Von Richard Guth
Es gibt etwas, was mich seit längerem beschäftigt. Als eifriger Konsument von Print- und Online-Medien erfährt man hin und wieder – in erster Linie aus regierungsunabhängigen und -kritischen Medien – von Fällen, wo Mitgliedern unserer Gemeinschaft Verfehlungen vorgeworfen werden – vermeintliche Verfehlungen, denn es stehen erst einmal Vorwürfe bzw. Verdachtsmomente im Raume, keine juristisch aufgearbeiteten Sachverhalte. Vor einiger Zeit ging es da um ein geplantes Gemeinschaftshaus, dessen Renovierungsarbeiten noch nicht begonnen hätten, obwohl bereits Gelder abgerufen worden seien. Oder der Fall eines Funktionsträgers, der einer verschuldeten Familie das Haus abgekauft habe und sie vor die Tür gesetzt habe, obwohl man von ihm Unterstützung in der Not erwartet habe! Aber zu dieser Sorte gehören auch Fördermaßnahmen, die für Vereine lockergemacht wurden, aber wo man jegliche Transparenz der Verwendung und vor allem deren Sinnhaftigkeit vermisst; es sind dann Projekte, bei denen man auf Anfrage keine konkreten Angaben zu Inhalt und Zielen des Projekts erhält oder diese Anfrage gar nicht erst beantwortet wird.
Oft fehlt in dieser Berichterstattung auch nicht der Hinweis auf den ungarndeutschen Hintergrund der betroffenen Personen, sei es, weil es klare Verbindungen zur lokalen deutschen Gemeinschaft und deren Institutionen gibt oder weil die Projekte direkt und indirekt die Belange der Gemeinschaft betreffen.
Eigentlich ein Fall für das Sonntagsblatt, aber so einfach ist es trotzdem nicht. Denn vordergründig stellt sich die Frage, ob vermeintliche Verfehlungen von Minderheitenangehörigen individuelle Verfehlungen sind – auch wenn dabei deutliche Bezüge zur Gemeinschaft bestehen – oder sich strukturelle Defizite des Gemeinschaftslebens zeigen. Ich tendiere dabei zum Ersteren, auch wenn man naturgemäß als Minderheit Teil von gesamtgesellschaftlichen Strukturen ist.
Wie auch immer, zeugen diese Fälle von einem hohen Maß an Integration, ein an sich erfreulicher Befund, der wiederum die Frage aufwirft, was uns Deutsche dann noch von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. Dies gilt insbesondere für die düstere Sprachsituation, die mittlerweile, bei gewissen regionalen Unterschieden, große Teile der Alterskohorten unter 70 betrifft. Die Mundart scheint verloren, aber selbst die zahlreichen literatursprachlichen Kompetenzen führen nicht zu einem Wiedebeleben von Deutsch als Familiensprache. Es gibt natürlich Familien, die auf die Weitergabe der Sprache (Mundart oder Hochdeutsch) Wert legen, aber sie stellen nur eine kleine Minderheit dar. Als praktizierender Vater ist mir bewusst, dass es nicht einfach ist, aus einem ungarischsprachigen Elternhaus kommend mit den Kindern (wieder) deutsch zu sprechen. Dennoch: Die Möglichkeiten des Spracherwerbs, sei es im schulischen Rahmen und/oder durch eine Arbeitsaufnahme im deutschsprachigen Ausland sind gegeben. Und diese Möglichkeiten nutzen auch viele, aber ohne erkennbare (oder mit geringen) Auswirkungen auf den Sprachgebrauch in den Familien und der Gemeinschaft insgesamt.
Am offensichtlichsten zeigt sich dies beim Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit – warum ist es selbstverständlich geworden, dass man ein deklariert deutsches Gemeinschaftshaus auf Ungarisch feierlich eröffnet? Warum begegnet man tagtäglich Einladungen von Vereinen und Nationalitätenselbstverwaltungen ausschließlich in ungarischer Sprache, höchstens das Wörtchen „Einladung” deutet darauf hin, dass es sich hier um eine „sváb rendezvény (Veranstaltung)” handelt. Auch hier erfreuliche Ausnahmen in Form von einsprachig deutscher oder zweisprachiger Werbung – letzteres womöglich als goldener Mittelweg, welcher der an sich traurigen Sprachsituation Rechnung trägt!
Die eingangs erwähnten Fälle zeigen aber auch eine kulturelle, mentalitätsbezogene Akklimatisation im höchsten Maße. Es gibt altbekannte Werte, die sich allzu oft als Vorurteile entpuppen, auch bezüglich uns den Deutschen: fleißig, sparsam und allseits korrekt. Ich bin mit diesen kollektiven Werten stets vorsichtig und werde oft im Alltag bestätigt. Viel wichtiger wäre bei diesen Werten die Tendenz einer kulturellen Angleichung und den Verlust der althergebrachten Traditionen zu beachten, die uns stets von anderen Bevölkerungsgruppen unterscheiden bzw. in der Vergangenheit unterschieden haben. Dies ist ein globaler Prozess, allen voran angetriebenen von der Musik- und Modeindustrie: Man hört die gleiche Musik, man trägt die gleichen Kleidungsstücke, man isst die gleichen Speisen. Dies betrifft nicht nur Jugendliche, deren Eltern (oder gar Großeltern) die Heimatdörfer verließen, um in der Fremde ein neues Leben zu beginnen, sondern zunehmend auch die Dorfgemeinschaften, deren Alltag von Überalterung, Vereinsamung und mancherorts Zuzug von Menschen anderer Herkunft geprägt ist. Diese parallel verlaufenden Tendenzen der kulturellen Ausdünnung und der kulturellen Homogenisierung bergen die Gefahr, auch unsere kulturellen Eigenheiten aufzugeben, die für viele – in Ermangelung der deutschen Muttersprache – das entscheidende Identitätsmerkmal darstellen.
Wir sind gut integriert, aber laufen gleichzeitig Gefahr, in der madjarischen Mehrheitsbevölkerung gänzlich aufzugehen – sprachlich, kulturell und mentalitätsbezogen. Dem entgegenzuwirken heißt uns nicht zu billig zu verkaufen, was oft bedeutet, die eigene Komfortzone zu verlassen. Viel Arbeit und womöglich eine Umstellung! Aber irgendwo auch etwas, was auch die Mehrheitsgesellschaft von uns erwartet!