Darmstadts vorbei an verlassenen amerikanischen und deutschen Kasernen, die zum Teil abgerissen, zum Teil neugestaltet werden. Zu einem solchen Gebiet gehört auch der Rand der Heimstättensiedlung. Manche Passanten erzählen noch von den Hinterlassenschaften der Soldaten in den umliegenden Gebüsch- und Feldlandschaften, als diese bis vor wenigen Jahren noch als Truppenübungsplätze genutzt wurden.

Es ist ein Werktagnachmittag. Das Ortsbild dominieren Mütter, die ihre Kinder aus Schule und Kita nach Hause begleiten, ältere Mitbürger, die ihre Hunde ausführen, und Handwerker, denn vieles wird renoviert oder im Zeichen einer „Nachverdichtung” gebaut. Auch mein Weg führt erst einmal durch ein Neubaugebiet – eine baugeschichtliche Reise, denn hier dominieren im Gegensatz zur alten Heimstättensiedlung Reihen- und Mehrfamilienhäuser, gewissermaßen als Ausdruck deutlich gestiegener Bodenpreise und massiven Zuzugs in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Ich biege in die Ödenburger Straße ein, wo mich ein anderes Bild erwartet: Doppelhaushälften, aber auch freistehende Einfamilienhäuser bestimmen das Straßenbild, dazu noch große Vor- und Hintergärten – heute in Ballungszentren wie dem Rhein-Main-Gebiet, wo der Quadratmeter bis zu mehrere tausend Euro (mehrere 100.000 Forint) kosten kann, für Normalverdiener so gut wie unbezahlbar.

Als die Heimatvertriebenen hier ihre Häuser bauten, sah es noch anders aus – nicht zuletzt dank dem Lastenausgleichsgesetz, das der schnellen Integration der Deutschen aus dem Osten diente. Und diese führt ja bekanntlich oft über Wohneigentum. Ein Herr hält mit seinem Wagen, ich quatsche ihn an. Sehr überrascht und harsch gestikulierend zeigt er auf eine Frau in den Siebzigern, die auf der anderen Straßenseite gerade zu ihrem Auto läuft.

Der Mann spricht gebrochen Deutsch, also auch einer mit Migrationshintergrund, wohingegen die ältere Frau mittlerweile als alteingesessen gelten kann. Jedenfalls kennt sie sich bezüglich der Geschichte der Donausiedlung gut aus. Wie es sich herausstellt, waren ihre Schwiegereltern „Deutsche aus Ungarn“. Das Viertel habe in den letzten Jahren sein Gesicht verändert, denn viele Heimatvertriebenen seien bereits verstorben und zahlreiche ihrer Nachkommen weggezogen. Es wohnten nur noch punktuell heimatvertriebene Familien in der Donausiedlung. Diesen Eindruck bestätigt auch ein anderer Bewohner in der Straße, ein in etwa gleichaltriger Mann, der wissen will, warum ich sein Haus fotografiert habe. Ich kann ihn beruhigen, ich hatte lediglich am Straßenschild Interesse, denn hier treffen sich die Ödenburger und die Czernowitzer Straße.

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Die Siedlung hat es eigentlich in sich: Die Heimstättensiedlung wurde peu à peu ausgebaut, die Gründungsgeschichte geht auf die letzten Jahre der Weimarer Republik und die Weltwirtschaftskrise zurück: Arbeitslose sollten eine Chance erhalten, durch Selbsthilfe und zu einem geringen Erbbauzins Wohnhäuser zu bauen. Der Prozess zog sich hin und gilt heute deshalb schlechthin als nationalsozialistisches Wohnungsbauprojekt. Nach dem Krieg kamen Deutsche aus Ungarn und Buchenwalddeutsche hierher und hier treffen sich beide Fäden bzw. Straßennamen: der von Ödenburg und der von Czernowitz, der Hauptstadt des Buchenwaldes resp. der Bukowina. Aber dass die (Über-) Siedlungs- und Fluchtgeschichte der Bukowinadeutschen alles andere als gradlinig verlief, bestätigt ein Buchenwaldeutscher Jg. 1936, den ich vor der katholischen Heilig-Kreuz-Kirche anspreche.

Er berichtet, dass er 1939 zusammen mit seiner Familie „heim ins Reich“ geholt worden sei – sie als Volksdeutsche sollten die annektierten polnischen Gebiete germanisieren. Die Familie floh bei Kriegsende nach Angaben des Mannes ins zerstörte Deutschland (in die amerikanische Besatzungszone). Der damalige Oberbürgermeister habe sie ins zu 80 % zerstörte Darmstadt eingeladen, denn man habe fleißige Hände beim Wiederaufbau gebraucht. Die Vertriebenen hätten sich landsmannschaftlich organisiert, aber diese Aktivitäten hätten heute nachgelassen: Die Jugend interessiere sich nicht mehr dafür. Konfessionell sei die Heimstättensiedlung gemischt gewesen. Das zeigen die beiden Nachkriegskirchenbauten im Stil der 1950er und 60er Jahre: neben der katholischen Pfarrkirche Heilig Kreuz die evangelische Matthiaskirche, die gut anderthalb Jahrzehnte vor dem römisch-katholischen Gotteshaus eingeweiht wurde. Die Heimatvertriebenen in Griesheim, nicht weit entfernt, hingegen seien alle „stramm katholisch“ gewesen.

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Dass es aber nicht nur Deutsche aus Trianon-Ungarn und Bukowinadeutsche waren, die sich in der Heimstättensiedlung mit einer recht vielseitigen Architektur (Einfamilienhäuser, Doppel- und Reihenhäuser wie Mehrfamilienhäuser) ansiedelten, zeigt das Beispiel einer Frau Mitte 70, die ich beim Hundeausführen anspreche. Nicht besonders gesprächig erzählt sie dennoch, dass ihre Eltern aus Serbien stammten, an den Ort erinnere sie sich aber nicht mehr. Viel auskunftsfreudiger ist eine Dame über 90, die ich in der Ödenburger Straße treffe. Sie stammt aus Falschnone/Felsőnána und hat mit ihrer Familie die Entwicklung der Siedlung miterlebt. Sie fährt mit ihrem Rollator auf dem Hof in Begleitung einer Altenpflegerin auf und ab, die im Hintergrund still zuhört und nickt, als kenne sie all die Erzählungen der alten Dame. Für einen kurzen Plausch habe man immer ein offenes Ohr, so die alte Frau. Sie hat zusammen mit ihrem Mann das hinter ihr stehende, schicke Einfamilienhaus gebaut, als man noch jung gewesen sei. Früher hätten die Vertriebenen noch Zusammenkünfte gehabt und gemeinsam gefeiert, aber viele seien gestorben oder verzogen. Auch die Volkstracht habe man lange getragen. Die Bindungen zur Heimat seien nicht ganz abgebrochen worden, sie selbst hätten die Tolnau mehrfach besucht.

Bei meinem Spaziergang durch die Straßen der Heimstättensiedlung, die sich durch eine insgesamt trotz Nachverdichtung immer noch großzügige Raumverteilung auszeichnet und eine Atmosphäre „Hier wohnt man gerne“ ausstrahlt, treffe ich viele Neuzugezogene – Jung und Alt, mit oder ohne Migrationshintergrund neueren Datums – viele wissen um die Geschichte der Siedlung, aber einige nur aus dem Internet, wie ein junger Mann augenzwinkernd einräumt, und damit meint er die Historie der Siedlung vor der Ankunft der Deutschen aus dem Osten.

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Zum Schluss folgt die emotional wohl intensivste Begegnung, stilgerecht in der Apotheke, die das Navigationsgerät zuerst ausspuckte. Eine Mitarbeiterin Ende 50 wird gerufen, der Familienname typisch ungarndeutsch, jedenfalls hieß mein Musiklehrer auch so. Sie, aufgewachsen in der Klausenburger Straße, spricht von den Veränderungen in den letzten Jahrzehnten infolge von Wegzug und Nachverdichtung und berichtet von den Anfängen, als die Bewohner noch Tiere zur Selbstversorgung gezüchtet hätten. Landwirtschaft sei für die Siedlung und die Gegend allerdings nicht typisch gewesen, viele arbeiteten in der Industrie, allen voran „bei Merck“, dem weltbekannten Arzneimittel- und Chemikalienhersteller.

Als sie von Flucht und Familienzusammenführung Mitte bis Ende der 1940er Jahre spricht – die Familie stammt aus der Branau -, kommen ihr die Tränen, sie holt ein Stück Papier und bittet mich, Kontakt mit ihren Eltern aufzunehmen. Aber das ist bereits eine andere Reisenotiz.

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