Madjarische Sprachwissenschaftlerinnen aus der Karpatoukraine über deutsche Sprache, Minderheitendasein und mögliche Auswirkungen des neuen Sprachgesetzes
SB: Sie sind beide Wissenschaftlerinnen und arbeiten an der Ungarischen Hochschule der Karpatoukraine Ferenc II. Rákóczi – Sie hielten Mitte Dezember 2020 im Rahmen einer vornehmlich englischsprachigen Konferenz zu Bildungsfragen einen deutschsprachigen Vortrag, was bemerkenswert ist. Worum ging es auf dieser Konferenz und in Ihrem Vortrag und warum haben Sie sich für Deutsch als Sprache entschieden, obwohl Sie, Frau Lechner, am Lehrstuhl für Anglistik arbeiten?
Ilona Lechner (IL): Ich bin Germanistin, meine Kollegin ist Philologin für Englische Sprache und Literatur, aber sie spricht auch ausgezeichnet Deutsch. Auf einer Konferenz in deutscher Sprache einen Vortrag zu halten ist seltener möglich als eine in englischer Sprache. Da die Vielfältigkeit in unserem wissenschaftlichen Werdegang für uns sehr wichtig ist, haben wir diese Möglichkeit ergriffen. Auf der Konferenz gab es acht Sektionen zu verschiedenen Themenkreisen, z. B. Fremdsprachunterricht, familiärer Hintergrund der Schüler und dessen Einfluss auf den Lernprozess, Kinder mit speziellen Bedürfnissen im Bildungssystem, digitales Lernen usw. In unserem Vortrag – Motivierungsstrategien zum Fremdsprachenlernen im Tertiärbereich während der Pandemie – haben wir unsere Forschungsergebnisse über den Distanzunterricht vorgestellt.
Ilona Huszti (IH): Um die „Hegemonie“ des Englischen als Weltsprache ein wenig zu brechen, haben wir uns für Deutsch entschieden und darauf hingewiesen, dass es für uns Ungarn in Transkarpatien wichtig ist, so viele Sprachen wie möglich zu kennen und zu verwenden. Als aufgeschlossene Menschen mit europäischer Denkweise verschließen wir uns keiner von ihnen.
SB: Welchen Stellenwert genießt die deutsche Sprache in der Karpatoukraine und speziell an Ihrer Hochschule?
IL: In Transkarpatien unterrichtet man die deutsche Sprache nur noch an wenigen Schulen. So gab es bisher keinen Anspruch und keine Möglichkeit dafür, eine deutsche Fakultät an der Hochschule zu eröffnen. Die deutsche Sprache lernen die Studenten in der Fakultät für Englische Philologie als zweite Fremdsprache. Daneben wird das Deutsche als Fremdsprache für diejenigen unterrichtet, die in der Mittelschule Deutsch gelernt haben, aber es sind nur ziemlich wenige Studenten.
SB: Sie tragen einen deutschen Familiennamen, Frau Lechner – haben Sie deutsche Vorfahren?
IL: Es ist ein Zufall, dass ich als Germanistin einen deutschen Familiennamen trage. Lechner ist nicht mein Geburtsname, ihn habe ich von meinem Mann „geschenkt“ bekommen. Ob seine Familie deutsche Vorfahren hat, wenn ja, dann woher diese stammen, habe ich noch nicht nachgeforscht.
SB: Wissen Sie etwas von dem Innenleben der zahlenmäßig kleinen deutschen Minderheit in der Karpatoukraine?
IL: Zu der deutschen Minderheit haben wir fast keine Kontakte. Die ehemaligen schwäbischen Ansiedlerdörfer sind ziemlich weit entfernt von uns.
SB: Viel zahlreicher ist die madjarische Minderheit mit knapp 150.000 Seelen – wie würden Sie die gegenwärtige Lage der Minderheit beschreiben? Mit welchen Herausforderungen hat sie zu kämpfen, in sprachlicher, religiöser und wirtschaftlicher Hinsicht?
IL: In wirtschaftlicher Hinsicht hat die Bevölkerung – unabhängig von der Nationalität – sehr große Schwierigkeiten in Transkarpatien. Es gibt sehr wenige Arbeitsplätze, die Gehälter und Renten sind niedrig; die Leute versuchen im Ausland Arbeit zu finden, um etwas Geld zu verdienen. Zahlreiche Kinder sind mit den Großeltern zu Hause, während die Eltern in Ungarn, Tschechien, Deutschland usw. arbeiten. Viele wandern mit der ganzen Familie aus. Manche bleiben aber in Transkarpatien und kämpfen ums Überleben. In sprachlicher und religiöser Hinsicht gab es bis jetzt keine oder wenige Probleme oder Konflikte. Die Wirkung der neuen Gesetze werden wir erst später spüren. Wir wissen noch nicht, wie die neuen Regelungen in der Wirklichkeit funktionieren werden und inwieweit all das unser tägliches Leben beeinflussen wird.
IH: Im wissenschaftlichen Bereich haben wir meiner Meinung nach die gleichen Chancen und müssen für den Erfolg nicht außerordentlich hart kämpfen, denn für Wissenschaftler ist der Fortschritt der Wissenschaft wichtig, nicht die alltäglichen politischen Kämpfe, die zum Beispiel mit dem Sprachgebrauch zusammenhängen. Was den Glauben anbelangt: In Transkarpatien gibt es freie Religionsausübung, wir kennen keine diskriminierenden Fälle.
SB: Die Karpatoukraine war immer ein multiethnischer Raum – Madjaren, Ukrainer, Rusinen, Deutsche, Juden und Rumänen lebten zusammen – was ist noch davon geblieben?
IH: Dies ist immer noch der Fall, und immer mehr Russen leben hier, denn sie sind vor den Kämpfen in der Ostukraine nach Transkarpatien geflohen und haben sich hier niedergelassen. Die Einheimischen haben immer friedlich nebeneinander gelebt, die Konflikte werden eher von Politikern geschürt.
IL: Ich bin mit meiner Kollegin einverstanden. Bisher hatten wir keine Konflikte mit den anderen Nationalitäten und wir hoffen, dass die Leute auch im Weiteren nüchtern bleiben und sich von der Politik nicht beeinflussen lassen werden.
SB: Sie sind beide in der Wendezeit sozialisiert worden, – wir feiern dieses Jahr das 30. Jubiläum des Zerfalls der Sowjetunion –, welches Fazit der letzten dreißig Jahre würden Sie ziehen?
IH: Vielleicht denken viele Menschen nostalgisch an die Zeiten, in denen das Leben einfacher und ruhiger war?!
IL: Für mich bedeutet dieses Jubiläum, dieses Fest nichts. Ich denke, dass die ukrainische Regierung in den letzten 30 Jahren keinen Fortschritt aufweisen kann. Unser Leben hat sich verändert, weil sich die Umstände in ganz Europa, in der ganzen Welt verändert haben. Wir können reisen, durchs Internet haben wir einen Blick auf die Ereignisse in der Welt. Also diese positiven Veränderungen sind nicht der Regierung zu verdanken.
SB: Die madjarische Minderheit verfügt über ungarischsprachige Schulen von der Grundschule bis zur Hochschule – erzählen Sie bitte ein wenig über dieses Schulsystem!
IL: Es war ein sehr demokratisches System – bis jetzt. Seitdem das neue Sprach- und Bildungsgesetz in Kraft getreten ist, können die Kinder nur in der Grundschule in ihrer Muttersprache lernen.
IH: Dieses System funktionierte bisher gut. Die Kinder konnten die verschiedenen Schulfächer in ihrer Muttersprache lernen. Daneben hatten sie Stunden im Fach Ukrainische Sprache und Literatur. Mit dem Unterricht der Staatssprache gab es schon immer Probleme. Sie wird für die ungarischsprachigen Kinder nicht als eine Fremdsprache unterrichtet. Die Kinder werden in der ersten Klasse so behandelt, als ob sie sich die ukrainische Sprache schon im Kindergarten oder zu Hause in der Familie angeeignet hätten. Die Vertreter der ungarischen Minderheit haben sich mehrfach beim Ministerium darüber beschwert und rationale Gründe aufgelistet, aber die Regierung sieht die Lösung dieses Problems darin, dass die Kinder auch die anderen Schulfächer (Mathematik, Biologie usw.) in ukrainischer Sprache lernen sollen. Wie ich schon erwähnt habe, wir wissen noch nicht, wie es funktionieren wird.
SB: Das neue Sprachgesetz, das Mitte Januar in Kraft getreten ist, haben Sie schon mehrfach angesprochen – manche sagen, es würde vieles verändern, manche zeigen sich entspannt – wie würden Sie das neue Sprachgesetz einschätzen?
IL: Ich lebe in einem Dorf, wo außer wenigen Familien (vielleicht 3-4) alle Ungarn sind. Ich denke, dass dieses Sprachgesetz unser tägliches Leben nicht verändern wird, wir werden im Laden, in der Konditorei, in der Schule mit der Lehrerin usw. weiterhin ungarisch sprechen. Wenn man aber offizielle Angelegenheiten erledigen möchte, könnte man auf Schwierigkeiten stoßen.
SB: Sie pflegen in jeder Hinsicht rege Beziehungen zum Mutterland Ungarn – sehen Sie diese als Chance oder als Herausforderung?
IL: Ich denke, als beides. Es ist eine Chance für viele zum Überleben, aber als Ungar aus der Ukraine in Ungarn zu leben, ist schon eine Herausforderung. Ich bleibe mit meiner Familie lieber in Transkarpatien, solange es möglich ist, denn unser Zuhause ist hier, und ich hoffe, dass ich nicht die Einzige bin, die ähnlich denkt.
Das deutschsprachige Gespräch führte Richard Guth.
Bildquelle: https://index.hu/kulfold/2020/02/04/mta_ukrajna_oktatasi_torveny_nyelvtorveny_allasfoglalas/, abgerufen am 21.05.2021