von Richard Guth
Trotz Bedenken seitens der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LdU) verabschiedete das Ungarische Parlament am 12. Dezember 2018 – nebst anderer umstrittener Gesetze wie die über die Gründung von Verwaltungsgerichten und der Ausweitung der Mehrarbeit auf 400 Stunden im Jahr, was landesweit zu einer seit langem nicht erlebten Protestwelle führte – das Gesetz 101/2018 über die Durchführung der kommenden Volkszählung im Jahre 2021, das am 18. Dezember auch in Kraft getreten ist. Zwei Tage vor der Abstimmung erschien auf zentrum.hu eine Pressemitteilung der LdU, in der auf die Beschlüsse in der Dezember-Sitzung der LdU-Vollversammlung Bezug genommen wird: „Die Vollversammlung knüpfte auch an die, von der Regierung bereits diskutierte und gebilligte Gesetzesvorlage an: Laut dieser müsse man bei der Volkszählung 2021 Vor- und Familiennamen angeben. Die LdU sei besorgt, weil diese Informationen anschließend mit weiteren Datenbanken verglichen werden können und weil man dadurch theoretisch auch an bestimmte sensible Angaben herankommen kann. „Wir halten das für überaus problematisch! Wenn wir davon ausgehen, dass die Volkszählung immer noch das herkömmliche Ziel des Erstellens von Statistiken verfolgt, darf es keine Interessen geben, die wichtiger sind als die Anonymität“, räumte Olivia Schubert, die Vorsitzende der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, ein. „Wir dürfen die bei den Ungarndeutschen immer noch vorhandene Angst, die die ominöse Volkszählung im Jahre 1941 verursachte, nicht vergessen: Das Resultat jener Erhebung war nämlich im Falle von Hunderttausenden die Enteignung und die Vertreibung. Wenn diese Gesetzesvorlage nicht schleunigst modifiziert wird, müssen wir uns darum Sorgen machen, dass es sehr viele Ungarndeutsche geben wird, die davon nicht überzeugt werden können, sich zu unserer Nationalität zu bekennen. Dies würde natürlich unsere ungarndeutsche Gemeinschaft bedeutend schwächen. Darum bat die Vollversammlung unseren Abgeordneten, Emmerich Ritter, darum, im Parlament auch diesbezüglich unsere Interessen zu vertreten.“ Das Parlament verabschiedete zwei Tage später die vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Zsolt Semjén gezeichnete Gesetzesvorlage mit der umstrittenen Passage der Erfassung von Namen und Vornamen. Auf Anfrage des Nachrichtenportals index.hu wies das Statistische Landesamt (KSH) darauf hin, dass diese eine in den übrigen EU-Staaten gängige Praxis wäre, und sagte, dass man in der Vergangenheit bis auf die Volkszählungen von 2001 und 2011 auch dieser Praxis gefolgt wäre. Das Gesetz schreibt datenschutzrechtliche Mechanismen vor, die in der Praxis bedeuten sollen, dass die Daten sofort nach der Online-Erfassung automatisch pseudonymisiert würden und eine Verbindung mit anderen Daten nur bis zum Abschluss des Auswertungsprozesses möglich sein dürften. Bezüglich der übrigens freiwilligen Angaben zur Nationalität und Religion schreibt das Gesetz vor, dass es eine Verbindung zum Namen und Vornamen des Erfassten aufgrund der Pseudonymisierung nicht zustandekommen darf.
Das Landesamt für Statistik, die Vorbehalte ahnend, führte nach eigenen Angaben im Sommer 2018 eine Meinungsumfrage durch: Laut KSH hätten 83 % der Befragten Zustimmung zur Angabe des Namen geäußert – unter den restlichen 17 % könnten sich auch Minderheitenangehörige, womöglich in großer Zahl, befinden, aber das Ergebnis scheint dennoch überzeugend zu sein, obwohl Datenschutz heutzutage ein heiß diskutiertes Thema ist: So führten neulich Pläne der Regierung, sämtliche Videoüberwachungsdaten zentral zu sammeln, für Diskussionen in der Öffentlichkeit – es finden übrigens nicht nur in Ungarn solche und ähnliche Big Brother-Diskurse statt. In Deutschland unter dem Begriff „gläserner Bürger” bekannt, was auch die Pläne der Regierenden betrifft, auf Internet- und andere Kommunikationsdaten der Bürger stärker zuzugreifen.
Die LdU- Argumentation geht erstmal in eine andere Richtung: Die historischen Erfahrungen mit der Vorvertreibungsvolkszählung von 1941 würden einige, wenn nicht viele davon abhalten, sich unter Namensnennung zum Deutschtum (und/oder zur deutschen (Mutter)Sprache) zu bekennen. Durchaus berechtigte Befürchtungen, wenn ich daran denke, dass ich Mitte der 1990er Jahre, also 50 Jahre nach der Vertreibung, auf versteinerte Minen stoß, als ich in Schaumar ältere Damen, die ich in Volkstracht fotografierte, um ihren Namen und ihre Adresse bat, damit ich ihnen einen Abzug der Aufnahmen zukommen lassen konnte. Ob diese Angst die Nachkriegsgenerationen, die ja aus Altersgründen mittlerweile die größte Gruppe unter den Bekenner-Deutschen stellen, prägt, bleibt dahingestellt. Ich persönlich sehe die fehlende Vollanonymität im Kreise anderer Nationalitäten wie der Roma oder der Rumänen (am Vorabend des Trianon-Jubiläums) viel problematischer, denken wir an die ohnehin großen Vorbehalte in der ungarischen bzw. ungarländischen Bevölkerung gegenüber den Roma – übrigens auch im Kreise ihrer „Minderheitenschicksalsgenossen”, der Deutschen in Ungarn.
Das Statistische Landesamt beteuert, diese sensiblen Daten unter Einhaltung sämtlicher Datenschutzregelungen zu nutzen. Wie es in einem Rechtsstaat üblich ist – angesichts fragwürdiger Rechtspraktiken in den letzten Jahren zweifeln aber in Ungarn viele an der Existenz rechtsstaatlicher Strukturen. Diese Diskussion (übrigens werden Volkszählungen auch in Deutschland seit Jahrzehnten zivilgesellschaftlich hinterfragt) zeigt – so mein Eindruck – eher unsere – auch wenn unbewusste – gestiegene Sensibilität in puncto Datenschutz, gerade in einer vernetzten Welt, die unüberschaubar geworden ist oder zu sein scheint. Das digitale Zeitalter mit all seinen Datenschutzskandalen in der jüngsten Vergangenheit hat unser Gefühl der Unsicherheit nur verstärkt. Aber womöglich ist es auch ein Gefühl des Unbehagens einem Staat gegenüber, der in Zeiten einer weitgehenden Atomisierung der Gesellschaft unter Verwendung der Errungenschaften des technischen Zeitalters um Deutungshoheit ringt. Je nach Stärke und Schwäche der Zivilgesellschaft sind Mittel und Erfolgsaussichten unterschiedlich. Gerade im persönlichen Bereich des Bürgers bedürfte es aber mehr Sensibilität und Dialogs auf beiden Seiten. Damit die Schatten der Vergangenheit nicht Herr über uns werden.
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