Trägheit, Svung und sonstige Physik

Von Robert Becker

Schlechte Beispiele findet man leicht. Stimmt doch! Aber gute? Nun, wenn diese sich nicht im gleichen Atemzug nennen lassen, dann stimmt etwas doch nicht.

In dem Bereich der Physik gibt es den Begriff von dem Trägheitsmoment – ein berechenbares Phänomen mit Formel, wie es sich in diesem Zweig der Wissenschaft schon gehört: die Erscheinung, die die Trägheit eines starren Körpers gegenüber einer Änderung seiner Winkelgeschwindigkeit bei der Drehung um eine gegebene Achse angibt (Drehmoment geteilt durch Winkelbeschleunigung, geteilt durch Winkelgeschwindigkeit), und damit die gleiche Rolle wie die Masse im Verhältnis von Kraft und Beschleunigung (bzw. von Impuls und Geschwindigkeit) spielt. Diese physikalische Größe ist erstmals 1749 im Werk Scientia Navalis von Leonhard Euler beschrieben worden.

Etwa zu unserer Ansiedlungszeit in Ungarn also – so ungefähr! Damit wir aber durch ein plausibles Beispiel verstehen, worum es sich im Falle des Trägheitsmoments handelt, nehmen wir einmal die Pirouette: Wenn sich Eiskunstläufer um ihre Achse drehen, dann ihre Arme ausbreiten, dadurch von ihrem Gewicht nach außen verlagern, verlangsamt sich ihre Drehgeschwindigkeit. Wenn sie ihre Arme dann wieder an sich heranziehen, dann erhöht sich die Drehgeschwindigkeit an der Achse gemessen wieder.

Beziehen wir diese Begriffe der Physik von Impuls, Winkelgeschwindigkeit, Trägheitsmoment und Zentripetalkraft aber einmal auf uns Deutsche in Ungarn: auf unsere Pirouette also. Wenn wir es so betrachten, dann ist das Ziel, eine Bewegung in unserer Achse zu bewahren, wie sie ein Brummkreisel auch braucht. Dabei ist wiederum das Ziel, dass wir nicht verstummen, sondern eine möglichst harmonische Melodie um uns verströmen mit leuchtenden Farbimpulsen auf unserer Oberfläche noch dazu, damit Betrachtende um uns herum mit einer großen Freude uns zuschauen.

Das ist unser Spektakel in uns selbst und in unserer Gemeinschaft: Bei unserem Drehen um uns selbst werden – durch die gleichzeitig wirkende zentripetale Kraft – die Teile auch zum Rande unseres Seins als Gemeinschaft getrieben und dort zum Abbröckeln und dadurch zum Wegschleudern gedrängt. Da braucht man bei nachlassender Drehgeschwindigkeit die Kraft, seine Arme an sich zu ziehen, um sich um die Achse wieder schneller zu drehen, und zwar so, dass man eventuell auch noch jemanden möglichst gut festhält. So können wir ihn in unseren Kreis zurückzuziehen und dazu zu bringen zu verbleiben. Dann werden wir in der Zahl nicht noch mehr schrumpfen, wenn wir nicht ausgleiten, langsamer werden, zum Schluss noch stillhalten und auch noch umkippen. Denn wenn das Spiel der Brummkreisel aus ist, wenden sich die Betrachtenden ab, weil dann ja das Spiel uninteressant geworden ist.

Unser Schwung um unseren Mittelpunkt herum sichert unser Gleichgewicht und schafft die Grundlage unserer inneren Gravitation, die uns auf jenem Boden festhält, den wir unsere Identität nennen.

Apropos Schwung! Da gibt es doch Leute, die die Bedeutung vom Schwung für die ungarndeutsche Jugend bereits ebenfalls erkannt zu haben scheinen: Sie nennen ihre Facebook-Seite „Svung“, mit – wie es im programmatischen Leitwort dazu heißt: „Interessanten und humorvollen ungarndeutschen Inhalten von Jugendlichen für Jugendliche.” Ob die selbstgewählte falsche Grammatik des Wortes Svung gleich ein eigens aufgestelltes Konzept darstellt, als programmatischer Witz fungiert oder auch ein ungarndeutsches Lehnwort auf Ungarisch ist, weiß ich nicht. Weil dieser Account aber ungarndeutsch sein soll und auch ist, schau ich halt wenigstens so ab und zu mit dem halben Auge drauf und höre mit einem halben Ohr hin, obgleich er auch in erster Linie wohl für die Jugend gedacht ist, der ich mich leider selbst längst nicht mehr zurechnen kann.

Auf dieser Seite lauern beim Besuch im Internet – wenn auch nur zufällig herausgegriffen – solche sprachlichen „Entweichungen“, dass man plötzlich Angst um den allgemeinen Schwung, das Gleichgewicht und das entsprechende Drehmoment hat. Ich möchte zitieren:

„Wenn Ihr Familienessen Ihr Großeltern interveniert, interessiert sich Ihre Großeltern mehr für Ihr Liebesleben als an der von Ihnen hergestellten Cimetrie. Diese Familienessen sind einfach so.”

– Einfach so?! Das ist eine öffentlich gewordene Sprachkatastrophe, ein Erdrutsch, der in die Hose ging. Egal, worum es da geht, der Text ist in seiner ätzend toxischen Darbietung zwar genial, sonst aber ein simpler, anti-intellektueller Mordversuch. Lese ich so etwas, dann surrt in mir doch bei einer extrem hohen Drehzahl der in mir rotierende Brummkreisel so hoch, dass ich bald mein Trägheitsmoment kurz vor der zentripetal bedingten Explosion erreiche. Ich muss dann nach meinem Medikament gegen akut auftretenden Bluthochdruck greifen. Nur so kann ich es knapp noch gewährleisten, meinen abrupt endgültigen Stillstand nach einer solchen Gefährdung meines Gesundheitszustandes zu verhindern.

Da ich aber wohlwollend bin, weiß ich ja auch, dass die Muttersprache und die Grundfestung der Identität unserer Jugend vom trauten Heim mitgebracht werden sollte. Sprache und Identität werden aber weitestgehend der Bildungsebene großzügig überlassen. So sind die kleinen Sprachbengel Schulen durchgangen, die sie mit Noten, die sich krümmen, bis in höhere Stufen haben durchkommen lassen. Ja, vielleicht hat man diese Sprachbengel gar dort eigens hinein katapultiert, – „einfach so“! Ich will mich darin nun beruhigen, dass das alleine wieder einmal nur ein schlechtes Beispiel halt ist – auf meiner bereits langen Suche nach viel besseren Exempeln unserer Physik zwischen Trägheit und Schwung.

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