Von Dr. Jenő Kaltenbach
Es gab zwei Volksgruppen im Ungarn der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die einen schweren Schicksalsschlag erleiden mussten: die Juden und die Ungarndeutschen. Um jegliches Missverständnis von vornherein zu vermeiden: Damit will ich ihr Los nicht gleichstellen. Zwar wurden beide wie Rinder zusammengetrieben und in Viehwagons gesperrt, aber die Reise endete für die Juden in den Vernichtungslagern, für die deutschen nur in der Verbannung.
Es gibt aber ein weiterer Unterschied, worüber nie gesprochen, geschrieben wurde, auch heute nicht. Viele, die sich als Antisemiten schuldig gemacht haben, wurden nach 1945 zur Rechenschaft gezogen und verurteilt. Antisemitismus und antisemitisches Propaganda sind heute strafbar, selbst wenn es, wie alles bei Orbán, auf eine hinterhältige, unmoralische Art und Weise, ohne Anstand und Konsequenz geschieht.
Anders bei den Deutschen, oder wie sie damals spöttisch-herablassend genannt wurden, den „Schwaben“. Es gab zwar eine offizielle Entschuldigung nach 1989, aber die „Schwabenfresser“ wurden nie verurteilt. Ich denke natürlich nicht an eine juristische Prozedur, sondern nur an ein moralisch-historisches Urteil über die Geschehnisse.
Es ginge dabei um Leute, die bis heute verehrt werden, teilweise auch als Nationalhelden gelten wie z. B. Endre Bajcsy-Zsilinszky, Dezső Szabó, Lajos Fülep, die sog. „népi írók“ (volkstümliche Schriftsteller), oder Gyula Illyés, László Németh, die alle mehr oder weniger vorurteilhafte Klischees, ungarndeutschfeindliche Texte geschrieben, die Ungarndeutschen als Gegner der Madjaren porträtiert haben.
Die ungarische Öffentlichkeit weiß z. b. bis heute nichts von György Bodor, der noch vor der Verabschiedung der Vertreibungsverordnung die Schwaben der Tolnau ins Schloss von Lendl/Lengyel getrieben hat und sie dort in unmenschlichen Verhältnissen festhalten ließ.
Thomas Mann hatte Recht: Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.