Erschienen am 14. März 2019 im Online-Magazin WMN. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin Radojka Filakovity.
Deutsche Übersetzung: Richard Guth
Ich will nicht drumherumreden, mit doppelter Identität aufzuwachsen ist ein schizofrener Zustand: ein bisschen so, ein bisschen so, aber so richtig keine von beiden. Du gehörst zu diesem, aber auch zu jenem, aber so richtig nirgendwohin dazu. In diesem komischen Zwischenzustand gibt es nichts Schwierigeres – und Spannenderes –, als dich selbst zu finden und zu erkennen: Unabhängig davon, dass die Mehrheit es braucht, deine Zugehörigkeit und auf diese Weise dich selbst durch das Dranhängen eines Etiketts zu bestimmen, musst du auf keinen Fall dasselbe tun. Ein Beitrag von Radojka Filakovity.
Eine stinknormale Vorstellung dauert bei mir 15-20 Minuten. So viel Zeit nimmt in etwa in Anspruch, meinen Namen zweimal zu buchstabieren, auf Wunsch dessen Herkunft und Bedeutung zu erklären, zwecks besseren Einprägens kleine Floskeln zu produzieren, einen historischen Ausblick über meine Wurzeln zu bieten und bei Bedarf – was stets entsteht – dem lieben Deliquenten – den Masseur inbegriffen, während er einen bearbeitet – einige äußerst nützliche Wörter auf Serbisch beizubringen. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass es ein erhebendes Gefühl ist, neue Menschen kennen zu lernen, und ich mag es besonders, wenn bei einem Ereignis mehrere Fremde zugegen sind.
Achso, ich habe es fast vergessen: Ich bin Radojka Filakovity, mein Vorname kommt vom slawischen „Radost”, was „Freude” bedeuet. Mein Kosename lautet Radi – fast wie Fradi (nach dem Budapester Fußballclub Ferencváros (Franzstadt), R. G.), aber wenn wir dabei sind, höre ich auch auf den Namen Dorka, weil wenn jemand durch ein Wunder nicht einmal fähig ist, sich Radi einzuprägen, dann nennt er mich meistens so. Also, ich bin mütterlicherseits Madjarin, väterlicherseits Serbin.
Meine Vorfahren kamen nach dem Ende der osmanischen Herrschaft ins heutige Ungarn und ließen sich in dessen südlichen Teil nieder. Die serbische Kultur und Traditionen haben sie über die Religion und Muttersprache bewahrt.
Ich könnte länger darüber schreiben, wie sie fern des Mutterlandes die schicksalsträchtigen Jahrhunderte der Geschichte überstanden, und darüber, wie sie sich in ihrer neuen Heimat integrierten. Ich könnte über die Traditionen, die Religion und über die Sprache selbst erzählen, aber ich möchte lieber über mich selbst, meine Familie erzählen. Darüber, was es bedeutet, in eine biethnische Ehe hineingeboren zu werden, in einer zweisprachigen Familie aufzuwachsen, wie man es schafft neben der doppelten Identität sich selbst zu erkennen – Spoiler: es ist gar nicht so einfach – und was es bedeutet zu einer ethnischen Minderheit zu gehören in einem immer intoleranteren Umfeld.
Fragen, die du nie an einen Menschen mit doppelter Identität stellen sollst
Fangen wir ganz vorne an. Ich stamme aus einer zweisprachigen Familie: Mit der mütterlichen Linie kommuniziere ich im Alltag auf Ungarisch, mit der serbischen auf Serbisch. Da es meine Muttersprache ist, denke, schreibe, träume und liebe ich auf Ungarisch – selbst Serbisch spreche ich mit ungarischem Akzent. Ungarn ist meine Heimat, aber hinsichtlich Religion und Traditionen bin ich serbisch. Für die Serben im Mutterland bin ich zu ungarisch/madjarisch, für die Madjaren/Ungarn bin ich zu serbisch. Das erschwerte meine Selbstbestimmung enorm.
Wenn du dich ethnisch von der Mehrheit unterscheidest, dann musst du stets deine Herkunft erklären – und oft auch rechtfertigen.
Bis zum heutigen Tage enden die oberflächlichsten Gespräche blitzschnell bei einer der für mich intimsten Fragen: Bist du jetzt Madjarin oder Serbin? Als was fühle ich mich eher? Warum eher als das Eine und nicht als das Andere? Wenn ich Kinder habe, wozu will ich sie erziehen: „Mache” ich aus ihnen „Serben”? Letzteres fiel übrigens bei einem Vorstellungsgespräch, ich denke, ich muss es nicht näher erläutern, warum es für mich in mehrfacher Hinsicht peinlich war.
Darüber hinaus, dass ich diese Befragungen manchmal als ausgesprochen unangenehm empfand, war es mir lange Zeit nicht klar, welche Antworten ich auf diese Frage geben soll, denn das „ein wenig beides” befriedigte in den seltensten Fällen meine Gesprächspartner. Sie haben eine klare, eindeutige Reaktion erwartet, eine Bekenntnis zugunsten der einen oder der anderen Seite, was ich nicht selten so erlebt habe, dass ich wegen meinem Serbentum mein Madjarentum verleugnen soll und umgekehrt. Es kam vor, dass ich mich ins endlose Argumentieren verwickelte, und es kam vor, dass ich auf den ausgeflippesten Parties spontane Geschichtsstunden hielt. Es dauerte lange, bis ich meine eigenen Antworten auf diese keinesfalls diskreten Fragen gefunden habe, aber als es passierte, berührten sie mich nie wieder.
Warum kommt der Nikolaus (Väterchen Frost) nicht zur gleichen Zeit zu uns wie bei den „normalen Kindern?”
In Ungarn leben seit Jahrhunderten Serben. In dieser Zeit konnten wir unsere Kultur, Sprache und unsere nationale Zugehörigkeit über die Religion und die damit verbundenen Traditionen bewahren – es ist kein Wunder also, dass diese bis heute eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen. Deshalb war es, als meine Eltern die Hochzeit planten, gar keine Frage, dass meine madjarische Mutter katholischen Glaubens zur serbischen Orthodoxie konvertiert – so pflegen wir in der Familie die Bräuche, die zu dieser Religion gehören. Das hat zur Folge, dass wir die Feste gemäß des julianischen Kalenders mit einer kleinen Verschiebung feiern.
Wenn etwas, dann war das, was bei mir anfangs für viel Verwirrung sorgte.
Als ich mein Selbstbewusstsein erlangte, protestierte ich, dass der Nikolaus (Väterchen Frost) nicht zur gleichen Zeit zu uns kommt wie bei den anderen, „normalen” Kindern. Ich meinte, das Leben wäre ungerecht, weil ich im Vergleich zu meinen Freunden noch Tage auf meine Geschenke warten musste.
Anfangs war es meine felsenfeste Überzeugung, dass es sich um ein Missverständnis handelt – vielleicht hat sich Väterchen Frost bei der Hausnummer vertan -, so habe ich unerschrocken meine eigenen Versuche gestartet: Ich habe meine Stiefel am 5. Dezember ebenfalls ins Fenster gestellt – man sagte selbst im Fernsehen durch, dass man es zu dieser Zeit tun sollte – und gewartet, dass ein Wunder passiert. So erging es auch meinen Eltern: Sie flehten inbrünstig, auf ein himmlisches Wunder hoffend, dass ich endlich mit dem Weinen aufhöre, aber trotzdem sind sie nicht schwach geworden.
Mittlerweile schätze ich ihre Konsequenz, unter anderem so haben sie mir vermittelt, wie wichtig die Traditionen sind, die unsere Familie pflegt, und so halfen sie mir dabei – auch wenn es mir lange nicht bewusst wurde – zu definieren, wozu ich gehöre. Schlussendlich konnte man mich wie jedes Kind, das offen für Antworten ist, mit bloßen Argumenten überzeugen: Nachdem man mir erklärt hat, dass Väterchen Frost, Jesulein und Osterhase meiner madjarischen Großeltern zur gleichen Zeit wie bei den „normalen” Kindern kommen, und meine Schwester und ich so eigentlich jedes Fest gleich zweimal feiern, habe ich aufgehört, Anstalten zu machen. Eine Zeit lang, sicher ist sicher, habe ich meine Stiefel am 5. Dezember ins Fenster gestellt.
Muss ich Angst haben, dass ich eine andere etnische Zugehörigkeit habe?
Ich war zehn, als die NATO damit begann, Serbien zu bombadieren. Mein Heimatdorf Сантово/Santovo/Hercegszántó liegt an der Grenze, ich kann mich gut an den scharfen Ton des Luftalarms erinnern und daran, wie wir abends im Bett meiner Eltern liegend hören, wie die Flugzeuge über uns herfliegen. Lediglich zwei Kilometer weiter, auf der anderen Seite der Grenze wurden Heime dem Erdboden gleichgemacht. Menschliche Existenzen gingen verloren oder veränderten sich unumkehrbar, unter ihnen auch die unserer dort lebenden Verwandten. Ich hatte Angst, dass einer der Piloten sich bei den Koordinaten vertut, und auch wir sterben müssen, dort, im Bett meiner Eltern, das bis zu dem Zeitpunkt die sicherste Unterschlupf für uns war.
Daneben gab es sehr viele Fragen, die mich beschäftigten: Ich habe nicht verstanden, warum man an solchen Menschen Rache üben muss, die für nichts verantwortlich waren. Deren Schuld es lediglich war, dass sie dort lebten, wo sie lebten, und solche sind, wie sie sind. „Teilweise sind wir auch Serben, müssen wir jetzt auch Angst haben?” – ich war noch zu klein um zu verstehen, welche Interessen die Politik beeinflussen. In diesem Monat, am 24., jährt es sich zum 20., dass die Offensive „Mercifull Angel” (Barmherziger Engel) startete, die 78 Tage dauerte. Deren Spuren trägt das Land immer noch, und ich werde diesen Zeitabschnitt auch nie vergessen, als ich zum ersten Mal Angst verspürte, weil ich eine andere ethnische Zugehörigkeit habe.
Aber auch auf das nächste Mal musste man nicht lange warten: Die Situation war natürlich eine andere, aber verursachte ähnliche Bauchschmerzen, als einige Jahre später die nationalistischen Gedanken immer mehr an Bedeutung gewannen. Und auch das, wie die Flüchtlingskrise der letzten Jahre den Fremdenhass verstärkte. Es ist nicht allzu lange her, als ein Bekannter von mir von einer Demo auf dem Kossuth-Platz postete, mit der Botschaft, dass er sich wünsche, dass sein Kind in einem madjarischen Land aufwachse.
Hat er nur eine Sekunde lang darüber nachgedacht, welches Gewicht diese Worte haben? Wie ausgrenzend und hasserfüllt es ist und was er damit seinem Kind vermittelt?
Ungarn war nie rein madjarisch, zahlreiche, hier lebende Nationalitäten haben sein Schicksal beeinflusst, bereicherten seine Kultur. Unter anderem auch die Serben, die vor der osmanischen Besatzung damals hierher flohen. Zählen sie mittlerweile auch als Fremde? Als Einwanderer, Migranten? Während mich dies unheimlich verärgert, verspüre ich auch ein hohes Maß an Mitleid: Es kann furchtbar sein, unter Hass und in Angst vor einem imaginären Feind zu leben. Und er kann furchtbar sein, das unseren Kindern weiterzugeben, anstelle sie zu Akzeptanz, Offenheit und Empathie zu erziehen. Ich habe dann vor dem Computer geschworen, dass ich nie wieder Angst verspüren will wegen meiner Herkunft.
Meine Wurzeln, meine Geschichte
Lange Zeit fiel es mir schwer, mich selbst zu definieren, aber heute bin ich dankbar für meine doppelte Identität, meinen für die Mehrheit ungewöhnlich klingenden Namen und meine Traditionen. Ich habe gelernt, mich selbst zu vertreten, und ich habe meine Ängste loslassen können, bezüglich dessen, was passiert, wenn mich andere nicht verstehen. Ich habe akzeptiert, dass ich immer ein wenig aus der Reihe tanze, aber eben aus dem Grunde bin ich diejenige, die ich bin. Weil ich weiß – wohlwissend, dass es sehr klischeehaft klingt -, dass die zwei Sprachen, die zwei Kulturen einen bereichern: Sie machen einen offener, toleranter – es braucht aber Zeit, bis man das erkennt und schätzen lernt und nicht die Lasten sieht, die mit der Verschiedenartigkeit dahergehen.
Ich weiß es heute, dass der Kirchgang, der einen als Kind unheimlich langweilt, die Nationalitätenrezitationswettbewerbe, die zweisprachigen Schulen dem Zweck dienten, meine Wurzeln besser kennen zu lernen, sich mit ihnen enger verbunden zu fühlen. Das bedeutet aber nicht, dass ich deswegen weniger eine Madjarin wäre.
Mein Serbentum bestimmt mich genauso wie mein Madjarentum, aber dank meiner Nationalität, der ich angehöre, habe ich einen Halt, einen Orientierungspunkt, ein Schutznetz in der Welt bekommen, was einem, geben wir zu, gelegen kommt. Zum Glück habe ich einen Mann gefunden, der all das versteht und akzeptiert, was damit zusammenhängt – von der Traditionspflege bis hin zur zahlenmäßig großen, lauten und sehr lebensfrohen Verwandtschaft –, und für wen es selbstverständlich ist, dass wir unsere Kinder ebenso zu Serben wie zu Madjaren erziehen werden.
Heute ist die Antwort auf die Fragen nach meiner Identität eindeutig: Ich bin ungarländische Serbin. Ein wenig dies, ein weing das. Punkt. Wenn jemand deswegen nicht weiß, wie er mich einordnen und mit welchem Etikett versehen soll, dann ist das seine Geschichte, nicht meine. Ich kenne meine und bin außerordentlich stolz auf sie.
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