Madjarischer Plan B: Man würde in der Karpatoukraine die Kinder aus dem staatlichen Schulwesen herüberretten (Magyar B-terv: kimenekítenék a gyerekeket az állami iskolarendszerből Kárpátalján)
Anfang Dezember verabschiedete der Oberste Rat der Ukraine einen Gesetzesentwurf, der die restriktiven (und vielmehr geplant restriktiven) Bestimmungen gegenüber den autochtonen Minderheiten insbesondere auf dem Gebiet des muttersprachlichen Unterrichts aufhob. Demnach soll der Unterricht in der Muttersprache (bis auf das obligatorische Fach Ulrainische Sprache und Literatur) in den offiziellen EU-Sprachen wie Polnisch, Rumänisch, Slowakisch oder Ungarisch weiterhin möglich sein (auf Russisch ausdrücklich nicht). Gegen die geplante Einführung des ukrainischsprachigen Fachunterrichts an madjarischen Schulen der Karpatoukraine wurde früh Kritik der ungarischen Regierung laut und die Causa belastete die Beziehungen beider Länder. Auch die Venedig-Kommission kritisierte die Pläne der ukrainischen Regierung. Hintergrund für eine Neupositionierung der ukrainischen Führung sind die EU-Beitrittsverhandlungen des Landes, die nun aufgenommen werden. Es wird sich zeigen, ob es trotzdem zu Veränderungen im madjarischen Schulsystem kommt, nicht zuletzt aufgrund der massiven Fluchtbewegungen der einst 150.000 Seelen starken Gemeinschaft an der Grenze zum Mutterland Ungarn – das macht folgenden Beitrag aus dem Spätfrühling so relevant.
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Ein Bericht von Ádám Kolozsi; erschienen am 4. Juni 2023 im investigativen Portal g7.hu; Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors; Deutsche Übersetzung: Richard Guth
„Es gibt den Spruch: Wenn man sich kloppt, schert man sich um nichts. Jetzt sind wir Madjaren in der Karpatoukraine Geiseln zwischen Ungarn und der Ukraine”, stellt der reformiert-calvinistische Pfarrer des Ortes fest, während er für sich in Erfahrung bringen will, für wen wir schreiben, denn so etwas wie eine unabhängige Presse gebe es ohnehin nicht. „Wir werden von allen Seiten ausgenutzt. Entschuldigung, wenn ich es so sage, aber wir sind der Spielball”, sagte er und verglich die rechtlichen Einschränkungen in der Ukraine gegenüber der madjarischen Minderheit mit der Kolonialisierung. „Die ukrainische Regierung sagt, dass es nicht gut sei, dass du Madjare bist und eine ungarische Schule besuchst, denn du könnest dadurch in der ukrainischen Gesellschaft nicht zurechtkommen. Aber verdammt nochmal, ich will doch selber entscheiden, ob ich ein Indianer sein will oder nicht. Sie sollten mir lieber ein solches Ukrainischsprachbuch zur Verfügung stellen, mit dessen Hilfe ich mir die Sprache gut aneignen kann.”
In Bezug auf die Karpatoukraine spricht man heutzutage oft von einer „Insel des Friedens”, denn dieses ist das einzige Komitat in der Ukraine, in dem es so gut wie keine Kampfhandlungen gab. Dennoch fühlen sich immer mehr Madjaren als Geiseln, nicht nur deshalb, weil es unter den wehrpflichtigen Männern, die hier geblieben sind, solche gibt, die wegen der Gefahr eingezogen zu werden, tagsüber das Haus nicht verlassen, sondern weil auch die große Politik dieses Gefühl stärkt.
Seit 2014, aber insbesondere seit dem 24. Februar letzten Jahres, hat sich der ukrainische Nationalismus weiter verstärkt. Die Minderheitenrechte, die zuvor in der Theorie gewährt worden sind, werden in vielen Bereichen beschnitten, und deren Hauptgeschädigte ist die 100.000 Mann starke madjarische Minderheit, die nach ukrainischen Maßstäben zahlenmäßig als marginal erscheint. Die Madjarenfeindlichkeit in der Ukraine wird durch den ungarischen Sonderweg in der Außenpolitik beflügelt, die als russenfreundlich angesehen wird und die den Schutz der Interessen der Madjaren in der Karpatoukraine betont. Die vehemente Rhetorik der ungarischen Politik fällt indirekt auf die karpatoukrainischen Madjaren zurück. So könnte der Interessensvertretung der Madjaren in der Karpatoukraine leicht das Putin’sche Etikett aufgedrückt werden, auch dann, wenn es um tatsächliche Rechtsverletzungen geht.
Bezüglich der tatsächlichen ethnischen Situation und der Rechtseinschränkungen haben wir seit April zahlreiche Interviews und Hintergrundgespräche in der Karpatoukraine geführt, zum Teil mit madjarischen Entscheidungsträgern. Darüber werden wir in einer Artikelreihe berichten. In diesem ersten Beitrag fokussieren wir uns auf den Schulbereich, in dem ab September aufgrund normativer Veränderungen radikale Veränderungen zu erwarten sind und der ungarischsprachige Unterricht dadurch in eine sehr schwierige Lage gebracht wird (Mitte Juni wurde bekannt, dass die Umsetzung um ein Jahr verschoben werden soll, R. G.).
Die ungarische Außenpolitik versucht zum Teil durch Berufung auf die Veränderung im Schulunterricht, den EU-Beitrittsprozess der Ukraine zu blockieren. Währenddessen ist im Hintergrund die Vorbereitung für einen „madjarischen Plan B” im vollen Gange: Die madjarischen Schülerinnen und Schüler in der Karpatoukraine sollen aus dem ukrainischen staatlichen Schulsystem in ein madjarisches Schulsystem in Stiftungsträgerschaft oder kirchlicher Trägerschaft überführt werden, das in letzter Sekunde entstehen soll – mit aktiver Unterstützung aus Ungarn.
„Am ersten September wird die Realität jeden einholen”, sagte neulich Péter Szijjártó während einer Pressekonferenz in Brüssel bezüglich des Kandidatenstatus der Ukraine und konkret der Schulfrage in der Karpatoukraine. Die ungarische Außenpolitik würde in Berufung auf das Auf-Die-Schwarze-Liste-Setzen der ungarischen Großbank OTP durch Kiew, dem eher eine bescheidene Bedeutung zugesprochen wird, sowie auf die Rechtsverletzungen der madjarischen Minderheit gegenüber die Unterstützung eines EU-Beitritts der Ukraine blockieren und die Zustimmung an die Rückgabe der nach 2014 entzogenen Minderheitenrechte binden.
Die besagte Angelegenheit resultiert aus dem Bildungsrahmengesetz, das 2017 verabschiedet wurde, denn die aus Minderheitenperspektive sensibelsten Paragraphen sollen erst jetzt, im Schuljahr 2023/24, in Kraft treten – es sei denn, man stimmt einem neulich eingereichten Änderungsantrag zu, der dies um ein Jahr verschieben würde (dies wurde vom ukrainischen Parlament Mitte Juni gebilligt, R. G.).
Das Gesetz hat die Schulen mit Minderheitenunterrichtssprache bereits aufgelöst, so gelten die 101 ungarischen Schulen in der Karpatoukraine auch jetzt nicht mehr als solche. Die grundlegende Änderung träte im September in Kraft, wonach nur einzelne Gruppen/Klassen in der Minderheitensprache unterrichtet werden dürften. In der Grundschule (bis zur 4. Klasse) wäre das in jeder Stunde so, aber ab der 5. aufwärts müsste man 40 % des Deputats in der Staatssprache unterrichten, in den weiterführenden Schulen (Jahrgang 10-12) sogar 60 %. Damit würden die bisherigen Lyzeen ungarischer Unterrichtssprache in der Trägerschaft der Kommunen aufgelöst und auch die Abiturprüfung könnte man nicht mehr auf Ungarisch ablegen, was die Immatrikulationschancen schmälern könnte.
Das Bildungsrahmengesetz aus dem Jahre 2017 hat einen Konflikt zwischen Ungarn und der Ukraine begründet, der immer mehr eskaliert – eine Bewegung konnte in den letzten sechs Jahren kaum erreicht werden. Die zwei größten Organisationen der Madjaren, der (zu Fidesz enge Beziehungen pflegende) KMKSZ und der UMDSZ, dem man einst sozialistische Verbindungen nachsagte, haben zwar ihren Schattenbericht an den Europarat geschickt. Der Madjarische Lehrer- und Erzieherverband KMPSZ, der das Gesetz als Assimilierungszwangsmaßnahme betrachtet, hat ein eigenes Maßnahmenpaket geschnürt und der ungarische Staat hat sich mit Rumänien zusammen an die Venedig-Kommission gewandt. Die Mehrheit der vorsichtigen Empfehlungen der Expertenkommission hat die Ukraine nicht ins Gesetz eingebaut und laut Verfassungsgericht der Ukraine entspreche das Gesetz der Verfassung.
„Das ungarische Schulwesen beziehungsweise der Unterricht in der Minderheitensprache, der selbst zu sowjetischen Zeiten erlaubt war, wird soeben vom ukrainischen Staat aufgelöst”, sagte uns Karolina Darcsi, Sekretärin des KMKSZ in einem Café in Bergsass/Berehovo, während sie das oft vorgebrachte madjarische Argument betont, wonach man nach keinen neuen Dingen verlange, sondern nur nach den Rechten, die seit den Neunzigern bestehen.
Sie sieht im karpatoukrainischen Alltag keine Probleme, die antimadjarischen Verlautbarungen kämen von „jenseits des Passes” (des Vereckij-Passes, der die historische Grenze Ungarns darstellt, R. G.), d. h. aus anderen Regionen der Ukraine. „Die grundlegende Spannung entsteht durch den russisch-ukrainischen Konflikt und dadurch, dass sich die Ukrainer in der Aufbauphase eines Nationalstaates befinden, die auch eine nationalistische Spitze hat. Da man die Russen bislang nicht besiegen konnte, ist die typische Reaktion, dass man jemand anders findet. Dies wurden die Madjaren in der Karpatoukraine.”
Der Umstand, dass die sensibelsten Paragraphen des Schulgesetzes erst Jahre später in Kraft treten sollen, hätte im Prinzip eine Vorbereitungszeit bedeuten können, aber zu grundlegenden Veränderungen kam es dennoch nicht. „Es wurde lediglich die Einführung des Gesetzes um fünf Jahre verschoben und die Privatschulen wurden befreit”, betonte László Zubánics, Vorsitzender des UMDSZ und Universitätslehrer.
Es kann passieren, dass es ein weiteres Jahr für die Umstellung geben wird: Das ukrainische Kultusministerium hat in den vergangenen Tagen einen Änderungsantrag eingebracht, der die Bestimmungen bezüglich der Umgestaltung des Unterrichts in der Muttersprache in das Schuljahr 2024/25 verschieben soll. Die Verzögerung mag außenpolitische Gründe haben: Die Venedig-Kommission wird in Kürze ihre Empfehlungen zum Gesetz vorlegen. Kiew will womöglich dem zuvorkommen, indem es die umstrittenste Veränderung aufschiebt – wenn das die Parlamentsmehrheit in Kiew billigt (das ist geschehen, R. G.).
Dies löst die Frage im Grunde nicht, die Zukunft des ungarischsprachigen Unterrichts ist weiterhin ungeklärt.
„Jeder sagte, dass sich das irgendwie noch entwickeln, verfeinert wird. Auch in Ungarn dachte man, dass man damit umgehen werden kann. Man konnte nicht”, sagte Sándor Spenik, Direktor des Instituts für Ukrainisch-Ungarische Schule-Wissenschaft an der Nationaluniversität Ungwar.
Spenik sieht keine Chancen, dass es zu einer Neuregelung kommt und die betroffenen Gemeinschaften ihre verlorenen Bildungsrechte zurückbekommen. „Meine Erfahrungen sagen, dass das Ganze eine Lüge ist. Klar, Modifizierungen sind möglich. Aber meine Erfahrungen zeigen, dass keine einzige Änderung durchgebracht wurde, die die Minderheiten begünstigt hätte.”
Ein immer wiederkehrendes Argument der ukrainischen Regelung ist, dass die Madjaren nicht gut genug die ukrainische Sprache beherrschen, deshalb soll man – zwecks der gesellschaftlichen Integration – die Sprache der Bildung slawisieren. Die Sprachkenntnisse der Madjaren der Karpatoukraine, die mehrheitlich in Dörfern leben, sind in der Tat oft schwach; im Kreise der auslandsmadjarischen Gemeinschaften ist die Kenntnis der Staatssprache am schlechtesten. Dahinter steht, dass vor 1991 in den Schulen Russisch und nicht Ukrainisch unterrichtet wurde. Aber auch der gesellschaftliche Status, die grenznahe Lage und nicht zuletzt die in den letzten Jahren zunehmende Hinwendung zu Budapest und nicht zuletzt das Niveau des schulischen Ukrainisch-Unterrichts trugen, tragen dazu bei.
Nach Sándor Spenik sei das jedoch nur eine Ausrede, die auch dadurch unterstützt werde, dass es in den letzten Jahren keinerlei schulmethodische Reformen gegeben habe. Der ukrainische Staat habe keine qualifizierten Sprachlehrer zur Verfügung gestellt, so sei die Staatssprache in vielen Schulen ungarischer Unterrichtssprache – meist auf dem Lande – von solchen unqualifizierten Kräften unterrichtet worden, die gerade Zeit gehabt hätten.
„Es ist wichtig, dass jeder die Sprache des Mutterlandes (sic!) spricht. Ich bestehe darauf, dass die Madjaren in der Karpatoukraine nicht gegen den Ukrainischsprachunterricht sind”, betont Zoltán Babják, Bürgermeister von Bergsass. Für ihn sei die Hauptfrage, „und die hat die Expertengruppe aus allen Seiten sehr schlecht gemanagt”, mit welchen Methoden man Ukrainisch für Madjaren unterrichten soll. „Die pädagogischen Programme verändern sich alle zehn Jahre. Der Schwerpunkt liegt auf der Methodik, die die ukrainische Direktion den Madjaren aufzwingen würde. Man darf die Gaspedale nicht bis zum Anschlag durchdrücken.”
Es gibt Direktoren, die meinen, dass es in der Praxis Hintertüren geben werde, so zum Beispiel würden Sport, Zeichnen/Kunst oder andere „Behelfsfächer” auf dem Papier in Ukrainisch gehalten, während die Hauptfächer weiterhin auf Ungarisch unterrichtet würden. Es ist sicher, dass viel auf die Haltung der örtlichen Behörden ankommen wird, und da ist man im Komitat Karpatoukraine gut dran. Dennoch ist das eine vorprogrammierte Unsicherheit im System. In den Lyzeen ab der Jahrgangsstufe 10 soll man bereits ab dem nächsten Schuljahr 60 % des Deputats auf Ukrainisch unterrichten – dies wird viele Füchse vor große Herausforderungen stellen.
Árpád Szabó, Schulleiter des Gábor-Bethlen-Lyzeums in Bergsass, muss sich damit nicht mehr auseinandersetzen: Nach 24 Jahren wird er sowieso pensioniert. Der Keller seiner Schule dient nun als Luftschutzraum, vor dem Gebäude stehen Sandsäcke. Hinten wird aber gebaut: Man erhält ein völlig neues Gebäude, im September sollte der Unterricht hier beginnen…
„Wenn ich auf unser neues Gebäude blicke, habe ich das Gefühl, dass ich nicht umsonst gelebt habe”, sagte er auf dem Schulhof vor einem Seklertor, einem Geschenk aus St. Georgen/Gheorgheni im Seklerland, und einer Holzgedenksäule (ung. kopjafa). Letztere stand irgendwann am Vereckij-Pass. Sie wurde angeblich von ukrainischen Nationalisten umgestürzt und von jemandem nach Bergsass gebracht, wo sie wieder aufgestellt wurde. Die neue Schule wird aus ungarischen Steuergeldern finanziert. Weite Räume, luftige Aula! Man hat für 450 Schülerinnen und Schüler geplant, obzwar es so viele seit Jahren nicht mehr gegeben hat, auch wenn man mittlerweile 11 Jahrgänge unterrichtet – es könnte passieren, dass es so viele Schüler nie mehr geben wird. Heute wird die Schule von ca. 300 Schülern besucht, in den oberen Jahrgängen ist das Lyzeum nur noch einzügig. Viele Familien haben die Karpatoukraine verlassen. Die Mehrheit der Jungen wird spätestens mit 16, 17 nach Ungarn gebracht, um der Musterung zu entgehen.
Laut offiziellen Angaben nahm die Zahl der eingeschriebenen Schülerinnen und Schüler in den ungarischen Schulen des Kreises Bergsass seit Kriegsausbruch um 10 % ab. Jedenfalls auf dem Papier! In der Realität würden viele Schulen nur noch von 50-70 % der Stammschülerschaft besucht, sagte der UMDSZ-Vorsitzende László Zubánics. Die anderen würden auch eingeschrieben, aber die Familien hielten sich in Ungarn oder woanders auf – die Aufrechterhaltung des Scheins sei wegen des Fortbestands der Bildungseinrichtung wichtig.
Viele Ortschaften stehen bereits vor dem Exodus – ausgelöst vom russischen Angriff. Das Erreichen der minimalen Schülerzahl, die für die staatliche Finanzierung erforderlich ist, bereitet diesen Instituten deshalb große Sorgen. Es ist nicht selten, dass eine ungarische Schule nur dank der Roma-Schülerinnen und -schüler noch existiert. Ein Drittel der städtischen Schulen in Bergsass gilt auch jetzt schon als „Zigeunerschule” (im Original ohne Anführungsstriche, R. G.). Auf die Roma ungarischer Muttersprache ist das ungarische System in der Karpatoukraine mehr als angewiesen. Die Roma leben aber in einer noch größeren Segregation als die Madjaren. Aus den Schulen, die immer mehr Romakinder beschulen, werden die Nichtromakinder von ihren Eltern in benachbarte Ortschaften oder nichtstaatliche Einrichtungen gebracht.
Der Unterricht in kirchlicher Trägerschaft bzw. Stiftungsträgerschaft als Alternative könnte ab jetzt zum Grundstein der gesamten madjarischen Strategie in der Karpatoukraine werden, um der Slawisierung zu entgehen. Die Vertreter der madjarischen Gemeinschaft glauben an eine Veränderung des Schulgesetzes nicht. Auf der normativen Ebene legen sie den Schwerpunkt nicht mehr darauf, sondern auf die Änderung des Status der madjarischen Minderheit und deren Anerkennung als autochthone Minderheit – ähnlich wie bei den Krimtataren. Das würde auch den Unterricht in der Minderheitensprache erlauben, vom Kindergarten bis zum Abitur.
Die ungarischen/madjarischen Entscheidungsträger haben jedoch in den letzten Monaten angefangen einen Plan B auszuarbeiten, worüber in der Öffentlichkeit nicht einmal vorsichtige Andeutungen verlautbart wurden. Dieser Plan würde das ungarische Schulwesen in der Karpatoukraine auf ein neues Fundament stellen: Die madjarischen Schülerinnen und Schüler sollen nach der vierten Klasse in ein Netz von Institutionen in der Trägerschaft von Kirchen und Stiftungen, die zum Teil neu gegründet werden sollen, umgeleitet werden, was eine Privatisierung des ungarischen Schulwesens bedeuten würde. Nach Plan sollte idealerweise bereits ab Herbst die Mehrheit der in der Karpatoukraine verbliebenen madjarischen Kinder hier lernen. Wie wir erfahren haben, werden die neuen Gebäude mit ungarischer Unterstützung bereits errichtet beziehungsweise erweitert, obwohl die erforderliche ukrainische Akkreditierung noch nicht vorliegt.
Das neue madjarische Schulnetz würde diese Möglichkeit nutzen können, weil das Schulgesetz, das den Unterricht in der Minderheitensprache einschränkt, nur für staatliche Institutionen gilt. Das Konzept wurde im April hinter verschlossenen Türen auf der Aprilvollversammlung des KMKSZ von Ildikó Orosz – der bestimmenden, auch in Budapest anerkannten Leiterin der Interessensvertretung – vorgestellt. Sie sprach als Rektorin der Hochschule Bergsass vor dem Senat darüber, dass die Hochschule beabsichtige ein Netz von Seminarschulen zu errichten, „dessen Ziel es ist, in den Regionen Ung, Bereg, Ugotsch und Maramuresch Profilgymnasien zu schaffen”.
Aus mehreren Quellen wurde bestätigt, dass das Fachlyzeen-Netz in der Trägerschaft der Hochschule zusammen mit den kirchlichen Schulen, die erweitert werden sollen, die madjarisch bewohnten Kreise der Karpatoukraine so gut wie vollständig abdecken und ab der fünften Klasse die Kinder ungarischer Muttersprache in erster Linie hier ihre schulische Karriere fortsetzen würden.
40 % der Abiturienten haben auch bislang private Einrichtungen besucht: die sechs kirchlichen Lyzeen beziehungsweise das Berufliche Gymnasium der Hochschule. Diese sollen nun erheblich erweitert werden. Deswegen gründete die Hochschule vor kurzem ein Schulnetz, das den Namen „Katalin-P.-Frangepán-Gymnasium“ erhielt, in dessen Rahmen ab September an vier Standorten der Unterricht starten soll: in Pijterfolvo/Tiszapéterfalva, Vinohradjiv/Nagyszőlős, Velika Dobron/Nagydobrony und Bergsass. Es gab Orte, wo bereits eine Immobilie zur Verfügung stand: In Velika Dobron stand beispielsweise das Gebäude des beruflichen Schulzentrums leer, nachdem die Schule nach dem 24. Februar letzten Jahres nach Mátészalka umgesiedelt wurde, um die Schüler vor dem Einziehen in die Armee zu bewahren. Anderswo wird umgestaltet oder kirchliche Immobilien werden ohne Nutzung gemietet. Aber auch kirchliche Einrichtungen sollen erweitert werden: In Čepivka/Beregardó würden die Reformiert-Calvinisten ihr früheres Gebäude anmieten, um dann in kirchlicher Trägerschaft den Unterricht der Gemeinde zu betreiben.
Der reformiert-calvinistische Bischof der Karpatoukraine erwartet auch, dass mehr Eltern ihre Kinder auf kirchliche Schulen bzw. Stiftungsschulen schicken werden. „Wenn man nicht frei entscheiden kann, in was für eine Bildungseinrichtung man sein Kind schickt und in welcher Sprache man es beschulen lässt, dann ist das eine Rechtsverletzung und das können wir nur schwer ertragen”, sagte Sándor Zán Fábián, Bischof der Reformiert-Calvinistischen Kirche in der Karpatoukraine.
„Jetzt können wir wegen dem Krieg wenig dagegen unternehmen, aber man muss sehen, dass unsere Kinder auf regionaler Ebene und im Vergleich der ukrainischen Schulen zu den besten gehören. Im Gegensatz zu den staatlichen Schulen genießen wir Entscheidungsfreiheit bezüglich der Ausgestaltung des Stundenplans: Wir unterrichten in mehr Stunden, mit anderen Methoden, wir gehen nicht davon aus, dass jeder von Grund auf Ukrainisch kann, und unsere Ergebnisse sprechen für sich.”
Die vorhandenen, erweiterten und neu eingerichteten insgesamt zehn Schulen ungarischer Unterrichtssprache könnten pro Jahrgang etwa 800-900 Kinder aufnehmen. Dadurch würde man diejenigen Schüler von den weiterführenden Schulen beschulen, die in der Karpatoukraine geblieben sind und weiterhin eine ungarische Schule besuchen wollen.
Diese Einrichtungen wird der ungarische Staat maßgeblich nicht nur erweitern, sondern ‑ wenn sie am Laufen sind – in den nächsten Jahren auch indirekt größtenteils unterhalten sowie die Löhne, Stipendien und die Kosten für das Wohnheim bezahlen. Die Umstrukturierung hat nicht nur in Hrivna einen hohen Preis. Wenn die madjarischen Kinder nach der fünften Klasse in dieser Struktur unterrichtet werden, dann wird man die Schulen in kommunaler Trägerschaft in den meisten Gemeinden abbauen müssen: Da sich beide Strukturen mit der Zahl madjarischer Kinder nicht aufrechterhalten lassen, wird in solchen Gemeinden nur noch die Primarstufe bestehen bleiben.
Über die Schließungen entscheiden die Kommunen, aber wie wir erfahren haben, werden die Schließungen in der Praxis in inoffiziellen Treffen mit den Vertretern der lokalen madjarischen Politik und der Schulträger bereits jetzt koordiniert.
Der madjarische Bürgermeister von Bergsass Zoltán Babják, betonte gegenüber G7, dass die Gründung von Privatschulen erst einen Plan und eine Möglichkeit darstellt. Die Umsetzung der Pläne ist noch nicht zu 100 % sicher. Wie Babják betonte, sei die demografische Krise eine allgemeine Erscheinung: Auch in Ungarn werden weniger Kinder geboren, auch in der Ukraine sei eine Schulreform teils notwendig, weil die Dorfschulen, die zu sowjetischen Zeiten gebaut worden sind, heute nicht mehr zeitgemäß seien und ihre Kapazitäten nicht voll ausgenutzt würden.
Deswegen hält er den Abbau der Schulen in kommunaler Trägerschaft für unumgänglich. Denn, wenn die von der Schulbehörde vorgeschriebenen Klassenstärken nicht erreicht würden, müssten das Defizit die Kommunen tragen, wozu sie nicht in der Lage wären, zumal dies nach der Etablierung eines privaten Schulsystems mit ungarischer Unterrichtssprache wenig Sinn ergäbe.
„Diese Reform müssen wir – ob wir wollen oder nicht – 2023/24 angehen. Das gewohnte System, dass ein Dorf eine eigene weiterführende Schule besitzt, wird es nicht mehr geben. Auf den Unterricht in den Primarstufen, von 1 bis 4, bestehen wir. In jedem Gehöft, jedem Dorf, wo es bisher eine Schule gab, soll es weiterhin eine geben. Aber in den höheren Jahrgangsstufen werden wir das womöglich mit Schulbustransport und einem zentralisierten Schulsystem bewerkstelligen können”, sagte er bezüglich der Umstrukturierungen im System.
Zoltán Babják fürchtet sich nicht davor, dass sich durch den Abbau der Dorfschulen die Dörfer leeren könnten. Von der Zentralisierung erwartet er eine Verbesserung des Unterrichtsniveaus, auch wenn er weiß, dass nicht alle Eltern mit der Reform zufrieden sein werden. „Die Sprache des Unterrichts kann aber nur so ungarisch bleiben”, betonte er.
Es steht auf einem anderen Blatt, welche langfristigen Folgen dies haben wird: Wie effektiv wird der Unterricht der ukrainischen Sprache in den unterschiedlichen Institutionen? Wie wird man das Abitur, das nur auf Ukrainisch absolviert werden kann, ablegen können? Inwiefern wird dieser Umbruch den Trend zur Aufnahme eines Studiums in Ungarn verstärken, was indirekt eine weitere Abwanderung aus der Karpatoukraine verstärken würde? Das parallele ungarische Schulsystem hat noch keine ukrainische Akkreditierung, bis zum erhofften Start im September verbleiben kaum drei Monate (deren Start wurde um ein Jahr verschoben, R. G.).
Der Artikel ist Teil einer Artikelreihe über die Minderheitensituation in der Karpatoukraine. Sie entstand mit Unterstützung des Journalismfund im Rahmen des Programms European Local Cross-border Journalism Grants in Zusammenarbeit mit Sinopsis Rumänien.
Beitragsbild: Milán Szabó/G7