Von Richard Guth
Ich fühlte mich wie einst in der vierten Klasse einer Budapester Grundschule – Thema: Deutsche, die auch noch damals, über vier Jahrzehnte nach dem Kriegsende, gerne Nazis genannt wurden, nicht zuletzt dank der klanglichen Nähe der beiden Begriffe „német” (Deutscher) und „náci” (Nazi) im Ungarischen. Stereotypen, Irrglauben und äußerst primitive Betrachtung historischer Vorgänge – damals aus dem Munde unerfahrener Grundschulkinder, heute von Journalisten, von den man durchaus erwarten würde, sich dessen bewusst zu sein, was sie in die Öffentlichkeit posaunen.
Es bedarf immer eines gesellschaftlichen Klimas, was solche Dinge, die man normalerweise als No-Go betrachten würde, ermöglicht. Wir erinnern uns an das Wortspielchen eines hohen Regierungsvertreters, wogegen nicht nur Vertreter der jüdischen Gemeinde zu Recht protestierten, sondern auch Intellektuelle, die die Zündkraft solcher Aussagen erkannten. Oft habe ich das Gefühl, dass man in diesem unseren kleinen Land allzu leicht in überholt geglaubte Rollenmuster und Denkweisen zurückfällt. Oft habe ich das Gefühl, dass Anstand gerne mal über Haufen geworfen wird, wenn man sich in Sicherheit wähnt und seine Ansichten als politisch korrekt empfindet – dass die Grenze zwischen politisch-gesellschaftlich Akzeptablem und Nichttolerierbarem – je nach Großwetterlage – nicht klar definiert ist, mussten – an sich regierungstreue – Journalisten erfahren (übrigens Teilnehmer der Gesprächsrunde, über die ich in dieser Merkwürdigkeit schreibe), die nach einem antisemitisch anmutenden „Späßchen” mit dem Namen eines jüdischstämmigen rechtskonservativen ungarischen Politikers vom betroffenen regierungsnahen Fernsehsender keine Auftrittsmöglichkeit mehr erhielten.
Dass solche „Ausfälle” aber scheinbar nicht dem Zufall geschuldet waren, zeigt eine aktuelle, knapp eine Stunde lange Gesprächsrunde, womöglich treffend „Gumiszoba” genannt (Schlussteil der achtstündigen Pilotsendung „Hajónapló”), an dem die besagten Journalisten teilgenommen haben – live aufgenommen am 19. Januar 2020, für uns der Gedenktag der Verschleppung und Vertreibung der Ungarndeutschen, für sie wahrscheinlich ein Tag wie jeder andere. Gesprächsstoff lieferte der Konflikt zwischen den USA und dem Iran, was die Teilnehmer in der Sendung als Beginn des Dritten Weltkriegs werten. Schnell kommt der Hinweis auf deutsche Kriegsschuld in den letzten zwei Weltkriegen. Dabei bemühen sich die Journalisten, ihre Position zum aktuellen Konflikt allgemein verständlich zu vermitteln – dabei läuft man aber immer Gefahr, dass der Diskurs schnell Züge eines Stammtischgesprächs annimmt, fernab von jeglicher Seriosität. Schnell sind sich die Herren einig, dass sich dieser Konflikt nicht zu einem Weltkrieg entwickeln würde – gäbe es nicht die „fortschrittlichen” Deutschen, „Erfinder der Rassenveredelung” (ung. fajnemesítés). Die Deutschen wären ein Volk, das sich ständig auf der Suche nach einem Feind befände. Sie hätten nun nicht mehr die Juden als Feinde bzw. Sündenböcke (hier „Zielgruppen” genannt), sondern im Zeichen der Klimadiskussion „ihre eigenen Großmütter” (laut Runde der „dritte Versuch”). Dabei würden es die Deutschen verstehen, den Hass zu entpersonalisieren und dabei kollektiv gegen die jeweilige „Zielgruppe” vorzugehen: Hier versucht einer der Teilnehmer eine Analogie zwischen dem antisemitischen Mob der 1930er Jahre und den jugendlichen Klimaprotestlern des Jahres 2019/20 (die die Generation der Großeltern kritisieren würden) herzustellen, zumal sich die deutsche Geschichte, so einer der Herren, sich ständig wiederholen würde: In beiden Fällen habe man auf Befehl gehandelt bzw. würde man auf Befehl handeln, das liege in der Natur des Deutschen. Wenn sich die Deutschen jemanden ausgeguckt hätten, gegen den würden sie konsequent vorgehen. Auch gegen die eigenen Großmütter, womit die „Germanen” ihr eigenes Grab schaufeln würden, denn wer würde sie dann mit Essen versorgen?!, fragt sich einer der Journalisten. Ein anderer beruhigt die Runde, sie würden den „Lebensraum” (sic!) in Richtung landwirtschaftliche Flächen ausdehnen. Nach einer etwas oberflächlichen Geschichtsstunde über die Machtergreifung und die Umstände der Ausschaltung der SA geht einer der Teilnehmer erneut auf diesen „dritten Versuch” der Deutschen ein, den er einen liberalen Versuch (ungarischer Neologismus „libsizmus”) nennt, womit er der ganzen Verschwörungstheorie eine ideologische Grundlage zu verschaffen versucht. Dabei wären die wohl in großer Zahl auch „progressiv-liberalen” Omas zu einer Last geworden, wobei die Gefahr bestünde, dass Angela Merkel zum neuen Ernst Röhm werden könnte, die man versuchen würde, beiseite zu schaffen. Eine Revolution würde dabei stattfinden, wozu man aber keine Österreicher mehr importieren müsste, denn für Hass und Irrsinn könnten die Deutschen aus den „Tälern” herhalten. Danach erhalten die Zuschauer einen „fachkundigen” Einblick in das deutsche Volkslied- und Märchengut – dieses bestünde aus 25 Liedern und einigen Märchen, wo es um Aufmärsche, Scheffeln, Mord und Kindesmissbrauch gehe. Die Runde zeigt sich aber „zuversichtlich”, dass es diesmal nicht zum Verbrennen von Leichen käme, sondern man würde sich um karbonfreie Bestattungen (Kompostieren) bemühen, im Zeichen des Klimaschutzes. Also ein Bild des Deutschen, der erobert, mordet und all dies planmäßig.
Dummes Gelaber mit mehr als grenzwertigen Aussagen, um die Zeit irgendwie rumzukriegen, könnte man meinen, gäbe es nicht eine Aussage, die von Gelächtern der anderen und Ans-Kopf-Fassen eines der Teilnehmer begleitet wird: Einer der Teilnehmer ruft die Forderung des jüdischstämmigen sowjetischen Schriftstellers (fälschlicherweise als Pravda-Chefredakteur vorgestellt) Ehrenburg in Erinnerung, der meinte, man möge Deutschland nicht nur erobern, sondern auch massenweise Deutsche liquidieren, was, so einer der Teilnehmer, in Schlesien ganz gut gelungen sei. Dies hätte der NKVD-Chef Berija verhindert, was der Journalist aber missbilligt: Denn die Liqiudierung des gesamten deutschen Volkes hätte der Friedenssicherung in Europa enorm beigetragen („vertane Chance”). Jedenfalls meint der Journalist das so, auch wenn er das sprachlich unglücklich formuliert hat – denn er äußerte vorher Zustimmung, dass der sowjetische Marschall Žukov Berija später erschossen haben soll.
Darauf folgt ein Schwenk zu uns, den Deutschen in Ungarn, die in vielerlei Hinsicht mittlerweile zu Ungarn/Madjaren geworden seien, „anderssprachige Ungarn” eben. Sollten sie aber auf deutsche Initiative hin (Fünfte Kolonne-These) wieder „Volksbünde” gründen (auch wenn in „grünem” Gewand), dann sollten sie auf ihren Verstand und auf ihr Herz hören und nicht auf ihre sprachliche Herkunft. Man sollte dabei einen Unterschied zwischen den ungarländischen Schwaben und den Bundesdeutschen machen – der eine sei weißer Hautfarbe, der andere nicht mehr so, lautet darauf die Reaktion des Kollegen, eine mehr als deutlich rassistisch zu wertende Aussage.
Soweit die Runde. Meinungsfreiheit ist bekanntlich ein hohes Gut, aber damit umzugehen muss gelernt sein. Als Journalist steht man im Rampenlicht der Öffentlichkeit – die Verantwortung ist umso größer, wenn es um Produktionen geht, die aus Steuergeldern finanziert werden. Wenn man Volksverhetzung hoffähig macht, läuft Gefahr, dass sich Kräfte entfalten, die sich nicht mehr kontrollieren lassen. Das, was diese spaßigen Herren machen, ist weder humorvoll noch passt sie zu einer Sendung einer staatlich finanzierten Kulturagentur, die den Namen einer ungarischen Geistesgröße slowakischer Herkunft trägt. In Zeiten von Trollismus mag eine solche Nische ein Publikum haben, aber sie darf trotzdem nicht zum rechtsfreien Raum werden.
Nachtrag – oder: eine Entschuldigung hört sich anders an
„Als Menschen, wir bitten um Entschuldigung” – diesen Titel trug die zweite Sendung und stimmte einen hoffnungsvoll: Jeder macht ja Fehler, trifft unglückliche Formulierungen. Aber schnell wird einem klar, dass diese Entschuldigung nicht den Versöhnungsprozess fördern wird: Die vier Herren legten noch eine gehörige Schippe drauf: Sie sprechen in der Sendung von Angriffen der „Pfeilkreuzler-Presse” und meinten damit die kritischen Worte eines Abgeordneten deutscher Nationalität von der rechtskonservativen Jobbik-Partei, die von oppositionellen Presseorganen zitiert wurde, die somit rechtsextreme Tendenzen in guter Pfeilkreuzlertradition fördern würden. Das Quattro wählte diesmal eine Strategie, die darauf zielte der „deutschen Frage” absurde Züge zu verleihen: So sprechen sie vom Selbstverteidigungsangriff Nazi-Deutschlands gegen Polen. Die Runde verstünde die Kritik nach eigenem Bekunden auch deswegen nicht, weil Deutschland Russland zweimal angegriffen habe, wohingegen der genannte Journalist Deutschland nur einmal angegriffen hätte. Es sei nach Meinung der Runde legitim sich über „Tätervölker” wie das deutsch lustig zu machen, ohnehin würden das auch andere machen und nennen das Beispiel der US-amerikanischen Serie South Park. Auf der anderen Seite wäre es unangebracht sich beispielsweise über den Holocaust lustig zu machen, deren ernsthafte Beabsichtigung aber die Wiederholung des bereits erwähnten Namensspiels („Jákob-Jakab”) an dieser Stelle als fragwürdig erscheinen lässt. In der Sendung wird an mehreren Stellen das Bemühen erkennbar, dass die Teilnehmer des Gesprächs zwischen den „guten” Ungarndeutschen und den „bösen” Reichs-/Bundesdeutschen unterscheiden wollen, zumal nach eigenem Bekunden fast jeder der Teilnehmer (ungarn)deutsche Vorfahren hätte. Der bereits erwähnte Jobbik-Abgeordnete deutscher Nationalität würde dabei deutschen Interessen dienen, zumal er ja auch kein ungarländischer Schwabe sei, sondern Österreicher, was die Runde dazu verleitet ihn mit dem österreichischen SS-Obersturmbannführer Otto Skorzeny in Verbindung zu bringen, zumal ja damals Österreich das Deutsche Reich besetzt hätte und nicht umgekehrt (wohl ein Irrtum der Historiker). Nach diesem historischen Novum kehren die Journalisten wieder zur „Kritik” an den Deutschen zurück, die im Zeichen von „Ariermathematik” nun in der Klimapolitik alle EU-Kohäsionsmitteln („unser Geld”) an sich ziehen würden und dabei die EU mit Meinungsterror unter ihrem Einfluss halten würden. Einer der Herren stellt sogar die Frage, wann Deutschland die Rechnung über eine Milliarde Reichsmark für ungarische Güter begleichen würde. Zu einer Entschuldigung dringt sich nur einer der Herren durch (ob ernst gemeint, bleibt dahingestellt), der Kollege, der den besagten Liquidierungssatz von sich gab, meint, man soll dieses „deutsche Thema” lieber sein lassen. Zum Schluss zeigen sich die Herren aber zuversichtlich, dass der Endsieg nahe sei und der „dritte Versuch” gelingen werde.