Von Robert Becker
Der Entwicklungsweg eines Volks – viel mehr noch einer Volksgruppe – liegt nicht nur in den eigenen Händen, denn regiert und gelenkt wird auch wider den eigenen Willen. Diese Tatsache muss nicht einmal angefochten werden, denn der Fortschritt muss bis in die entlegensten Ecken und Täler forciert werden, damit die Zeit nicht mancherorts noch stehen bleibt und so sich museumsreife Strukturen bewahren.
Ja, der Fortschritt ist auch dann wichtig, wenn seine Hauptströme bewahrenswerte Reste davontragen. Um dies zu verhindern, wäre es wichtig, Strukturen auszuwählen, an denen man festhalten will. Sie nehmen dann eigene Charakterzüge an und machen sie aus. So bleibt man in seiner eigenen Prägung erhalten, aber auch in der Welt nicht fremd.
Erhalten geblieben sind die Deutschen in Ungarn in diesem Land bislang trotz mehrerer schicksalhafter Einwirkungen von außen während der gemeinsamen Geschichte. Zwar in stets abnehmender Zahl, durch die Möglichkeiten dezimiert, aber nach wie vor kann man davon noch nicht sprechen, dass wir uns als bewusstseinsprägende Idee aus unseren eigenen Augen hier gänzlich verloren hätten.
Man muss diese Erscheinung sehr positiv sehen, denn es könnte noch viel mehr anders sein. Ich persönlich nehme um mich noch immer eine Basis im breiten Kreis wahr, die es sichern kann, noch in der Ferne kommender Generationen Zeichen der Existenz von uns aufzuweisen.
Eines ist jedenfalls unerlässlich, nämlich, dass man sich in der Reihe einer Kontinuität sieht, der man nicht abschwört und sich distanziert. Denn dies ist die größte Frage der Identität, ob man eines Tages nicht das Interesse dafür verliert, seiner Gemeinschaft zuzugehören.
Selbst wenn man bereits alleine ist, sieht man sich aber in seiner Abstammung. So wird man vielleicht der letzte Mohikaner sein, aber man ist verankert mit- und in seinen Ahnen. Dann existiert in einem selbst jene Gruppe, der man angehört, vollständig. Man wird nämlich nicht alleine über sich selbst Auskunft erteilen können, sondern repräsentiert bis zum Schluss seine ganze Volksgruppe in seiner Person.
Dies ist vielleicht eine als romantisch erscheinende Anschauung, aber sie stellt die reale Szene vom ehrbaren Aussterben dar. Eine einzige, letzte Person kann zum gegebenen Augenblick als Vertreter seines ganzen Volkes in Erscheinung treten – als der letzte Erbe.
Natürlich stehe es mir sehr fern, uns Deutsche in Ungarn in einer solchen Perspektive zu sehen. Jedenfalls gibt es das Verschwinden auch mit viel weniger Pathos. Das sind die kulturelle Verödung, die freiwillige Aufgabe eigener Merkmale und die Existenz als Schein nur im eigenen Interesse. In diesem Fall bleibt zwar der genetische Abdruck in einem Siedlungsgebiet nachweislich hinterlassen, sonst sucht man aber bereits vergeblich nach dem Lebensmerkmal der einst vorherrschenden Sprache und Kultur.
Behält man sich selbst im Auge, so muss man zum Ergebnis gelangen, dass es niemals egal gewesen ist, wo man herkommt und wer die Ahnen gewesen sind. Letzten Endes muss man sich ja selber vor sich selbst und vor allen anderen zu erklären wissen. Macht man sich seiner Ahnenkette fremd, so entbindet man sich zu einer orientierungslosen Gestalt, die gesinnungslos in der Welt herumtreibt. Man nimmt sich jene Chance selber, als Vertreter der Gruppe seiner Abstammung in Erscheinung zu treten.
Spricht man sich seine Herkunft ab, trachtet man danach, sich anderen Merkmalen zuzuschreiben. Es braucht Zeit, bis man sich eingliedert – bis man endgültig angenommen wird. Wie lange das dauert? Man sollte hierzulande die Kumanen oder die Jazygen fragen. Die Frage lässt sich nicht auf einem Zeitstrahl beantworten und kennzeichnen. Jedenfalls können dabei Jahrhunderte vergehen.
Wird eine ganze Gesellschaft entwurzelt, treibt sie kultur- und geschichtslos vor sich hin – dann kann es vielleicht schneller gehen. In diesem Fall hat man ja nichts mit sich zu bringen. Man kann getrost ohne jegliche Merkmale von sich selbst sein – von denen, die einen selbst ausmachen, ja auszeichnen sollten. Denn von Zeit zu Zeit reicht es in der Geschichte aus, sich durch Vermögen alleine hervorzutun – es reicht als Merkmal in aller Welt.
Wenn Reichtum globalisiert, so ist das Sein als Mensch mitsamt seiner althergebrachten Kultur zweitrangig – beziehungsweise zählt diese gar nicht. Dies sind entufernde Zeiten, die Menschen, Volksgruppen und ganze Völker mit sich tragen, um sie einzuschmelzen, als wären sie nie da gewesen.
Die Merkmale seiner spezifischen Existenz, seine Daseinsform, seine Sprache und seine Kultur – wie man diese zur Schau trägt, selber lebt, wie man sich nach ihnen definiert, sind Fragen seines Seins. Sie tragen kaum zum Budget, zur Seite des Wohlhabens bei. Bei ausreichender Routine verkauft sich aber schließlich alles für eine Anzahl an Silberlingen.
Eigentlich sollte das Den-Einen-Auszeichnende jedes Geld wert sein, um sich nicht im Morast des Augenblicks zu verlieren. Man denkt zwar für Ewigkeiten, man bleibt aber ein Wesen begrenzter Zeit. Dieses Wesen verschwindet für immer, falls es nicht von dem Fundament seines Daseins, von seiner vererbten Tradition, von seiner Sprache und Kultur all seinen Nachkommen ein gebührendes und frei verfügbares Erbe hinterlässt. Von außen her soll man jedenfalls nicht einmal auf ein Zeichen warten, das uns für heute oder für eine Zukunft bewahrt. Denn in der Frage des persönlichen Fortbestehens wie auch des Fortbestehens als Volksgruppe muss man sich auf den eigenen Willen verlassen. Das ist unsere Identität.