Bildung und Gesundheit sind die Schlüssel zum Erfolg

Im Gespräch mit der aus Kier stammenden Biologin und Hochschuloberassistentin Dr. Zsuzsanna (Orsós) Kiss

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SB: Frau Dr. Kiss, Sie sind in einem Ort namens Kier/Németkér aufgewachsen, der schlechthin als deutsches Dorf gilt – inwiefern beeinflusste dies Ihre Kindheit und Jugend und falls ja, welche Verbindungen gab es zum Ungarndeutschtum bzw. zum deutschen Erbe?

ZSK: Vielen Dank für diese Frage, Sie sind der Erste, der mich das gefragt hat. Jetzt, wenn ich zum ersten Mal in meinem Leben über diese Frage nachdenke, muss ich sagen, dass das schwäbische Erbe wahrscheinlich tiefe Spuren hinterlassen hat. Der Ort, in dem ich aufgewachsen bin, blickt auf eine Jahrhunderte alte Vergangenheit zurück. Es gab sicherlich viele wichtige Ereignisse im Leben des Dorfes, aber wahrscheinlich war eines der wichtigsten die Zwangsdeportation nach dem Zweiten Weltkrieg, die das Leben in Kier bis heute maßgeblich beeinflusst. Seit dem Kleinkindalter beobachte ich, dass die nach Deutschland vertriebenen Verwandten jeden Sommer regelmäßig zu Besuch kommen, denn die Verwandtschafts- und Freundschaftsbanden in all den Jahren blieben unzertrennlich. In solchen Momenten haben wir die großen Reisebusse bestaunt, die sie im Dorfzentrum abstellten, und uns gefreut, weil sie den Kindern immer viele Geschenke brachten, unter anderem solche Kaugummis, die man hierzulande nicht käuflich erwerben konnte. Wir haben uns über diese Mitbringsel unheimlich gefreut. Bei uns im Dorf wohnen viele Deutsche/Donauschwaben. Solange es eine Schule gab, war für die Schulkinder Deutsch Pflicht. Nicht nur die Älteren, auch die Jüngeren pflegen und bewahren die Traditionen. Es gab im Dorf schon immer eine schwäbische Volkstanzgruppe – für unterschiedliche Altersgruppen vom Kindergarten- bis zum Rentenalter. An jedem Feiertag traten sie auf in ihrer schönen Volkstracht, bereiteten die traditionellen schwäbischen Gerichte vor und feierten Schwabenbälle. Wir haben sie stets bewundert.

Leider Gottes verfügte die Romaminderheit damals (und wenn ich richtig informiert bin auch heute) nicht über eine solch starke Repräsentation. Auch als Kind habe ich die Menschen bewundert, denen es wichtig ist, Kultur und Traditionen der Ahnen zu bewahren. Ich finde es großartig und bedauere es, dass in der Volksgruppe der Băeși (Beaschen) die Sprache am Verschwinden ist, es gibt kaum noch einen, der die Sprache fließend sprechen würde. Meine Eltern haben die Sprache noch gesprochen, aber mit uns Kindern sprachen sie nur ungarisch. Das hatte natürlich eine Vorgeschichte, nämlich, als mein ältester Bruder eingeschult werden sollte, meinte der Herr Direktor zu meiner Mutter: „Schauen Sie, gnädige Frau, ihr Sohn spricht kaum Ungarisch, so können wir ihn nicht einschulen. Versuchen Sie es bis September nächsten Jahres vor dem Kind nur ungarisch zu sprechen, damit er auch die ungarischen Wörter erlernt, sonst könnte er nicht in die Schule gehen.” Meine Mutter wusste es, dass Schule wichtig ist, deshalb haben sie von da an kaum auf Băeși zu uns Kindern gesprochen und haben sich bemüht so oft wie möglich mit uns ungarisch zu sprechen. Da sie sich untereinander und mit den Verwandten weiterhin dieser Sprache (Anm.: Băeși) bedienten, haben wir die Sprache erlernt, aber nur passiv, das heißt, wir verstehen sie, aber sprechen sie kaum noch.

SB: Wie Sie sagen, sind Sie in einer Băeși (Beaschen)-Familie mit sechs Geschwistern aufgewachsen – erzählen Sie bitte ein wenig ausführlicher über die Roma-Bevölkerung von Kier bzw. über die Beziehung der Roma- und Nichtroma-Bevölkerung in der Gegenwart und der (jüngsten) Vergangenheit!

ZSK: Aus meiner Sicht war die Kierer Roma-Bevölkerung nie so zusammenhaltend wie die Kierer Donauschwaben. Ich bin in einer Beaschen-Familie aufgewachsen, aber es gibt im Dorf welche, die zu anderen Zigeunergruppen gehören. Das bedeutet, sie benutzen eine andere Romasprache oder eben gar keine. Allein das zeigt schon sehr gut, dass zwei Familien, die nebeneinander wohnen und die der Betrachter unter einen Hut nimmt, über unterschiedliche Kulturtraditionen, Mentalitäten und Bräuche verfügen können. Soweit ich an meine Kindheit zurückdenken kann, gab es nie Konflikte im Dorf wegen der ethnischen Herkunft. Jeder wusste von sich und dem anderen, welcher Gruppe er angehört, und niemand wollte seine Herkunft vor den Nichtroma leugnen, weil sie keine Schwierigkeiten verursachte. Jeder hat gearbeitet und versucht durchzukommen. Jedes Kind ging auf die Schule und es war zweifelsfrei, dass man die Schule auch beenden und weitergehen muss. In der Klasse war es nie Thema, wer Zigeuner und wer keiner ist, wir wussten Bescheid, dennoch war es insgesamt ein irrelevantes Thema.

Ich war 14, als ich das Dorf verlassen habe, weil ich in Fünfkirchen die weiterführende Schule besuchte und im Wohnheim wohnte. Die Familie besuche ich regelmäßig, ich habe seitdem viele negative Dinge gehört… Die Welt hat sich verändert. 2013 ist die „Betyársereg” (eine paramilitärische Formation, Red.) aufmarschiert, um gegen die vermeintliche „Zigeunerkriminalität” zu protestieren. Ich war an dem Tag nicht zu Hause, aber die rechtschaffenen Zigeuner hatten – unter anderen auch meine Geschwister, die in ihrem ganzen Leben nichts Rechtswidriges getan haben – an dem Tag Angst und trauten sich nicht aus dem Haus. Aber auch die Kleinkinder erfasste die Angst und hinterließ langfristige Spuren: Man könnte ihnen was antun und dass sie nur auf sich zählen können. Aber an dem Tag hatte ich auch Angst. Und seitdem habe ich stets Angst, wenn mir in den Sinn kommt, dass einem für nicht begangene Sünden etwas angetan werden kann, nur weil er irgendeiner Gemeinschaft angehört.

SB: Ihr Lebensweg ist atypisch: Als Roma-Frau haben Sie studiert, dort eine Karriere eingeschlagen, Ihr Mann ist Nichtrom und Sie haben ein Kind. Welcher Weg führte hierhin und welchen Herausforderungen mussten Sie begegnen?

ZSK: Es ist womöglich kein typischer Lebensweg, auch wenn er eigentlich ein solcher sein sollte. Im 21. Jahrhundert müsste es keine große Sache sein, dass eine Zigeunerin studiert hat und einen Doktortitel hat… Ich bin gespannt auf die Volkszählungsergebnisse von 2021, aber heute kann man sich lediglich auf die offiziellen Ergebnisse von 2011 berufen, wonach 81 % der Roma/Zigeuner über einen Grundschul-, 13 % über einen Berufsfachschul­abschluss, 5 % über Abitur und lediglich 1 % über ein abgeschlossenes Hochschulstudium verfügen.

Über meinen Lebensweg könnte ich stundenlang erzählen. In den letzten 15-20 Jahren habe ich es bereits getan – in unterschiedlichen Fernseh- und Radiosendungen sowie in Zeitungen, die unterschiedliche Zielgruppen erreichen. Ich erzähle es deswegen immer und immer, wo ich herkomme und was ich erreicht habe, weil ich etwas bewirken will, nämlich, den mutlosen, kleingläubigen Menschen mit kaum Zukunftsperspektiven ein Tor zu öffnen, damit sie von mir Kraft schöpfen können. Ich weiß, wie schwer es sein kann – ich könnte sagen, dass es kaum möglich ist, groß zu träumen dort, wo es nicht nur kein Kinderzimmer gibt, sondern oft kein Leitungswasser oder keine Heizung. Ich will keinen in Schutz nehmen, aber ich glaube, dass sich viele Menschen nicht einmal vorstellen können, dass an bestimmten Orten Mitmenschen leben und unter welch schwierigen Bedingungen. Aus der Ferne nimmt man nur so viel wahr, dass das Kind die Schule nicht besucht, den Anschluss verliert… Aber mit dem familiären Hintergrund sind wir oft nicht im Klaren. Diese Kinder haben keine Kindheit, sondern leben wie Erwachsene. Sie passen auf die Jüngeren auf, kochen, putzen, hacken Holz… Lernen ist nicht Usus für jeden. Viele wissen nicht einmal, welch ein Geschenk es ist, unter komfortablen Bedingungen lernen zu können.

Meine Kindheit war bei weitem nicht so schwer, dennoch habe ich sehr oft die Ketten gespürt, die mich behindert haben. Viel Energie und Arbeit steckt darin, wo ich heute bin. Und heute freut es mich sehr, dass ich es geschafft habe, Ausdauer zu zeigen, um das Abitur abzulegen und später die Uni abzuschließen und den Doktortitel zu erlangen.

SB: Inwiefern beeinflusste Sie dieser Lebensweg bei der Partnerwahl und wie stand / steht Ihr Umfeld dazu?

ZSK: Meinen Mann hätte ich nie kennen gelernt, wenn ich mich nicht fürs Lernen entschieden hätte. Mein Umfeld, meine Familie und mein Freundeskreis haben es voll und ganz akzeptiert, dass ich mich dem Lernen zuliebe von dem Elternhaus abgekoppelt habe. Den größten Teil meines Lebens habe ich in Fünfkirchen verbracht. Hier habe ich neue Freundschaften geschlossen und auch hier habe ich eine Familie gegründet. Mein Mann ist kein Zigeuner, aber kennt die Situation der Zigeunergemeinschaften. Er ist offen für und interessiert an der Kultur jedes Volkes / jeder Nation.

SB: Ist es schwer, sich in der Welt der Wissenschaft als Roma durchzusetzen?

ZSK: In der wissenschaftlichen Welt hat es keine Bedeutung, welcher Abstammung man ist. Mir kam es noch nie in den Sinn, wenn eine Bewerbung von mir nicht gefördert wurde, dass es deshalb so ist, weil… In der Wissenschaft kommt man immer anhand objektiver Regeln voran. Dies gewährt Transparenz und schließt klar Parteilichkeit oder Diskriminierung aus. Ich habe weder im Laufe des Studiums noch auf meinem Arbeitsplatz Diskriminierung erfahren.

SB: Es kursieren in der ungarischen Gesellschaft unzählige Stereotype bezüglich der Roma: Sie sind faul, sie klauen, sind gewalttätig, gebären viele Kinder usw., die in vielen Fällen von den Medien verstärkt werden. Während dessen sieht man im Alltag, dass ein Großteil der Hilfsarbeiter bei Bautätigkeiten im 12. Stadtbezirk von Budapest Roma-Herkunft ist, die öffentlichen Grünanlagen öfters von Roma, angestellt bei Subunternehmen, gepflegt werden oder dass in manch einem Einrichtungshaus  Romafrauen das Geschirr der mehrheitlich Nichtromakundschaft spülen. Die Kinderzahl je Frau zeigt auch eine abnehmende Tendenz (bis auf die Romabevölkerung mancher Landesteile wie das Ormánság und Cserehát, die Ghettoisierungstendenzen aufweisen). Welche positiven und negativen Veränderungen haben Sie in der an sich heterogenen Roma-Bevölkerung in den letzten Jahren und Jahrzehnten beobachtet? 

ZSK: Stereotypen gab es schon immer und wird es immer geben. Problematisch wird es, wenn sie so stark sind, dass ihnen Taten folgen. In Ungarn leben heute etwa 900.000 Menschen mit zigeunerischer Herkunft. Wir sind nicht gleich. Es gibt natürlich faule Zigeuner und solche, die gar nicht arbeiten wollen. Es gibt Frauen, die viele Kinder gebären, und es gibt solche, die klauen und betrügen. Aber der Mehrheitsgesellschaft müsste es bewusst werden, dass es auch unter ihnen solche Menschen gibt, denen sie auch aus dem Weg gehen, nicht anders als bei den Zigeunern.

Niemand mag es, unter einen Hut gesteckt zu werden mit anderen, obwohl er ganz anders ist. Wenn jemand nicht arbeitet, bedeutet es nicht automatisch, dass derjenige faul ist. Es könnten zahlreiche Faktoren dahinter stecken, die uns im Normalfall nicht in den Sinn kommen. Lassen Sie mich mal einen konkreten Fall beschreiben: Nicht weit von meinem Wohnort gibt es eine kleine Gemeinde, wo ich mich durch ein Projekt oft aufhielt. Dort habe ich eine junge Frau mit zwei Kindern kennen gelernt, die von Sozialhilfe lebt. Wer die Umstände nicht kennt, sagt leicht daher, warum sie nicht bei Tesco in der Nähe arbeitet, Man sucht ja ständig Putzfrauen und Personal zum Wareneinräumen. Aber die Situation ist bei weitem nicht so einfach, denn obwohl sie gerne arbeiten wollte, war es ihr wegen dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nicht möglich, in der 15 km entfernten Kleinstadt einer Beschäftigung nachzugehen. Damit sie morgens um sechs mit der Schicht beginnen kann, müsste sie den Bus um 4:25 nehmen, und obwohl dies bei zwei Kindern auch schon unmöglich ist, da der Kindergarten noch nicht geöffnet hat… Aber das ist noch das kleinere Übel, das größere ist, dass der letzte Bus um 16:50 fährt, so dass sie keine Chance hat im Zweischichtbetrieb zu arbeiten. Denn in dem Falle, wenn sie Nachmittagsschicht hätte, wäre sie erst um zehn mit der Arbeit fertig…. Auto hat sie natürlich keins und auch die Transferfahrten sind nicht verfügbar, um die Arbeit anzunehmen (Entfernung Wasser/Kisvaszar-Schaschd/Sásd: 14,5 km). Ich kenne auch andere, erschütternde Beispiele, wie das eines kleinen Mädchens vor einigen Jahren, das eine sehr gute Schülerin war und zum Unistudium zugelassen wurde, aber aufgrund der finanziellen Situation der Eltern konnten sie das Geld für ein Fernbusticket nicht vorstrecken. Wenn die Lehrer des Mädchens irgendwann im August nicht mit ihr gesprochen hätten, dann wäre es nie rausgekommen, und mein Herz blutet, wenn ich daran denke, dass ein erfolgreiches Studium an 5000-10.000 Forint hängt, die anstelle der Eltern seine Lehrer für die 40 km-Monatskarte bezahlt haben. Deswegen meine ich, dass wir immer die Fakten beleuchten sollten, bevor wir ein Urteil fällen.

Welche Veränderungen ich in letzter Zeit beobachten konnte? Sowohl negative als auch positive! Positiv ist, dass von den 900.000 Menschen zigeunischer Abstammung etwa 600.000 in durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen Verhältnissen leben. Ebenfalls als positiv zu betrachten ist, dass immer mehr junge Leute weiterlernen und in ihrem Beruf eine Anstellung finden. Sehr viele planen bewusst ihr Leben, achten auf ihre Gesundheit, rauchen nicht, treiben Sport, ernähren sich gesund und zeigen sich bei der Familiengründung bewusst in ihren Entscheidungen. Auch im Kreise der Zigeunerfamilien ist die Zahl der Kinder drastisch gesunken, selten werden mehr als drei Kinder geboren. Diese Eltern versuchen es, ihrem Nachwuchs die Zeit der Kindheit angenehmer zu machen, was grundsätzlicher Natur ist bei der Integration.

Negativ ist es, dass es in Ungarn immer noch mehr als 300.000 Menschen gibt, die in Segregaten unterschiedlicher Größen leben. Ein Großteil dieser Menschen ist zigeunerischer Abstammung. Hier rauszukommen gestaltet sich sehr schwierig und es ist mühselig die Gewohnheiten zu verändern.

SB: Sie erforschen unter anderem den Gesundheitszustand der Roma – Otto Normalverbraucher denkt dabei in erster Linie an die Drogenproblematik im Borschod oder der Pester Hős utca (einem Wohnblockkomplex im 10. Stadtbezirk von Budapest, der schlechthin als sozialer Brennpunkt gilt. Er soll aufgelöst werden, Red.) – ich nehme an, die Problemstellung ist viel komplexer.

ZSK: Die Mehrheit der Bevölkerung ist sich im Klaren, dass die Menschen, die zur zigeunerischen Minderheit gehören, 8 bis 10 Jahre kürzer leben als Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung. Aber wesentlich weniger wissen es, wie man das auf null drücken könnte. Leider ist der illegale Drogenkonsum von Jugendlichen weltweit generell ein großes Problem, nicht nur hierzulande. Diese synthetischen Drogen sind so billig, dass sie für jedermann erreichbar sind. Aber damit ist sich keiner im Klaren, welche Konsequenzen der Konsum solcher Substanzen haben kann.

Deshalb würde ich die Bedeutung der Vorbeugung betonen, um den Gesundheitszustand der ganzen ungarischen Bevölkerung zu verbessern, nicht nur den der Roma. Es wäre viel effektiver, wenn wir den Menschen beibringen würden, worauf sie bei der Ernährung achten sollen, was sich wie im Organismus auswirkt (z. B. der Zigarettenqualm, der Alkohol oder eben die Drogen), wann man sich an einen Arzt werden soll, um Krankheiten vorzubeugen und wie lebensrettend Vorsorgeuntersuchungen sein können. Man sollte das Wissen der Bevölkerung um die Gesundheit erweitern und ab dem Kleinkindalter unterstreichen, dass die Bewahrung der Gesundheit unser wichtigstes Ziel sein sollte.

SB: Die Gesundheitsförderung der Jugend scheint eine Herzensangelegenheit für Sie zu sein – welche Erfahrungen haben Sie auf diesem Gebiet gesammelt?

ZSK: Ich bin der Überzeugung, je früher wir mit der Gesundheitsförderung beginnen, desto effektiver wird sie sein. Ich war bereits in vielen Schulen und versuche immer, Informationen bezüglich des Gesundheitsschutzes zu vermitteln, in der Hoffnung, dass die jungen Leute diese verwerten. Das Gandhi-Gymnasium in Fünfkirchen und das buddhistische Gymnasium „Tan kapuja” in Senmarto/Alsószentmárton besuche ich regelmäßig und die dortigen Erhebungen zeigen, dass das Wissen und die Attitüden der Jugendlichen bezüglich der Gesundheit schlechter sind als bei Gleichaltrigen in der Mehrheitsbevölkerung. Mir ist aufgefallen, dass sich die Kinder meine Vorträge sehr gerne anhören. Sie interessieren sich dafür, was sie für ihre Gesundheit tun könnten. Ich beobachte oft, dass sie derart schüchtern sind, dass sie sich kaum zu fragen trauen. Wahrscheinlich ist es ihnen bewusst, dass sie weniger über ihre Gesundheit wissen und deshalb unter Umständen Unsinn behaupten würden. Vertrauen zu schaffen ist das Wichtigste. Die Kinder spüren es, wenn sich jemand guten Willens ihnen nähert. Es lohnt sich die Familienmitglieder, Geschwister und Eltern mit einzubeziehen, denn es lassen sich die Gewohnheiten viel einfacher ändern, wenn in einer Familie mehrere die entsprechende Motivation besitzen. Grundpfeiler der Veränderung ist das Lernen, der Wissenserwerb. Darüber hinaus ist es vergebens darüber zu sprechen, wenn sie sich die gesunde Lebensweise aus ihrem Arbeitsbeschaffungsmaßnahmenlohn nicht finanzieren können. Ich betone stets, dass Lernen deswegen wichtig ist, weil wir damit die Grundlagen für unsere Zukunft legen. Es ist nicht gleichgültig, wie schwer wir für das tägliche Brot arbeiten müssen. Beziehungsweise wie gut wäre es, wenn wir nicht nur so viel verdienen würden, dass  man gerade die Fixkosten decken kann, sondern so viel, dass es auch für sonstige Ausgaben wie Reisen, Urlaub, ein bequemeres Leben oder Investitionen reicht.

Also Basis für unser Tun ist die Schule, denn der höhere Bildungsabschluss geht in der Regel doch mit höherem Einkommen einher. Gesundheitsförderung braucht man überall, in Ortschaften mit sozialer Schieflage ist sie essentiell. Ich weiß, dass es nicht jeder schafft, sein Schicksal zu ändern, aber ich habe auch gute Erfahrungen, wofür ich sehr dankbar bin. Viele Kinder glauben nicht daran, dass sie einen anderen Weg beschreiten können als ihre Eltern. In diesen Situationen ist es sinnvoll, dass es einen gibt, der aus einem ähnlichen Umfeld stammt und der sagen kann, dass es mir gelang, was dir auch gelingen wird.

SB: Was könnte der Schlüssel der Integration bzw. der gegenseitigen Akzeptanz sein, zumal Mitte des Jahrhunderts jeder vierte Arbeitnehmer Roma-Herkunft haben wird?

ZSK: Welchen Anteil die Roma, Schwaben, Kroaten in einigen Jahren ausmachen werden, ist völlig irrelevant. Die Herkunft zählt nicht, denn wir sind alle Ungarn. Wir leben in Ungarn, wir sind hier geboren, wir sprechen Ungarisch, hier leben unsere Freunde und Verwandten und wir wollen hier alt werden.

In den Jahrzehnten nach der Wende geriet die Bevölkerung mit geringem Schulabschluss in eine Schieflage, die sie noch nicht überwinden konnte. Über die Armutsspirale und deren Konsequenzen ist bereits in den 80er Jahren eine Monographie erschienen, die Sir Douglas Black publizierte. Diese als „Black Report” bekannt gewordene Publikation zeigt eindrucksvoll, was wir jetzt auch in Ungarn beobachten. Die Menschen, die damals ihren Job verloren haben, konnten sich bis heute nicht fangen, weil die dauerhafte Armut generationenübergreifende Konsequenzen hat wie beispielsweise die Verschlechterung des Gesundheitszustandes, die die Armutsmisere vertieft, was dann mit einer Verschlechterung des Lebensumfeldes und einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes einhergehen kann. Dies kann die Lebensaussichten des Nachwuchses und die erworbenen Fertigkeiten beeinflussen, was wiederum Konsequenzen für den schulischen Erfolg haben kann, den man zwar durch Fleiß und Willen korrigieren kann, aber im Falle eines unerwarteten Ereignisses sind es die Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, denn es fehlt ihnen an einem sicheren, unterstützenden finanziellen Hintergrund, der helfen könnte, wenn man wegen der Arbeit eine Wohnung anmieten oder sich ein Sabbatjahr nehmen müsste, um das Abitur erneut anzugehen.

Auch wenn man es kaum glauben mag, dass die 30 Jahre für Menschen, die in eine neue Situation geraten waren, nicht ausreichten, den damaligen Nachteil auszugleichen, ist es leider doch so. Um diesem schrecklichen Kreislauf Einhalt zu gebieten, schlug Sir Douglas Black, Präsident der Königlichen Ärztekammer (Royal College of Physicians) der damaligen Regierung vor, die Armut zu senken beziehungsweise mehr Geld für die Gesundheitserziehung und -prävention auszugeben. Ich glaube, was Klügeres kann ich auch nicht raten.

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Mit Dr. Zsuzsanna Kiss sprach Richard Guth.

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