Von Nicolaj Nienhaus
Nach vier Monaten in Baaja kam Anfang Juni der Zeitpunkt sich zu verabschieden: von Freunden, Kindern, Kolleginnen und Kollegen, dem Ort, der Gemeinschaft. Es war Zeit einen Schlussstrich zu ziehen und diesen möchte ich gern mit Ihnen teilen: Ich hatte in der Zeit seit Ende Februar die Gelegenheit in eine organisierte und strukturierte Gemeinschaft einzutauchen. Ohne viel Vorwissen, vermutlich aber einigen (unter)bewussten Vorurteilen, mischte ich mich – mehr oder weniger – unauffällig unter die Leute, hörte und sah viel, probierte dieses und jenes aus, tauschte mich aus, lernte, hörte zu und kommentierte. Das Leben in einer Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, beinhaltete Herausforderungen für mich, gerade in der Vorbildfunktion als Lehrer war manchmal das Gefühl beobachtet zu werden schon vorhanden. Auch wenn ich kaum vernetzt war, reichten mir die Schilderungen von unterschiedlichen Ortschaften, wo XY wohnt, verwandt mit Tante Erna aus der Nachbarstraße, um zu wissen, dass dieses Gefühl unter Ungarndeutschen wohl zum Standard gehört. Bei allem Spaß hat ein so enges soziales Netz natürlich Vorteile: in kritischen Fällen wird man, sofern Vertrauen in die Freunde und Familie richtig platziert ist, im Notfall aufgefangen und wieder aufgebaut. Das wird es in anonymen Großstädten definitiv so nicht geben und darf nicht als Bindemittel einer Gesellschaft unterschätzt werden. Auch im Kollegium war die Vertrautheit zu spüren und erleichterte mir persönlich den Arbeitsalltag deutlich; mit einem Lachen auf den Lippen lassen sich Herausforderungen gleich viel leichter angehen.
Einige Fragen und Gedanken, die mir zu dieser Gemeinschaft durch den Kopf spuken, haben Sie vielleicht in vorherigen Beiträgen schon vernommen ich möchte diese hier – passend zum Abschied – kurz auflisten und bin gespannt, ob ich bei meiner Rückkehr in Zukunft Antworten darauf höre, sehe und erlebe: Wohin führt der Weg die ungarndeutschen Gemeinschaft? Was ist das Selbstverständnis einer lokal verwurzelten Gemeinschaft in Zeiten hoher Mobilität? Was wird jungen Leuten, die in die Großstadt oder ins Ausland wollen, als Ankerpunkt geboten? Wohin entwickelt sich das Ungarndeutschtum auf nationaler und internationaler Ebene? Welche Verantwortung tragen wir auf europäischer Ebene? Wie können andere von den speziell ungarndeutschen Erfahrungen und dem Wissen profitie-ren? Was können andere den Ungarndeutschen vermitteln?
Ich möchte es Ihnen anhand eines Beispiels aus dem Sprachwandel zeigen, wie gewisse Veränderungen in Deutschland eingetreten sind, die ich hier nicht beobachten konnte und mich daher frage, wie sich die deutsche Sprache in Ungarn diesbezüglich entwickeln wird. Das ist keine Kritik! Ich nutze diesen Unterschied lediglich, um auf ggf. eintretende Veränderungen aufmerksam zu machen. Ob diese als gut oder schlecht zu bewerten sind, muss jede und jeder von Ihnen hier selbst entscheiden. Wer aufmerksam gelesen hat, wird meist das Gendern bemerkt haben. Ich möchte hier gar keine kritische Reflexion zu dieser Veränderung der deutschen Sprache vornehmen, sondern einfach sagen, dass mir das Fehlen des Genderns in der Sprache der Ungarndeutschen aufgefallen ist. In Zeiten, in denen Pluralität, heterogene Gesellschaften und Individualität zunehmen, wird Sprache höchstwahrscheinlich auch sensibler und mehr Rücksicht nehmen. Fraglich ist daher, welches Bild die ungarndeutsche Sprache – vorausgesetzt Gendern wird automatisch mit Akzeptanz gleichgesetzt, was natürlich viel zu einfach argumentiert wäre und ich hoffe, Sie verstehen, dass ich dies nur ausdrücke, um eine Argumentationsebene zu haben – vermittelt, wenn die sprachliche Akzeptanz nicht vermittelt wird? Sind Menschen, die sich nicht als Damen und Herren identifizieren auch willkommen? Wie schaut es aus mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau, wenn grundsätzlich vermittelt wird die „Mutti“ kümmerst sich um den Haushalt und der „Vati“ um die Arbeit? Gelingt es uns so junge Frauen, denen die ganze Welt offen steht, für das Leben in ungarndeutschen Gebieten zu begeistern?
Losgelöst vom sprachlichen Wandel möchte Ihnen aus meiner Perspektive berichten, wie sich die Welt jungen Menschen, insbesondere in westlichen Ländern mit demographischem Wandel und zunehmendem Wettbewerb um Arbeitskräfte, öffnet: Wenn Sie einigermaßen offen für neue Eindrücke sind und neue Sachverhalte einigermaßen erschließen können, dürfen Sie (allein schon in Europa!) ihren Wohnort irgendwo zwischen Porto und Warschau bzw. Sizilien und dem Nordkap wählen. Die Frage aus Sicht der einzelnen Regionen z.B. der Puszta: Wie bekommen Sie Menschen, die willig und fähig sind, dazu, in Ihre Region zu ziehen oder dort zu bleiben? Das Argument „Es ist schön hier“ wird kaum Pluspunkte bringen, schöne Gegenden gibt es überall. So funktioniert das nicht (mehr)! Auf den Arbeitsmarkt bezogen: Arbeitgeber, die als Pluspunkte ihrer Firma aufführen, dass es pünktliche Lohnzahlungen gibt und eine Obstkorb als sog. Benefit (kostenlose „Leistungen“ des Arbeitgebers), brauchen sich nicht wundern, wenn ich als Arbeitnehmer im Umkehrschluss als Pluspunkt meiner Kompetenzen „Erscheine pünktliche auf Arbeit“ erwähne. Sie können noch so schimpfen, dass jüngere Generationen verwöhnt sind, sie befänden sich in guter Gesellschaft mit griechischen Philosophen, die bereits vor 2500 Jahren über die nachfolgenden Menschen schimpften; Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und behaupte, ein wenig Fortschritt in diversen Bereichen hat die Menschheit seitdem schon erzielt.
Daher wieder die Frage an Sie: was bieten Sie jungen Menschen in der Gemeinschaft der Ungarndeutschen? Mir hat die Zeit dort gefallen, gar keine Frage. Ich möchte die Erfahrungen auch nicht missen. Sehe ich mich deswegen auf Dauer in ländlichen Gegenden? Ehrlich gesagt eher nicht und das ist ja auch völlig ok. Niemand würde es mir oder Ihnen übel nehmen, wenn Sie sagen, das Leben in Großstädten sei nichts für sie, es fehlen die Volksfeste, jahrzehntelangen Nachbarn, Gemeinschaft, die Ruhe des Landes. Aber Städte haben den Vorteil, dass sie (fast immer) automatisch größer werden, während ländliche Regionen aktiv um Zugezogenen kämpfen müssen. Natürlich ließe sich das auch über hohe Geburtenraten lösen, aber das dürfte schwierig zu steuern sein. Ich bin mit mehr Fragen aus Baaja gegangen als ich kam. Ich kann mich nur wie-derholen, das ist keine Kritik. Ich versuche vieles pragmatisch und lösungsorientiert anzugehen, nur dadurch kann meines Erachtens Fortschritt erzielt werden.
Es war mir eine große Freude am UBZ persönlich extreme Fortschritte in meiner Person als Lehrkraft durch die Begleitung des Teams zu erleben, allein dafür kann ich auch in Zukunft dankbar sein. Mich interessiert extrem, wie die Geschichte der Ungarndeutschen weitergeht. Wohin schippern die Ulmer Schachteln? Richtung Europa, Richtung Zukunft, Wohlstand und Fortschritt? Oder sind die Schachteln zufrieden mit dem Erreichten? Auch das wäre natürlich in Ordnung, nur dann sollte man nicht eines Tages aufwachen und erstaunt feststellen, dass die Welt um einen herum sich verändert hat. Gehen Sie gemeinsam ans Steuer und setzen Sie ihren Kurs, die friedlichen Zeiten von Europa sind – bei allem Streit und aller Diskussion – fruchtbarer Boden für den Austausch von Ideen. Ich schreibe diese Zeilen von Mallorca, da ich spontan im Frühjahr entschieden hatte für zwei Monate hier als Guide von Mountainbiketouren zu arbeiten; eine interessante Wendung, auch für mich keine Frage. Wenn man will und einigermaßen flexibel ist, kann man individuell und als kollektiv echt eine Menge erreichen, gerade als Menschen, die Energie, Ideen und Spaß am Leben haben. Die Frage ist: Was wollen Sie erreichen? Ein dazu bestens geeigneter Satz, der anstrengend ist, aber viel Wahrheit beinhaltet: Die beste Zeit anzufangen ist heute. Machen Sie es gut, vielleicht sieht man sich ja nochmal bei einem Weinkellerdorffest wieder!