Von Richard Guth
(August 2022) Dass es eine Fortsetzung meiner Reisenotizen vom Herbst 2019 geben wird, als ich mit einer Reisegruppe der Jakob-Bleyer-Gemeinschaft in Siebenbürgen verweilte, dachte ich mir nicht wirklich. Aber die vielen persönlichen Begegnungen, die Informationen und Einblicke, die ich gewonnen habe, ließen mir keine andere Wahl, als zur Feder oder besser gesagt zur Tastatur zu greifen und diese zu notieren.
Diesmal war es eine komplette Rundreise von Eisenmarkt über Karlsburg, die Kreise Weißenburg, Hermannstadt, Mieresch, Kronstadt, Harghita, Klausenburg und Bihar, bis zur Stadt im Partium, Großwardein. Überall begegnete ich Rumäniendeutschen, kein Wunder, gilt der August als Zeit der Heimaturlaube der ausgewanderten Siebenbürger Sachsen. Aber nicht ausschließlich Heimaturlauber traf ich auf der Reise, sondern auch Daheimgebliebene und Zurückgekehrte.
Gleich am ersten Tag, nach der Übernachtung in einer Pension nahe Hermannstadt, die von einem rumänischen Ehepaar, dessen Kinder in Deutschland leben, schön hergerichtet wurde, begegnete ich in einem Dorf unweit des Sitzes des Sachsenbischofs einem Mittdreißiger, der mit Familie auf Heimaturlaub ist: „Papa, ein Fotograf”, ruft der sechsjährige Sohn, ich stelle mich vor. Die Besucher leben in Franken, der Mittdreißiger verließ das Dorf, das – nach seinen Erinnerungen – bis zum Sturz Ceauşesus „fast ausnahmslos von Sachsen bewohnt wurde”, als er in etwa so alt war wie sein Sohn jetzt. „Alles war hier deutschsprachig, die Schule, die Kirche, die Bevölkerung”, so der Mann. Auch wenn er bereits in Deutschland aufgewachsen ist, berichtet er von einem seltsamen Fremdheits-Gefühl und führt dieses auf die fehlenden Bindungen zurück, die über das Gemeinschafts- und Vereinsleben entstehen (was in Siebenbürgen das Netz der Nachbarschaften bedeutete): „Bei meinem Sohn ist das selbstverständlich, er spielt ja im Verein mit. Ich habe vor kurzem angefangen, mich im Vereinsleben zu engagieren – und jetzt spüre ich langsam, angekommen zu sein.”
Wir verlassen das Dorf in Richtung Hermannstadt. Die nächste Begegnung lässt nicht lange auf sich warten, auch wenn es sich dabei nicht um Siebenbürger Sachsen handelt. Vor dem Büchercafé Erasmus hält kurz ein Bully, der Fahrer spricht einen vorbeifahrenden Fahrradfahrer an – auf Deutsch. Grund genug, mich dazuzugesellen. Wie es sich herausstellt, handelt es sich bei den Leuten um Deutsche, die nach Siebenbürgen kamen: „Siebenbürger Sachsen findet man hier kaum noch”, so der Fahrer. Seine rumänische Frau nickt. Wie es sich herausstellt, leiten die beiden eine deutschsprachige Schule und haben sich in Deutschland kennen gelernt. Auch ein Stück Deutschsein inmitten von Siebenbürgen.
Aber die Reise geht Richtung Mediasch weiter. Ziel ist eine Kirchenburg (von vielen), unser Besuch ist angekündigt. In der Kirchenburg empfängt uns eine Madjarin, die mit einem heimgekehrten Siebenbürger Sachsen verheiratet ist – der Mann ist einer von nur noch zwei Deutschen im Ort. Das Ehepaar kehrte nach der Pensionierung des Mannes nach Siebenbürgen zurück – Heimat bleibt Heimat. Etwas anders gestaltet es sich bei einer Familie, die sich zur gleichen Zeit in der Burg aufhält. Es geht auf Sächsisch weiter, ich höre aufmerksam zu. Manche Wörter versteht man, aber vieles auch nicht, die Sprache aus dem 12. Jahrhundert steht dem Luxemburgischen nahe. Aber zurück zur Familie: Sie nahmen vor ihrem Kroatienurlaub einen Abstecher in die alte Heimat, die die Kinder, bereits in Deutschland geboren, noch nicht erleben konnten. Zwar steht das Haus des Familienvaters nicht mehr, dennoch bleibe auch für ihn Heimat – die er als Kind verlassen hat – Heimat. „Unser Ziel ist es, dass die Kinder Siebenbürgen kennen lernen”, weiht uns das Ehepaar ein.
Viel engere Verbindungen pflegt ein Mittvierziger aus einem Dorf nahe Schässburg, der seit Jahrzehnten in Bayern lebt: „Ich verbringe an die zehn Wochen im Jahr in Siebenbürgen”, erzählt er. „Haben Sie es bereut, Siebenbürgen zu verlassen?”, will ich wissen. Er verneint die Frage und sagt, die Übersiedlung habe eine Emanzipation bedeutet und den Unternehmergeist geweckt. „Aber alles ist anders geworden hier”, das sagt bereits ein Daheimgebliebener, der dabeisteht, und bringt ein konkretes Beispiel: „Als es noch Nachbarschaften gab, zog die Jugend singend durch die Gassen. Wenn gebaut wurde, packte die ganze Nachbarschaft an, das war völlig selbstverständlich. Hier bei uns traf man sich noch bis 2008, um Maiskolben zu schälen. Auch das gibt es nicht mehr.” Interessant ist die Einstellung der beiden zu den Roma, die sie als wichtige Helfer gerade in der Landwirtschaft betrachten. Kritischer sehen sie die Rumänen, wenngleich der Daheimgebliebene intensive Beziehungen, auch verwandtschaftlicher Natur, zu ihnen pflegt.
Wir übernachten im Nachbardorf, der Weg führt über Gemeinden, in denen auffällig viele Autos mit deutschem Kennzeichen parken. Vor den Häusern sitzen sie, die ausgesiedelten Sachsen, die sich im August, zur Zeit der Schulferien in den südlichen Bundesländern in der alten Heimat treffen. Treffen bedeutet auch Feste, wie uns im nächsten Dorf – bereits im Kreis Kronstadt – vor Augen geführt wird. „Der Chef”, wie ihn die jüngeren Männer nennen, blieb im Dorf, während fast alle das Dorf verlassen haben. Schwere Zeiten seien es gewesen, aber gerade in den letzten Jahren habe sich das Dorf dank dem Tourismus eindrucksvoll entwickelt. „Jetzt haben wir ein gutes Auskommen”, so der Mann, der lange Jahre Kurator der evangelischen Kirchengemeinde war. Man gewinnt fast den Eindruck, nur Ältere seien geblieben. Widerlegt wird dies im nächsten Ort – ein junger Freiwilliger (der letzte sächsische Jugendliche im Ort, wie er sagt) empfängt uns an der Kirchenburg. Wie es sich herausstellt, entstammt er einer binationalen Ehe, was die Familie nicht daran hinderte, den Kindern auch das Sächsische beizubringen. Er besucht eine weiterführende deutsche Schule in einer nahegelegenen Stadt, in der alle Fächer auf Deutsch unterrichtet werden – jedenfalls auf dem Papier, denn es mangele an deutschsprachigen Lehrerinnen und Lehrern.
Und zum Schluss ein letzter Lebensweg: Ein Altersgenosse des ehemaligen Kurators war nach wenig erfolgreicher Unternehmertätigkeit, wie er sagt, in die Siebenbürger Heimat zurückgekehrt, auch wenn er dabei den Kreis gewechselt hat. Hier baute er ein Firmenimperium auf, wodurch er es zu Ansehen gebracht hat: „Es gab gerade nach der Wende gute Möglichkeiten, um Geschäfte zu machen. Es wurde damals viel gebaut”, so der Geschäftsmann und blickt über die Berge hinweg Richtung Heimat im Süden.