Schicksalsfragen der Gemeinschaft am Vorabend des Wahljahres 2022
Von Armin Stein
Vorwort
Ich bin der Ansicht, dass ich dem werten Leser die Kontroversen, die die ungarndeutsche Gemeinschaft diesen Sommer in Aufruhr versetzt haben, nicht mehr vorstellen muss. Sollten Sie jedoch das Gefühl verspüren, noch nicht genug über die Feinheiten der „Causa Ritter” gelesen zu haben, kann ich Ihnen die ebenfalls im Sonntagsblatt erschienenen Artikel ”Der Mitläufer” (eine Übersetzung) und „Was bedeutet eigentlich Autonomie?” empfehlen. Meiner Meinung nach ist es richtig, dass wir uns als Gemeinschaft mit der Darstellung unserer Volksgruppe nach außen beschäftigen; jedoch ist es unerlässlich, sich auch mit dem „großen Ganzen” auseinanderzusetzen, wobei das Ziel nicht das Attackieren einzelner Personen, sondern das Aufdecken struktureller Schwächen sein muss.
Parteitreue oder Minderheit
Die ungarische politische Landschaft ist durch eine für europäische Verhältnisse extreme Polarisierung gekennzeichnet. Die beiden Lager profilieren sich durch gegensätzliche Meinungen zu nahezu jedem gesellschaftlich relevanten Thema. Die deutsche Minderheit hat in dieser Situation keine einfache Wahl, denn alle im Alltag relevanten politischen Themen werden von einer der beiden Blöcke repräsentiert. Dies wirft die Frage auf, welche Rolle die LdU in diesem Duopol spielen kann?
Das politische Ziel der LdU ist es möglichst viele ungarndeutsche Mitbürger dafür zu gewinnen, ihre Stimme für die Minderheiten- statt der Parteienliste abzugeben. Die Crux dabei ist die Wähler davon zu überzeugen, dass die Minderheiten-Themen, die die Landesselbstverwaltung repräsentiert, für die ungarndeutschen Wählenden am wichtigsten sind. Dies zwingt jede Minderheitenrepräsentation in eine Bredouille, denn je mehr sie sich in Nicht-Minderheiten-Themen profiliert, umso mehr verliert sie aufgrund des politischen Duopols an Unterstützung.
Aktivität oder Passivität
Aktuell ist die Verfahrensordnung der parlamentarischen Vertretung der Ungarndeutschen wie folgt aufgebaut: In für Minderheiten irrelevanten Themen stimmt der LdU-Abgeordnete immer mit der Regierungspartei; sollte das Thema für die Minderheit relevant sein, meldet er sich zu Wort, wird aktiv und versucht die Situation im Sinne der Minderheit zu beeinflussen. Theoretisch scheint dies eine funktionsfähige Herangehensweise an die Problematik der Repräsentation zu sein und es mag sicher Situationen geben, in denen dieser Ansatz Früchte tragen kann, – in der äußerst gespaltenen ungarischen Gesellschaft ist dieses Verfahren jedoch Gift für die Einheit der Minderheit.
Da jedoch jede Entscheidung Mitbürger – unter ihnen auch Ungarndeutsche – betrifft, gibt es aus der Perspektive des Minderheitenwählers keine „aus Minderheitenperspektive irrelevanten” Themen. Dies wurde diesen Sommer durch die „Causa Ritter“ endgültig bewiesen. Man konnte als Reaktion auf das Medienecho der Abstimmung sofort den Zerfall der Minderheitenwähler entlang der Parteiblöcke erleben. Nachdem die Probleme der aktuellen Herangehensweise eindeutig wurden, stellt sich die Frage, welchen alternativen Strategien die Repräsentanten unserer Minderheit folgen könn(t)en.
Direkte Demokratie
Dem Schweizer Modell ähnlich ließe sich ein „basisdemokratischer Weg“ einschlagen. Aufgrund der kleinen Bevölkerungszahl der Minderheit, – besonders, wenn wir uns Gedanken über die Zahl der politisch aktiven Ungarndeutschen machen -, wäre es eine Alternative Mitgliederentscheide über die einzelnen Themen zu halten. Gibt es genug registrierte WählerInnen, die die LdU zu einer Meinungsbildung bewegen wollen, müsste ähnlich zum Verfahren der Volksabstimmungen eine bestimmte Anzahl an Unterschriften gesammelt werden. Nach dem Erreichen der benötigten Zahl an Unterschriften könnten die Mitglieder in einer Wahl (hier gilt es zu bedenken, dass seit Corona Briefwahlen oder digitale Wahlen viel eher zur Alternative geworden sind, Estland ist unter den Mitgliedsstaaten der EU Vorreiter in dieser Beziehung) die Stimme der LdU bestimmen. Dies ist ein viel aufwändigeres Verfahren, welches in dieser Form in Kürze nicht verwirklicht werden kann, jedoch zeigt es die Möglichkeiten und den gemeinschaftsstärkenden Effekt der direkten Demokratie.
Eine verwässerte Version dieser Idee wäre eine Pflichtabstimmung der Mitglieder der Vollversammlung, bei der die Stimmen der Mitglieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dies ermöglicht es den Wählern der LdU sich selbst eine Meinung über ihre RepräsentantInnen zu bilden. Ein weiterer, großer Vorteil dieses Verfahrens ist, dass es unsere Vertretung in die Verantwortung nimmt und nicht die Möglichkeit gibt, sich hinter einer Regelung zu verstecken.
Funktion als Partei
In Europa ist es nicht unbekannt, dass eine Partei, die eine Minderheit vertritt, auch zu anderen politischen Themen ausgeprägte Meinungen hat wie zum Beispiel die PKK, die kurdische Partei in der Türkei, die Partei der Dänen in Schleswig-Holstein oder eben die irische Sinn Féin im Vereinigten Königreich. Diese Herangehensweise führt dazu, dass diese Partei eine eindeutige politische Verbindung der Minderheit mit bestimmten politischen Werten etabliert, – wobei erwähnt werden muss, dass diese Assoziation zwischen Minderheit und politischem Wertekollektiv eher aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft wahrnehmbar ist. Doch die Gefahr besteht, dass auch ein Teil der Minderheit aufgrund der politischen Inhalte, die sich nicht mit ihren Vorstellungen/Einstellungen/Werten decken, eine andere Partei sucht. Ob diese Herangehensweise innerhalb der ungarischen politischen Landschaft erfolgreich wäre? Eher nicht, die Spaltung der gesamten ungarischen Gesellschaft wird sich, – auch wenn nicht vollständig-, in der ungarndeutschen Gesellschaft abbilden: Die Folge dessen wäre eine Vergrößerung des politischen Risses innerhalb der Gemeinschaft.
Kleinster gemeinsamer Nenner
Eine weitere Möglichkeit ist es eine passive Strategie zu verfolgen, – anders formuliert -, eine Strategie des kleinsten gemeinsamen Nenners. Diese Strategie hätte zur Folge, dass der Abgeordnete der LdU in allen Abstimmungen neutral bleibt, außer in denen, welche die Finanzierung, Ziele und Rechte der LdU direkt betreffen. Dies vermeidet, dass sich neben einer Partei die Minderheitenvertretung profiliert. Sie konzentriert sich so auf das „Kerngeschäft” der Landesselbstverwaltung: Ausbau der kulturellen Autonomie durch Projekte, Institutionen und Förderungen. Entscheidend ist es in diesem Szenario, dass ein vertrauensvolles Verfahren bestimmt wird, um die Abstimmungen zu bestimmen, welche zum „Kerngeschäft“ gehören.
Fazit?
Es gibt keine hundertprozentige Lösung für das politische Dilemma unserer Minderheitenvertretung. Ersichtlich ist jedoch, dass unter den Gesichtspunkten des politischen Klimas und der Infrastruktur der Landesselbstverwaltung eine „passive“ Strategie die erfolgsversprechende zu sein scheint. Denn Ambitionen sollten sich lediglich auf die Kernthemen konzentrieren, die der LdU ermöglichen mit ihren eigenen Themen zu werben, ohne dass sie an den Kämpfen der Tagespolitik teilnehmen müsste. Dies bietet die Möglichkeit einen bedeutenden Teil der Wähler zu gewinnen, die sich stärker mit dem Ungarndeutschtum identifizieren als mit den verschiedenen politischen Parteien.
Schweigen ist nicht immer Gold
Es ist sicher, dass jede geplante Änderung oder eben Nicht-Änderung des politischen Verhaltens unserer Minderheitenvertretung in einem spürbaren Teil der Ungarndeutschen Unmut hervorrufen wird. Sicher ist jedoch, dass alle Ungarndeutschen – und das gänzlich und parteiübergreifend – eine bessere Kommunikation verdient haben. Unsere beiden Spitzenvertreter Frau Englender-Hock und Herr Ritter haben ihre Meinungen und Ansichten nicht rechtzeitig und gründlich der ungarndeutschen Allgemeinheit mitgeteilt. Auf den offiziellen Kanälen gab es lediglich zu den abgelehnten Plänen um die Grassalkovich- Grundschule zwei Stellungnahmen von Frau Englender-Hock. Ich hoffe, dass unsere VertreterInnen ihr Wahlvolk so sehr schätzen, dass sie nicht nur in der Zeit des Wahlkampfes mit ihm kommunizieren, sondern einsehen, dass dies während einer gesamten Amtszeit nötig ist.
Reformen müssen her!
Die Parlamentswahlen in Ungarn nähern sich langsam. In wenigen Monaten beginnt der Wahlkampf. Sofern wir als Ungarndeutsche erneut einen Abgeordneten im Parlament haben wollen, müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie dieser Abgeordnete am besten dem Ungarndeutschtum dienen kann, ohne die Gemeinschaft zu spalten oder sich in den politischen Querelen anderer Parteien zu verlieren. Es gibt viele Möglichkeiten! Die Zeit ist leider begrenzt, ich hoffe jedoch inständig, dass unsere RepräsentantInnen die richtigen Entscheidungen für die Reform der politischen Struktur unserer Volksgruppe treffen.
Schlussstrich
Der Erfolg, einen eigenen Abgeordneten im Parlament zu haben, war ein großer und wichtiger. Jedoch laufen wir Gefahr, nicht nur eben diesen Abgeordneten im nächsten Zyklus zu verlieren, sondern auch, dass die politische Teilung der Mehrheitsgesellschaft zu einer Spaltung innerhalb unserer Gemeinschaft führt.