Leben und leben lassen

Wie sich EU-Länder immer mehr abschotten – oder doch nicht? / ein Besuch an der österreichisch-ungarischen Grenze

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Von Richard Guth

Die Schranke wird heruntergelassen, der Verkehr kommt zum Stillstand. Ein Cityjet der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) huscht vorbei – auf seinem Weg von Ödenburg in Richtung Österreich. Die Grenze liegt nur zwei Kilometer entfernt, aber die Überquerung gestaltet sich über den Landweg seit einigen Monaten nicht so einfach wie mit der Bahn.

Seit Dezember letzten Jahres versperren Poller den Weg für hunderte Pendler aus Ungarn. Die Story ging damals durch die ungarische (und österreichische) Presse, die Empörung ungarischerseits ist auch ein dreiviertel Jahr danach groß. Die Österreicher nehmen es eher gelassen, litt ihr Dorf nach eigenen Angaben doch unter dem Pendlerverkehr. Das Sonntagsblatt besuchte Anfang April den Ort und testete die Stimmung vor Ort.

„Es ist eigentlich eine Unverschämtheit, dass ich keine Ausnahmebewilligung erhalten habe”, ärgert sich eine in Schattendorf lebende Ungarin, die die Grenze zu Fuß überquert hat und nun mit dem Auto zu den Pferden der Tochter nach Agendorf/Ágfalva fährt. Den Grund für die Sperre will ich gerne wissen und bekomme eine prompte Antwort: „Die Eltern des Bürgermeisters leben an der Straße unweit der Grenze und sie wollten den Lärm und den vielen Verkehr nicht weiter hinnehmen.” Dass es auch Glücklichere gibt, zeigt das Beispiel einer älteren Frau aus Agendorf, die in Schattendorf arbeitet. Sie besitzt eine Bewilligung für 160 Euro für zwei Jahre (63.000 Forint, wovon sie 140 Euro in Schattendorfer Geschäften einlösen kann) und siehe da, der Poller senkt sich und macht den Weg frei in das zwei Kilometer entfernte Agendorf. Die Frau ist heilfroh, nicht über Klingenbach einen Umweg fahren zu müssen, denn gerade freitagnachmittags sei der Weg zurück aus Österreich besonders beschwerlich – und tatsächlich: Autokolonnen schlängeln sich durch das Nadelöhr Anschlussstelle A3 bei Eisenstadt bis Ödenburg, als ich nach meinem Besuch in Schattendorf in die Gegenrichtung fahre.

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Wir befinden uns im österreichisch-ungarischen Grenzgebiet, lange Sperrzone, das aber seit der Wende zusammengewachsen ist. Ungarische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer pendeln nach Österreich zur Arbeit – so auch ein Großteil der Agendorfer -, in die andere Richtung fahren Österreicher um einzukaufen oder Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Der Einkaufstourismus habe nach Eindruck der Schattendorfer aber nachgelassen, nachdem die Preise in Ungarn das österreichische Preisniveau erreicht oder gar überflügelt hätten, so zwei Renternerinnen auf dem Weg in den Friedhof. Einkaufstourismus erfolge nicht nur in eine Richtung: Die örtliche Billa-Filiale erfreue sich großer Beliebtheit bei den Ödenburgern und Agendorfern – jedenfalls bis zur Errichtung der Poller an der Grenze, bewacht von einem Polizeicontainer, der heute aber verwaist ist.

„Es ist ruhiger geworden, seitdem die Poller stehen, der Verkehr war schon enorm”, berichtet ein Rentner, den ich an einem der Einfamilienhäuser in der Ortsmitte treffe. Eine junge Ungarin, die in Schattendorf arbeitet und schönstes Österreichisch spricht, sieht zwar die Problematik mit den Pollern, aber scheint sich mit der Situation zu arrangieren. Genauso wie die ungarischen Arbeitnehmer, die auf ihre Weise versuchen sich mit der Sperre zu arrangieren. Dabei haben sich beide Seiten der Grenze zu einem Parkplatz verwandelt: private Pkws auf der ungarischen Seite und oft Firmenwagen auf der österreichischen. Das Auto auf der ungarischen Seite abstellen, die paar Meter zu Fuß auf die österreichische Seite (die Straße wurde zur Fußgängerzone erklärt) und rein ins andere Auto – auch wenn die Schattendorfer Gemeindeverwaltung durch die Errichtung von 180-Minuten-Kurzparkzonen und Parkverbotszonen der legendären Kreativität der Schwäger eine Riegel vorschieben will! Das Ergebnis sei ein Katz- und Maus-Spiel, so der Eindruck der Schattendorfer, die mit stoischer Ruhe das Geschehen beobachten. Am Ende des Arbeitstages dann in die andere Richtung oder man wird auf der österreichischen Seite abgeholt, wie eine junge Ungarndeutsche aus Agendorf, die ihren Weg mit dem Schwager fortsetzt. Sie ärgert am meisten, dass durch den Poller auch das zarte Pflänzchen partnerschaftlicher Beziehungen zerstört werde – und dann fällt ganz schnell der Name des früh verstorbenen Agendorfer Lokalpatrioten Andreas Böhm. „Typisch Politiker, obwohl ich immer sage, leben und leben lassen”, verabschiedet sich die junge Frau.

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Politiker, die, so der Eindruck der bereits erwähnten jungen Ungarin, eigene Präferenzen hätten: Diese liege bei dem jetzigen Bürgermeister, Vater zweier Kinder, eindeutig bei den Kindern. Und tatsächlich handelt sich bei der Gemeindestraße an der Grenze um keine breite Hauptstraße – zumal liegen direkt an dieser Straße Kindergarten, Friedhof, Kirche und Pflegeheim eng beieinander. „Welches Kindergartenkind läuft alleine über die Straße?”, fragt sich wiederum schmunzelnd die junge Frau und deutet die wahre Stoßrichtung der Maßnahme an. Sie könne den Unmut der Agendorfer verstehen, schaut man sich die Zahlen an: Etwa 250 Schattendorfer besäßen eine Durchfahrtsberechtigung, während unter den Agendorfern nur an die 35; die beiden Gemeinden sind zahlenmäßig etwa gleich groß. Auch das eine Beobachtung der jungen Frau: Die Beziehungen zwischen Agen- und Schattendorfern seien nie so eng gewesen, wie unter den Agendorfern und Loipersbachern – wohl verbunden durch den evangelischen Glauben, während die Schattendorder katholisch sind. Ursprünglich habe man sich in Agendorf um eine Straßenverbindung mit Grenzübertrittsstelle nach Loipersbach bemüht, aber daraus wurde eine Grenzübertrittstelle in Schattendorf.

Ich verabschiede mich von Schattendorf und laufe zurück zum Wagen auf der ungarischen Seite. Dabei spielt der Poller verrückt und senkt sich und hebt sich sofort wieder, um sich wieder zu senken. „Der ist wieder beschädigt worden”, sagt daraufhin ein Schattendorfer, „der funktioniert gar nicht”. „Leben und leben lassen”, fällt mir darauf ein. Jedenfalls lassen sich Realitäten schwer durch Zäune und Poller rückgängig machen.

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