Von Nicolaj Nienhaus
Dass Game-of-Thrones mit der ungarischen Unabhängigkeit zusammenhängt, war mir neu. Die hohe Bedeutung der Landesfarben am Revers erschloss sich mir leider ebenso wenig, wie die hohe Bedeutung eines Aufstandes für ein Land. Mein Heimatland, was seine Existenz ausschließlich diversen Kriegen verdankt, feiert diese (heutzutage) einfach nicht. Umso interessanter daher der Blick auf einen Kampf, der lange zum Scheitern verurteilt schien und erst Jahrzehnte später (1919 oder 1989?) Erfolg hatte. Lesen Sie heute, wie ein Fest auf mich wirkt, bei dem ich kein Wort verstand.
Einen Nationalfeiertag zu, nunja, feiern wäre in Deutschland schlicht und ergreifend merkwürdig, ein anderes Wort fällt mir dafür nicht ein. Wenn Sie mich fragten, welche Festlichkeiten jährlich am 03. Oktober in Deutschland stattfinden, könnte ich Ihnen – abseits der Veranstaltung in Berlin zu jedem runden Jubiläum des Mauerfalls – keine einzige nennen. Das Verhältnis zur eigenen Nation ist vielen Deutschen vermutlich einfach suspekt. Historisch bedingt erhielt die Bedrohung, die durch Nationalismus entstanden ist und entstehen kann, in deutschen Lehrplänen und der Mentalität einen Sonderplatz: Nationalismus führt zu Ausgrenzung, Ausgrenzung führt zu Stolz, Stolz führt zu Hass, Hass führt zum größten Völkermord, den die Welt je gesehen hat; knapp formuliert.
Ich verurteile andere Nationen nicht ob ihres Feiertages, verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Es ist und bleibt für mich nur einfach merkwürdig, warum ein Land seine Einzigartigkeit durch historische Ereignisse zelebrieren möchte. Aber gut, ich bin in Ungarn und eigentlich wollte ich Ihnen ja meine Eindrücke zum Nationalfeiertag des 15. März und ungarndeutscher Festlichkeiten teilen. Abseits des Feierns war mir schleierhaft, wie man sich gleichermaßen zu zwei – meines Erachtens recht unterschiedlichen – Volksgruppen zugehörig fühlen kann. Da ich keine Vorfahren habe, die aus einem anderen Kulturkreis nach Deutschland zogen, bin ich vermutlich der falsche Ansprechpartner bei der Zugehörigkeit zu mehreren Gemeinschaften und kann nur aus der Perspektive eines Menschen sprechen, dessen Eltern, Großeltern und vorherige Generationen denselben Pass hatten.
Pointe der doppelten Zugehörigkeit: in diversen Gesprächen, Schilderungen und Erlebnissen hatte ich bereits bemerkt, dass z.B. Zeitangaben oder Treffpunkte, gerade bei Vereinsaktivitäten, ungarndeutsche Menschen mehr süd- als zentraleuropäische Eigenschaften haben. Es sind mehr Ungarndeutsche, die bei einem verabredeten Treffen (19:30 Uhr) langsam um 20 Uhr eintrudeln. Das zeigte mir, dass die Einflüsse der letzten 250 Jahre nicht spurlos an den Donauschwaben vorbeigegangen waren und das bekannte Klischee der deutschen Pünktlichkeit (die Deutsche Bahn sei hier explizit davon ausgenommen) hier nicht mehr zutrifft. In manchen Facetten scheint die parallele Existenz kultureller Aspekte also eher unterschiedlich ausgeprägt.
Zur Vorbereitung des 15. März hatten wir in der Schule unsere eigenen Rosetten in den Nationalfarben vorbereitet. Auch das schien mir surreal: die Farben meines Landes zu zeigen. Mir war nicht klar, was ich damit ausdrücken solle. Ich hatte mich natürlich zur Geschichte eingelesen, damit ich wusste, was zelebriert werden sollte. Aber mir blieb, wie gesagt, schleierhaft, was ich durch die Rosette, die am Feiertag und auch noch wochenlang danach auf Denkmälern wirklich überall zu sehen war, ausdrücken sollte. Da die Revolutionäre seit mindestens 100 Jahren tot sein dürften, werden sie sich wohl kaum dafür interessieren, was ich trage, oder nicht? Nichtsdestotrotz, mein Stolz eigenhändig eine solche Rosette meines Erachtens ansehnlich entworfen zu haben, war nach diversen Jahren mit zwei linken Händen groß. Dummerweise kam ich mit einer Kollegin ins Gespräch, der ich ganz stolz meine Rosette zeigte. Ihre Antwort: „Oh“. Das saß. „Möchtest du eine von mir haben?“, ihre anschließende Frage. Ich verstand überhaupt nicht, was sie an meiner auszusetzen haben, war aber reflektiert genug, dass es vermutlich die bessere Entscheidung sein dürfte.
So ging ich, mit einer fremden Rosette geschmückt, zur Feier in der Schule. Das war der nächste Punkt, der mir sehr merkwürdig vorkam: der Feiertag ist am 15.03., aber in der Schule fand die Feier am 14. statt. Ich war verwirrt: Warum wird nicht einfach morgen gefeiert? Wenn es so wichtig ist, können alle zur Schule kommen zur oder Stadtversammlung gehen? Laut den Aussagen meiner Kolleginnen war es sehr wichtig das Fest auch im Rahmen der Schule gemeinsam zu begehen, was mich zwar vom Sinn verstehen ließ, aber nicht wirklich klüger machte. Ich genoss die Chance eventuell sogar zwei Feiern, am 14. und 15.03., mitzunehmen, ließ mich von meinen Fragen nicht aufhalten und war gespannt auf die Veranstaltung.
Die ganze Schule positionierte sich in der Turnhalle, jeder war da, ein Chor stand bereit, die Band auch, die Schule hatte auf jeden Fall meine Neugier geweckt! Wir nahmen an der Seite der Halle Platz, was es mir ermöglichte die Haupttribüne und die Bühne gleichermaßen zu beobachten. Es gab SchauspielerInnen, Vorträge und ein gut getimtes Programm: lang und reich an Inhalten, um Kindern (und mir) etwas zu vermitteln, kurz genug, um die Aufmerksamkeit nicht abschweifen zu lassen; versuchen Sie mal Kindern über einen längeren Zeitraum zu vermitteln sie sollten ruhig und still sitzen bleiben. Wer’s glaubt, wird selig…
Durch die Sprachbarriere hatte ich den Vorteil, auch wenn man es kaum glauben mag, mich voll und ganz auf Schauspiel, Eindrücke, Ton und vermeintliche Nebensächlichkeiten zu konzentrieren. Die Gruppe, verantwortlich für das Programm, war definitiv gut vorbereitet. Gedichte, Schauspiel, Gesang, alles saß und war exakt choreographiert. Stur wie ich bin stieß ich mich natürlich an der einseitigen Aufteilung, dass ausschließlich weibliche Schauspielerinnen stickten und die männlichen aufwühlende Reden hielten, aber ich war reflektiert genug zu erkennen, dass die Uhren vor 150 Jahren, unabhängig von meinen emanzipatorischen Wünschen, anders tickten und es zu einem authentischem Schauspiel passte. Besonders amüsant fand ich den Einsatz von Musik in diversen Choreographien, es wurde nämlich die bekannte Melodie der Serie Game of Thrones gespielt. Ich verschluckte mich kurz und versuchte mein Schnauben unter einem Husten zu verbergen, merkte aber, dass ich der Einzige war, der amüsiert schien. Die Kinder um mich kannten die Musik vermutlich nur von älteren Geschwistern, alle Kinder der Oberstufe und des Gymnasiums schienen aber ganz offensichtlich begeistert. Ziel erreicht, würde ich sagen: Wenn die Schülerinnen und Schüler den Einsatz würdigen und eventuell höhere Repräsentation ihrer Interessen und Vorliegen spüren, kann man der Dirigentin nur zu dieser unorthodoxen Entscheidung gratulieren und ihren Mut bewundern! Ein weiterer, mir unverständlicher Punkt, was Hollywood-Musik an einem Nationalfeiertag zu suchen habe, aber der Erfolg war bekanntlich sichtbar.
Am Ende wurde die Nationalhymne gesungen, die ich natürlich nicht verstand, aber deuten konnte, warum plötzlich alle aufstehen vor dem Gesang. Damit war es (in der Schule) auch vorbei. Ein interessantes Ereignis, dem ich zwiespältig und verwirrt gegenüberstand. Der Ehrlichkeit halber sei hier erwähnt, dass ich auch im Nachgang und diverse Gespräche später nicht wirklich schlauer geworden bin, warum ein Nationalfeiertag zelebriert wird. In einem Europa, das – hoffe ich doch – mehr und mehr zusammenwächst, würde ich mir mehr gemeinsame Feiertage wünschen, wobei ich natürlich auch das Argument verstehe, warum Feiertage dann überhaupt noch der Identifikation dienen sollen. Aber ehrlich gesagt: die Gründung der EU, oder einer Vorgängerorganisation, würde ich eher feiern als den 03. Oktober. Ersteres ist für mich greifbarer und zeigt seinen Nutzen durch Grenzübergänge, die man quasi nicht bemerkt, gemeinsame Währungen verschiedener Länder, Programme wie Erasmus und Vereinheitlichungen, die auch mir als Normalbürger dienen; oder beispielsweise, dass der Redakteur, der diesen Artikel veröffentlich, in der Mitte Deutschlands lebt und arbeitet, während ich auf dem Land in Südungarn sitze.
Letzteres, die Wiedervereinigung, ist, durch meinen Geburtsjahrgang von 1994, für mich nur Geschichte: dass Deutschland geteilt und nicht frei war, kann ich mir einfach nicht vorstellen. Umso wichtiger ist es daher, könne die Gegenseite argumentieren, dass mir dieses Glück durch den Tag der deutschen Einheit vor Augen gehalten wird. Ich werde nie vergessen, wie skeptisch ich gegenüber meinem Vater war, als wir das erste Mal (ich glaube, ich war ca. 10 Jahre alt) Bundesländer bereisten, die an der ehemals deutsch-deutschen Grenze liegen, und er mir weismachen wollte, dort wäre die Grenze zum anderen Deutschland gewesen. „Ist klar, Papa“, dabei weiß doch jedes Kind, Grenzen sind nur zu anderen Ländern, die ganz anders sind als die Niederlande, Belgien, Frankreich, Deutschland, usw. Ich bin (innerhalb Europas) schlicht und ergreifend ohne Grenzen aufgewachsen, was die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern mehr oder weniger auf die Sprache und Farbe der Autobahnschilder herunterbrach.
Ich muss gestehen, ich besuchte die Veranstaltung in der Stadt selbst am 15. März nicht. Natürlich war ich froh über einen freien Tag unter der Woche, aber die Motivation mir eine weitere Feier mit Reden und Feiern zu Anlässen, die vor sechs bis acht Generationen stattfanden, anzuhören, war gering. Ich freue mich aufrichtig, dass diese Feier für Ungarndeutsche die hohe Bedeutung hat, die ich am 14. erleben durfte: als Teil ihrer Geschichte, ihres Kampfes für Unabhängigkeit und Gleichberechtigung. Durch die Unterdrückung der österreichischen Krone hatte das Land nicht die Möglichkeiten seinen eigenen Weg zu gehen, sondern war gewissermaßen abhängig von der Entscheidung aus Wien. Umso fröhlicher, nicht stolzer, würde ich mir nun das Beisammensein unter nationalen Nachbarn und Freunden wünschen, oder sie daran teilhaben zu lassen durch gemeinsame Feste. Ob diese in Grenzbereichen stattfanden, kann ich natürlich nicht sagen an dieser Stelle und ich spreche somit vielleicht Ereignisse an, die es längst gibt.
Was mir einfach fehlte, war der Transfer für die Zukunft: Was lernen wir daraus? Was machen wir anders? Wie helfen wir anderen, die nicht frei ihre Entscheidungen treffen können?
Zu guter Letzt möchte ich noch eine nette Anekdote mit Ihnen teilen, die mich am 14. sehr erheiterte: Für gewöhnlich gibt es in vielen Ländern Europas (mindestens) einen von beiden Feiertag: Ende Oktober/Anfang November zum Ende des Ersten Weltkriegs, oder Anfang Mai zum Ende des Zweiten und als ein Tag der Befreiung. In beiden Fällen nähme ich gern dran teil, kann als deutscher Bürger aber nicht viel nachempfinden, sondern freue mich für meine Mitmenschen, dass sie einen so fröhlichen Tag haben, ihre Freiheit zu feiern.
Am 14. war alles anders! Ich war quasi unschuldig, hatte nicht viel mit der Sache zu tun und spielte den Beobachter. Eine nette Kollegin, die ich angesprochen hatte, ob sie auch zur Feier käme, lehnte dankend ab. Sie kommt gebürtig aus Wien und sagte mir im besten Singsang der österreichischen Hauptstadt: „Naaaa, ich denke, ich halte mich aufgrund meiner Herkunft heute einfach etwas bedeckt.“ Köstlich, wie trocken sie das sagte, natürlich nicht ohne Prise Humor, aber es war sehr interessant mal eine Staatsbürgerin eines anderen Landes zu sehen und zu kommunizieren „Ach, auch auf der falschen Seite gewesen? Kenne ich…“