Ein Dorf an der Grenze

Ragendorf/Rajka zwischen Überfremdungsängsten und Integrationsbemühungen

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Eine Reportage von Richard Guth

Wenn sie sich durchsetzen, dann stirbt dieses Dorf”, ärgert sich eine Bewohnerin von Ragendorf/Rajka unweit der slowakischen Hauptstadt Pressburg. Mit Sich-Durchsetzen sind Pläne der Bewohner Ragendorfs mit slowakischem Pass gemeint – die mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung stellen – sich in der Kommunalpolitik zu engagieren. „Sie tun nichts für die Gemeinde, zahlen keine Steuern, nicht einmal Kfz-Steuer, schulen ihre Kinder in der Slowakei ein – sie wohnen lediglich hier. Langsam sind wir so weit, dass man das Dorf und das ganze Gebiet an die Slowakei anschließen könnte”, so die Frau weiter und fügt hinzu: „Wir sind eigentlich selber schuld an dieser Situation, denn viele von uns haben Grund und Boden an die Slowaken verkauft“, mit dem Ergebnis, dass man mittlerweile Pester Preise bezahle, die sich viele alteingesessene Familien nicht leisten könnten, was zum Wegzug von Jugendlichen führe – eine Einschätzung, die sie nach ihren Angaben mit anderen teilt.

Einer der Neubürger heißt Robert Ploczek, den ich im Pressburger Einkaufszentrum Eurovea treffe, etwa 15 Kilometer nördlich von Ragendorf. Der Weg führt über den Pressburger Brückenkopf, die einst drei eigenständigen Gemeinden Sarndorf/Čunovo, Karlburg/Rusovce und Kroatisch-Jahrndorf/Jarovce, die 1947 an die Tschechoslowakei angeschlossen wurden und heute Teil der slowakischen Hauptstadt sind. Die Entwicklung der letzten 30 Jahre ist unübersehbar, Wohngebiete grenzen an Wohngebiete – ähnlich wie im Falle des Speckgürtels von Budapest an beiden Donauseiten. Ploczek wohnt seit 12 Jahren in der Wieselburger, einst rein deutschen Gemeinde Ragendorf, denn damals konnte er sein Reihenhaus in Ragendorf zum halben Preis einer Stadtwohnung in der slowakischen Hauptstadt erwerben. Ploczek selbst ist Slowakeimadjare, er wuchs im damals beschaulichen Engerau/Petržalka, ungarisch Ligetfalu, auf, das ab Ende der 1960er Jahre bis auf einige Straßenzüge einem großangelegten Plattenbauprojekt weichen musste. Er besuchte ungarische Schulen in Pressburg und brachte sich Slowakisch nach eigenen Angaben autodidaktisch bei.

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Ploczek avancierte in den letzten Jahren zum Fürsprecher der Slowaken, d.h. slowakischer Staatsbürger in Ragendorf, unter ihnen auch Slowakeimadjaren aus Pressburg und der Großen Schüttinsel, ungarisch Csallóköz: „Viele slowakische Freunde wandten sich in unterschiedlichen Angelegenheiten an mich – zum Beispiel, wenn es um eine Stromrechnung ging, weil sie wussten, dass ich Ungarisch kann”, so der Wahlragendorfer. Auch er sieht die Probleme beim Zusammenleben: „Der Bürgermeister (eine Interviewanfrage des Sonntagsblattes lehnte Bürgermeister Vince Kiss ab) und viele im Dorf mögen die Slowaken nicht, obwohl die Alteingesessenen damals und heute noch von den Grundstücksverkäufen profitier(t)en”, so Ploczek, der bei den nächsten Wahlen 2024 als Bürgermeisterkandidat antreten möchte. Überregionale Bekanntheit erlangte Ploczek im ersten Covid-Jahr, als der freie Grenzverkehr eingeschränkt war, was vielen Slowaken, die in Ragendorf wohnen, aber in der Slowakei arbeiten, ganz schön Kopfzerbrechen bereitete. Es kam zur Blockade der Autobahn M15/D2 und führte dazu, dass viele die ungarische Residentenkarte (ung. lakcímkártya) beantragten, um nach der Arbeit heimkehren zu können. Mittlerweile besitzen 6000 Ragendorfer Slowaken dieses Kärtchen, was sie nach EU-Recht berechtigt, bei den Kommunalwahlen von ihrem aktiven und passiven Wahlrecht Gebrauch zu machen. (Man schätzt die Zahl der Slowaken in Ragendorf auf über 7000, 30.000 würden insgesamt in der Grenzregion nördlich von Wieselburg-Ungarisch-Altenburg/Mosonmagyaróvár wohnen.)

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Das sieht die bereits zitierte Frau als das eigentliche Problem. Sie bemängelt, dass sie die ungarische Sprache nicht erlernen wollten: „Wie wollen sie denn eine Gemeinde wie Ragendorf leiten, sollten sie gewählt werden, wenn sie die Sprache nicht sprechen und unser Rechtssystem nicht kennen?”, fragt sich die Rentnerin. „Wenn sie zu 90 % madjarisch wären, patriotisch wie viele Slowakeimadjaren, dann hätten wir keine Probleme”, sagt die Frau, die nicht namentlich genannt werden möchte, aber nach eigenen Angaben die Ängste vieler der etwa 2300 Alteingesessenen – Madjaren und Ungarndeutsche – aussprechen möchte. Dahinter verbirgt sich ein tiefenpsychologischer Prozess: die Angst vor dem Verlust des Führungsanspruchs im vertrauten Umfeld, hier im politischen Sinne. Etwas, was nicht einzigartig ist, denkt man an die Konflikte um die politische Macht in amerikanischen Großstädten mit afroamerikanischer Bevölkerungsmehrheit, aber weißer Stadt- und Polizeiführung – genauso lassen sich auch ähnliche Ängste und Prozesse in von Roma bewohnten nordostungarischen Regionen beobachten. Die Rentnerin selbst pflege gute nachbarschaftliche Kontakte zu den Slowaken. Konflikte gebe es eher unter den Slowaken selbst, die engen Wohnverhältnisse, die man auf der Fahrt durch die Gemeinde eindrucksvoll beobachten kann, trügen dazu bei.

Tatsächlich hat man das Gefühl, dass der Ort überbaut ist, wenn man durch Ragendorf fährt, durch die Wohnsiedlungen der Neubürger – sei es durch die Straßen mit Einfamilienhäusern mit dicken Mauern abgeschirmt von der Außenwelt oder mit mehrstöckigen Häusern, die an Mietskasernen von früher erinnern – dies alles, obwohl der Bürgermeister sich bemühe, so eine der Quellen, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Dennoch fühlen sich die neuen Bewohner nach eigenen Angaben in Ragendorf wohl – viele wohnten früher in den Plattenbausiedlungen von Engerau und haben sich hier ihren Wohntraum verwirklicht, wie ein Rentner aus Pressburg, „eigentlich ein Gast hier”, wie er sagt. Der Mann ist in der Mittelslowakei aufgewachsen und ließ sich später in der Plattenbausiedlung von Pressburg-Engerau nieder. Er spricht ein fast fehlerfreies Ungarisch, was ihn, ähnlich wie Ploczek, oft dazu verdonnert, den Dolmetscher zu spielen. Der aufgeräumte Garten ist ein Kleinod und einer der wenigen, der vorne durch einen Grünstreifen und nicht eine Betonwand von der Straße getrennt ist. Der günstige Preis habe ihn hierher geführt, wie einen jungen Mann einige Häuser weiter, mit dem ich mich auf Englisch unterhalten kann. Man hätte von dem Geld für Grundstück und Einfamilienhaus eine kleine Wohnung in Pressburg erwerben können, so der Mann, den ich bei Gartengestaltungsarbeiten anspreche. Er fühle sich hier pudelwohl und bemühe sich um eine Residentenkarte, um – trotz Arbeit in der slowakischen Hauptstadt – hier anzukommen. Beide Herren nehmen die Alt-Ragendorfer als offen wahr, was sich mit den Erfahrungen der zuvor zitierten Frau deckt, die sie als generell hilfsbereit beschreibt.

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Bezüglich der slowakischen Neubürger spricht Robert Ploczek im Gegensatz zur Frau vom erkennbaren Integrationswillen; viele würden sogar Ungarisch lernen, „um eine Grundlage für den Alltag zu schaffen”. Auch gemeinschaftliche Aktivitäten wie der Dorftag oder adventliche Veranstaltungen, u. a. organisiert von der Bürgerinitiative „Közösen-Gemeinsam-Spolu”, um das Hospiz in Wieselburg-Ungarisch-Altenburg zu unterstützen, würden zu mehr Verständnis beitragen – ein Eindruck, den er mit anderen aus der Slowakei und auch mit Alteingesessenen teilt. Dabei betont ein Ehepaar mit slowakeimadjarischen Wurzeln ebenfalls, dass viele Integrationswillen zeigen würden – aber es gäbe dennoch welche, die sich hinter ihren dicken Betonmauen, von denen es einige in Ragendorf gibt, verstecken würden: „Man muss sich das so vorstellen: Hier wohnt der kleine Malocher, der bis sieben Uhr abends arbeitet und danach seine Ruhe haben möchte. Hier schuf er seine kleine Welt mit Häuschen, Hund und Hobbyraum. Klar, immer mehr Slowaken versuchen an Aktivitäten im Dorf teilzunehmen. Aber so ein Integrationsprozess braucht Zeit und vollzieht sich nicht von heute auf morgen”. Das Ehepaar betont dabei in Bezug auf die politische Dimension des Zusammenlebens, dass man als Kommunalpolitiker nur dann erfolgreich sein könne, wenn man die Menschen nicht in Slowaken und Ungarn teile, sondern sie als Ragendorfer betrachte. Und noch etwas Interessantes erzählen die Eheleute: Viele der hier Niedergelassenen seien glühende Orbán-Anhänger, was man gleichzeitig als Kritik am politischen Kurs (von Regierung und Staatspräsidentin) in der Slowakei verstehen könne, den die beiden als extrem prowestlich und liberal wahrnehmen, was aber nicht zum konservativen Denken der meisten in Ost- und Mitteleuropa passe. So verfolgten nach Angaben des Ehepaars viele Slowaken der Grenzregion die Parlamentswahlen in Ungarn, und nach dem Fidesz-Sieg im April hätten viele Bekannte ihren Niederlassungswillen in Ragendorf signalisiert.

Auch ein älterer Alteingesessener, der mit dem Fahrrad unterwegs ist – Vater Ungarndeutscher, Mutter Madjarin aus einem Dorf heute jenseits der Grenze – betont, dass man differenzieren müsste: „Auch unter den Ungarn gibt es solche und solche”. Insgesamt beschreiben weitere Interviewpartner – sowohl slowakische als auch ungarische Staatsbürger – das Zusammenleben als weitgehend unproblematisch, dennoch spricht eine Verkäuferin mittleren Alters davon, dass das alte Ragendorf nicht mehr existiere. Probleme bereiteten oft die fehlenden Sprachkenntnisse beiderseits (obwohl sich die ungarischen Geschäftsinhaber um slowakischsprachiges Personal bemühten, so einige Interviewpartner), wobei dies eher als ein Problem der Slowaken wahrgenommen wird, so die einhellige Meinung von Angestellten in den Geschäften, die sehr viele slowakische Kunden haben – ohnehin dominieren die Pressburger Kennzeichen BA, BL und BT das Straßenbild und nicht nur in den ausgedehnten Neubaugebieten rund um die Gemeinde mit den Reihen-, Ein- und Mehrfamilienhäusern, die sich schier endlos aneinanderreihen, sondern auch im Zentrum der Ortschaft.

Auch Ploczek nimmt die Grenzen dieses Miteinanders nach eigenen Angaben wahr, auch wenn anders: „Ich habe im Lebensmittelgeschäft vorgeschlagen, eine slowakische Ecke einzurichten mit Produkten aus dem Nachbarland. Ich bin auf Ablehnung gestoßen”, so der Aktivist, der sich früher in der Slowakei in der Pressburger Kommunalpolitik engagierte. „Wir planen ein Slowakisches Haus in Ragendorf, auch das Kulturhaus nutzen wir zu slowakischen Vorstellungen wie Theater. Das Ungarslowakische Theater „Vertigo” aus Budapest ist bereits bei uns im Ort aufgetreten”. Wiederum eine Entwicklung, die von den Alteingesessenen kritisch gesehen wird, so die Interviewpartnerin: „Sie nehmen mit ihren Programmen langsam das Kulturhaus in Besitz”!

Einen weiteren Zankapfel stellt die Frage der slowakischsprachigen Seelsorge dar. Auf Initiative von Ploczek hin wird in der evangelischen Kirche von Ragendorf jeden Sonntag ein Gottesdienst für die slowakischen Protestanten gefeiert. Der Pfarrer kommt aus dem slowakischen Karlsburg herüber. Der anfängliche Elan hat auch nach Ploczeks Eindruck nachgelassen, dennoch findet er den slowakischsprachigen Gottesdienst als einen berechtigten Anspruch der hier lebenden Slowaken. Das Gotteshaus beherbergte einst eine deutschsprachige Gemeinde. Die deutschsprachigen Kästchen für die Gebetbücher stehen immer noch als Zeugnisse einer untergegangenen Zeit, denn deutschsprachiges Leben existiere nur noch kaum, so die Beobachtungen von Ploczek. Wesentlich schwieriger gestalteten sich die Verhandlungen mit der Katholischen Kirche: Der Bischof von Raab sperre sich gegen die slowakische Messe. „Selbst die Ungarnslowaken in Békéscsaba haben seit gut 15 Jahren keine slowakische Messe”, beklagt sich der Katholik. Er sammelte 180 Unterschriften für die slowakische Messe, die er an Bischof András Veres schickte. In den Gesprächen kommt mehrfach die Rede auf die Ortskirchensteuer, deren rückwirkende Begleichung der Pfarrer von Ragendorf als Bedingung für das Okay zugunsten der slowakischen Messe gestellt haben soll. Die Alteingesessene findet diesen Anspruch gerechtfertigt, die slowakischen Staatsbürger hingegen nicht. „In der Bibel steht nichts von einer Zahlungspflicht”, so die Argumentation des bereits zitierten Ehepaars. Auch die bereits zitierte Frau mit deutschen Vorfahren ist gegen die slowakische Messe und erzählt von der Ankunft der „telepesek” zur Lebenszeit ihres Vaters, was sie an die Ansiedlung der Slowaken mit ihren Ansprüchen heutzutage erinnere: „Zum Glück ist auch der Kirchengemeinderat dagegen”, sagt sie. Dennoch wird es eine katholische Messe in slowakischer Sprache geben – der Bischof stimmte nach Robert Ploczeks Angaben Ende Oktober zu.

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Heute besuchen den Kindergarten 82 Kinder, darunter 30 ungarische, von denen wiederum 25 deutsche Vorfahren haben”, das erzählt die Vorsitzende der Deutschen Selbstverwaltung, Mariann Haász-Molnár. In der Grundschule, die sich in der Trägerschaft der örtlichen DNSVW befindet, würden nur vereinzelt slowakische Kinder eingeschrieben, obwohl „wir wollen, dass sie zu uns kommen”. Man würde auch Probeunterricht anbieten, in einer Schule, die einst die sprachunterrichtende Form wählte. Unter den 2300 Nichtslowaken leben nach Angaben der Vorsitzenden 400-500 Deutschstämmige, 200 von ihnen hätten sich bei den diesjährigen Wahlen registriert. Wie überall im Lande gehört Deutsch in den wenigsten Familien zur Familiensprache, wenngleich aufgrund der Nähe zu Österreich viele deutsche und deutschstämmige Einwohner die Sprache der Ahnen beherrschten. Die ehemalige Kindergartenleiterin lässt sich aber nicht entmutigen und spricht von einem geplanten „Haus der Deutschen” in einem Gebäude, das man vom Gemeinderat zur Nutzung erhalten habe.

Die drückende Hitze dieses Augusttages legt sich auf Ragendorf. Ich verlasse das Dorf mit vielen neuen Erkenntnissen. Das Dorf an der Grenze hat sich verändert. Die Zukunft wird zeigen, ob sich diese Zukunft zu einer gemeinsamen entwickeln kann.

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