Von Richard Guth
Oft hat man als (Hobby-) Journalist das Gefühl, zu wenig Kontakt zur Basis zu haben, so dass man sich dementsprechend Themen widmet, die einige als abgehoben und die Gemeinschaft nicht betreffend empfinden. Nun hatte ich dank einer „Kampagne” des Sonntagsblattes die Möglichkeit, Eindrücke und Empfindungen unserer gewählten Vertreter in den Nationalitätenselbstverwaltungen kennen zu lernen, die durchaus ein Spiegelbild der Lage der Nation – oder besser gesagt Nationalität – sind.
In den folgenden Zeilen wird es um allgemeine Trends und Entwicklungen gehen, denn Ziel war ja nicht, die Vertreter „auszuhorchen”, sondern sie zu kontaktieren, um zu erfahren, ob unser Sonntagsblatt auch sein Ziel erreicht, das „deutsche Volk in Ungarn” über aktuelle Entwicklungen zu informieren.
Das leidige Thema „Demografie“
Es ist allgemein bekannt, dass die Bevölkerung Ungarns seit 1981 schrumpft. In den letzten vierzig Jahren bedeutete das einen Verlust von knapp einer Million Seelen, also fast zehn Prozent der Bevölkerung. Entscheidend dabei ist ein Defizit zwischen Geburten und Todesfällen in der Größenordnung von 30.000-40.000 Menschen pro Jahr, was, wie ungarische Demografen es formulieren, der Bevölkerung einer ungarischen Kleinstadt entspricht. Betrug die Zahl der Geburten in meinem Geburtsjahr 1977 knapp 250.000, sank sie bis 1989 auf 125.000 und rasch – infolge der Folgen des Transformationsprozesses – auf deutlich unter 100.000. Die Zahl um 90.000 plus-minus ist seitdem stabil geblieben, trotz des markanten Ausbaus der Familienförderung – in erster Linie im Kreise der Erwerbstätigen mit Steuerpflicht – seit 2010 (Orbán I-III), was an die Kádár-Ära der Siebziger erinnert, aber mit viel bescheideneren demografischen Erfolgen. Die Zahl der Todesfälle folgte diesem Trend nicht und verharrt auf hohem Niveau. Bei vielen Krankheitsbildern (Herz-Gefäß- sowie Krebserkrankungen) ist das Land führend in der Welt, was ja mit einer ungesunden Lebensführung der ungarischen Bevölkerung zu tun hat – von den mentalen Zerreißproben einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft jetzt ganz zu schweigen.
Davon ausgenommen sind mit Sicherheit auch die Minderheitenangehörigen nicht, wenngleich wir über viel weniger verlässliche Daten über sie verfügen. Die Statistiken zeigen im Falle der ungarndeutschen Gemeinschaft Zeichen einer deutlichen Überalterung: Während die Altersgruppe der Über-Sechzigjährigen (heute wohl Über-Siebzigjährigen) deutlich überrepräsentiert ist, finden sich bei den Unter-Achtzehnjährigen (wo es ja naturgemäß sehr stark um eine elterliche Bestimmung der Nationalität geht) kaum Bekenner zur deutschen Nationalität. Auch wenn später auch einige zu ihrer deutschen Identität gelangen bzw. gelangen werden, scheint die Zukunft unter demografischen Gesichtspunkten nicht nur für die Mehrheitsbevölkerung düster zu sein.
Ab- und Zuwanderung verändert das Gesicht „unserer” Gemeinden
Auch wenn es noch Gemeinden im ganzen Land gibt, wo die Deutschen die Mehrheit (oder sogar über 80 %) der Bevölkerung stellen, überwiegen die Kommunen, in denen – auch durch die Vertreibung bereits in ihrem Charakter als schwäbische Gemeinden geschwächt – in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein markanter Wandel stattfand: „Es sind viele Alte gestorben”, habe ich oft von den Vertretern der Selbstverwaltungen gehört und mit den „Alten” sind die alteingesessenen Mundartsprecher gemeint, die Sprache, Kultur und teilweise Identität von zu Hause mitbringen. Ihre Kinder und Enkel wohnen oft nicht mehr im Dorf, haben ihr Heimatdorf in den letzten Jahren und Jahrzehnten verlassen, um in der nahegelegen Stadt oder gar weiter entfernt ihr Glück zu suchen. Die Politik der Ausblutung der Provinz in der kommunistischen Ära – eine sanftere Variante der Dorfzerstörung a là Ceauşescu in den Achtzigern – trug nach der Wende voll ihre Blüten: Der Verlust der verbliebenen Arbeitsplätze in den kleineren Firmen und den LPGs zwang einen Teil der verbliebenen, aber stark dezimierten Bevölkerung, den Heimatort zu verlassen. Die Wendezeit brachte hierbei eine Ausweitung des Horizonts: Viele zogen/ziehen nicht mehr in die größeren Städte oder nach Budapest, sondern gleich ins Ausland; die Nummernschildvielfalt bei heimischen Volksfesten wie der Kirmes zeugt auch davon. Viele Junge, aber auch Ältere planen dabei ihre Zukunft bereits im Ausland und wenn die Rückkehrbereitschaft im Kreise der Mehrheitsbevölkerung, so einschlägige Studien, gering ist, warum sollte es bei uns anders sein?
Es gibt aber auch eine andere Tendenz, die „unsere” Dörfer prägen (wobei es natürlich immer schwer ist, alle Gemeinden über einen Kamm zu scheren – deswegen schreibe ich stets von Trends, die viele Gemeinden und nicht alle (!) betreffen): Der Zuzug von Familien, die sich zum Teil deswegen ein Haus auf dem Lande zulegen, weil es auf dem Lande günstiger zu erwerben ist. Diese Menschen, wenn sie im demografischen Sinne willkommen für die Dörfer sind, verändern oft deren Gesicht. Die Neubürger haben nach Erfahrungen der Selbstverwaltungsvertreter in der Regel kaum Bindungen zur deutschen Nationalität, wenngleich es durchaus welche unter ihnen gibt, die sich offen für dieses Erbe zeigen und ihre Kinder auf Nationalitätenschulen schicken – wenn es die überhaupt noch gibt.
Wenn das Dorf stirbt
Wegen Abwanderung, Überalterung und fehlender Zuwanderung schließt über kurz oder lang die Schule. Um dort ihrer Schulpflicht nachzukommen, werden die verbliebenen Schüler in nahe gelegene Orte gefahren. Die Schließung der Schule wird oft begleitet von der Schließung der örtlichen Sparkassenfiliale, des Dorfladens, der Post – und auch der Herr Pfarrer, der zehn und mehr Gemeinden zu betreuen hat, kommt auch nur noch selten in den Ort. Hausarztpraxen bleiben unbesetzt. So verschwinden auch die Akademiker aus dem Ort, allen voran die Deutschlehrerinnen, die vielfach Trägerinnen des lokalen (deutschen) Kulturlebens sind. Oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass man „auf’m Amt“ auch nicht immer jemanden erreicht. Weniger Einwohner bedeuten zwar nicht unbedingt weniger Aufgaben, aber auf jeden Fall weniger staatliche Unterstützung und so weniger Finanzmittel, die man zum Wohle der Bevölkerung einsetzen kann. So schränkt man zwangsläufig die Öffnungszeiten ein und schließt sich zu „körjegyzőség” zusammen – einer Art Magistratsgemeinschaft. Der Hauptamtsleiter (jegyző) eines Magistrats betreut dann mehrere Gemeinden. Diesen Wandel hat man in Deutschland bereits in den 1970er Jahren vollzogen; so wurden aus zuvor eigenständigen Gemeinden Ortsteile und aus stolzen Bürgermeistern Ortsvorsteher. Das war eine politische Entscheidung, die man in Ungarn wohl irgendwann auch wird treffen müssen, wenn die Trends anhalten.
Vereine (aber auch Selbstverwaltungen) ächzen unter Mitgliederschwund
Weniger Bewohner bedeutet aber, dass Aufgaben auf weniger Schultern verteilt werden. Dies zeigt sich auch in Doppelfunktionen, so dass zum Beispiel ein Bürgermeister gleichzeitig auch deutscher Selbstverwaltungsvorsitzender ist – ein Umstand, den man aber nicht per se missbilligen darf. Weniger Einwohner bedeuten aber auch für das örtliche Vereinswesen gravierende Folgen. Die ungarndeutschen Kulturgruppen sind weit und breit bekannt, auch wir haben mehrfach über neue Initiativen und Altbewährtes berichtet, auch wenn wir vom Sonntagsblatt durchaus ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Art von Identitätspflege haben, vor allem wenn sie ungarischsprachig geprägt ist. Neben den erfreulichen Entwicklungen beklagt man sich vielerorts über Nachwuchsprobleme, was wiederum auf die bereits skizzierten demografischen Entwicklungen zurückzuführen ist. Das ist aber gleichzeitig ein generelles, wenn nicht weltweites Problem und ist auch mitunter auf die Verbreitung alternativer und individueller Freizeitgestaltung sowie das Nachlassen von Bindungen in der Gesellschaft zurückzuführen; „Wochenendschwaben” und Heimaturlauber werden diese Lücke nicht schließen können. Aktive berichten in den Gemeinden auch von der Schwierigkeit, die dort ansässigen Menschen generell zur Mitarbeit und zum Bekenntnis zu ihren deutschen Wurzeln zu bewegen – dazu später mehr.
Eine Renaissance in den Städten?
Daraus könnte folgen, dass die alten-neuen Siedlungsgebiete der Ungarndeutschen für einen Aufschwung sorgen könnten. Die Zeichen deuten eher nicht darauf hin. Auch wenn es aktive Gemeinschaften gibt (die Anerkennung verdienen, genauso wie die in den Dörfern), geht es bei diesen Gemeinschaften um Zugezogene, die eine Gemeinschaft vielfach ohne historisch gewachsene Strukturen bilden (oder auch nicht bilden). Wenn man in die Fremde kommt, bemüht man sich erst einmal nicht darum sich abzugrenzen, sondern sich zu integrieren – nicht anders im Falle von Ungarndeutschen in einem madjarisch geprägten Umfeld. So können Bemühungen immer nur eine begrenzte Wirkung entfalten, die man aber auch nicht unterschätzen sollte. Dass aus den Städten eine neue Renaissancebewegung der Ungarndeutschen ausgehen wird, ist daher eher unwahrscheinlich.
Was grundlegend falsch läuft
Zu einer solchen Renaissancebewegung benötigte man etwas, was es – jedenfalls flächendeckend und in seiner Vollkommenheit – 70 Jahre nach Wiedererlangung unserer kollektiven Rechte, dreißig Jahre nach der politischen Wende und 25 Jahre nach der Schaffung des Selbstverwaltungssystems immer noch nicht gibt: die kulturelle Autonomie. Viele werden jetzt sagen: „Moment mal: Wir wählen unsere Selbstverwaltungsvertreter, wir haben unsere eigenen Schulen (sprich in der Trägerschaft von DNSVW) und sogar einen eigenen Abgeordneten.“- Alles richtig, aber wenn man den Kern untersucht, dann muss man in Bezug auf das Schulwesen festhalten: Was wir als „deutsche Schulen” bezeichnen, sind Schulen, in denen fast ausnahmslos deutscher Fremdsprachenunterricht (DaF) erteilt wird (als Fach Deutsche Nationalitätensprache, DaF um ungarndeutsche Inhalte erweitert, aber mit Didaktik und Methodik eines Fremdsprachenunterrichts) und zwar in fünf Wochenstunden plus einer Volkskundestunde. Das Mindeste wäre jedoch eine zweisprachige Form, in der die Hälfte der Pflichtstundenzahl (und wirklich die Hälfte) in deutscher Sprache unterrichtet wird. Immer noch nicht geschafft, jedenfalls im Gros der deutschen Nationalitätengrundschulen! Das Mindeste, aber etwas, was einen Madjaren außerhalb der Landesgrenzen auch nicht wirklich glücklich machen würde, hat er doch außer drei Rumänischstunden alles in der Muttersprache. Und da ist gleich der Hund begraben (oder einer der Hunde): Muttersprache – eine Sprache, die bei 99,9 % der Kinder ungarndeutscher Herkunft/Nationalität heute Ungarisch heißt. Das ist auch nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass unsere ungarndeutschen Kinder vielfach in Mischehen aufwachsen. Slowakeimadjarische Beispiele zeigen dazu, wie schwer es ist, trotz vorhandener Schulen mit ungarischer Unterrichtssprache („magyar alapiskola”, wie es dort heißt) die ungarische Sprache in Mischehen an die nächste Generation weiterzugeben. Dann können wir uns leicht vorstellen, dass das in Ungarn mit der deutschen Sprache umso schwieriger ist. Um einen Funken Hoffnung zu haben, dass sich dies ändern lässt, bräuchte man Schulen mit deutscher Unterrichtssprache, in denen auch in den Pausen, in der zwischenmenschlichen Kommunikation das Deutsche vorherrscht. Aber davon sind wir noch weit entfernt; stattdessen führen wir Diskussionen, warum es schädlich sei, wenn Kinder im Alter von sechs Jahren mit zweisprachigem Unterricht konfrontiert werden. Man sollte eher besorgt sein, dass das bestehende Deutschangebot von Englisch als erster Fremdsprache verdrängt wird, wobei ich am Beispiel meines Sohnes immer nur sagen kann: Kinder in diesem Alter kommen mit mehreren Sprachen gleichzeitig zurecht – im Fall meines Sohnes also mit Ungarisch und Deutsch als seinen zwei „Zu-Hause-Sprachen“ sowie Englisch dank Youtube. Die Übernahme von Schulen, bislang zahlreich geschehen, darf den Beginn eines Prozesses markieren, an dessen Ende die Zwei- oder gar Einsprachigkeit stehen soll. Dass das gerade in kleineren Orten mit nur einer Schule u. a. aufgrund der heterogenen Schülerschaft und des Lehrermangels schwierig ist, soll dabei nicht geleugnet werden. (Der Lehrermangel betrifft ja das ganze Land und die Wirkung des neu aufgelegten Stipendienprogramms ist mangels struktureller Reformen fraglich.)
Die Volkszählung und die Angst vor den Zahlen
Vieles dreht sich heute um Zahlen: Wie viele haben sich als Deutsche registriert? Erreichen wir die magische Zahl von 100? Was geschieht mit den Ergebnissen der Volkszählung 2021? Für Wirbel sorgten vor anderthalb, knapp zwei Jahren die Bestimmungen der Volkszählung, die nächstes Jahr durchgeführt werden soll. Die damalige LdU-Vorsitzende Olivia Schubert protestierte gegen die namentliche Erfassung der Daten. Das Gesetz verfügt zwar darüber, dass die richtigen Namen sofort pseudonymisiert werden sollen und lediglich bis zum Abschluss der Volkszählung aufbewahrt und dem Statistischen Landesamt (KSH) auch in anonymisierter Form – im Gegensatz zu anderen Daten – nicht zur Verfügung gestellt werden dürfen, dennoch ist die Angst bei vielen da, dass die Namensangabe dazu führen könnte, dass sich deutlich weniger zur deutschen Nationalität bekennen könnten als bei der letzten Erfassung im Jahre 2011. Zahlen entscheiden nämlich letztendlich über die Höhe der finanziellen Unterstützung – denn Selbstverwaltungen sind Empfänger staatlicher Unterstützung. Daneben hat sich unter der Ägide des Fondsverwalters Gábor Bethlen ein Punktesystem etabliert, das Projekte anhand der Ergebnisse der betroffenen DNSVW in der Vergangenheit unterstützt.
Worauf es ankommt
Zahlen(spiele) vermögen es, über die tatsächliche Lage hinwegzutäuschen. Entscheidend ist für uns, dass wir das, was hinter den Zahlen steckt, mit Inhalt füllen. Wer sich zur deutschen Gemeinschaft bekennt (und sich registriert), auch wenn er nur einen ungarndeutschen Freund oder einen entfernten schwäbischen Verwandten hat, ist herzlich eingeladen es zu tun. Dies gilt genauso für Menschen, die in Mischehen aufwachsen bzw. aufgewachsen sind und so unter Umständen eine doppelte oder mehrfache Bindung haben und dies auch so empfinden. Mindeststandards müsste es dennoch geben – so die Einsatzbereitschaft für die Gemeinschaft, die Kenntnis der deutschen Sprache und die Bereitschaft, diese als Vorbild aktiv einzusetzen (was vielfach das Verlassen der Komfortzone bedeutet) sowie die Selbstverpflichtung, als Multiplikator für die deutsche Identität (mit all ihren Facetten) zu werben und diese mit Inhalt zu füllen. Zum Glück hörte ich bei all den Gesprächen nur einmal den Satz: „Wir sind in Ungarn, sprechen wir daher ungarisch!” Dennoch gibt es noch viel zu tun, um die riesigen Herausforderungen, die auf uns zurollen, zu stemmen.