Von Robert Becker
Wenn es darum geht, mich in den Koordinaten unseres Landes, das ich als meine Heimat achte und betrachte, zu definieren, kann ich als Grundlage nur von meinen eigenen Beispielen, dem Kanon meiner eigenen Familie und meiner Vorfahren sowie aus ihrem mir bekannten Schicksal ausgehen. Unsere historische Rechtsgrundlage ist von uns, den Deutschen in Ungarn selbst – wenn wir uns noch als etwas anderes als Ungarn mit eventuell deutschen Wurzeln sehen wollen – unzureichend bestimmt und als Volksgruppe unzulänglich festgelegt. Trotzdem müsste uns selbst unsere historische Erfahrung, unsere „babylonische Gefangenschaft“ mit all ihren Höhen und Tiefen wichtig genug sein, um jedes uns prägende Ereignis der Geschichte in diesem Kontext für immer als eine zusammenschmiedende Kohäsion in allen Generationen zu bewahren, weiterzutradieren und zu vererben.
Nach einem gewissen Recht ist nach der Wende in Ungarn allen zuvorkommend, alle überraschend, taktisch weitsichtig, strafrechtlich, politisch und wirtschaftlich klug und weise gutgemacht worden. Dabei haben wir – die überwiegende Masse wenig bewanderter, in diesem Zusammenhang kaum aufgeklärter Schwaben – im gegebenen Augenblick nicht einmal so viel gewusst, was mit jenen Glasperlen anzufangen ist, die wir im Anschein einer Großzügigkeit als Gegenwert für Hab, Gut, Feld und Vieh mit unserer Unterschrift – sogar mit gewisser Begeisterung – quittiert haben. Unserem Leidensweg, unseren Verlusten und unserer Geschichte konnte damit ein theoretisches Gegengewicht zum Ausdruck gebracht werden; es wurde allem, was uns widerfahren ist, ein Wert beigemessen, gleichzeitig wurde jedes Einzelunglück quasi als ungeschehen oder rückwirkend erledigt deklariert und kollektiviert.
Einzelgeschichte nur als Beispiel: Als es nach dem Krieg bekannt wurde, dass die Deutschen aus Ungarn vertrieben werden sollen, kamen die nichtschwäbischen Nachbarn meiner Urgroßeltern und nahmen das auf dem Hof gelagerte Bauholz und die Steine – aus denen meine Ahnen bald ein neues Haus bauen wollten – mit der Begründung mit, dass sie diese Sachen eh nicht mehr gebrauchen können. Beim Streit untereinander, wer sich mehr raffen dürfe, kam die Drohung, meine Leute nicht nur vertreiben zu lassen, sondern an Ort und Stelle zu erschlagen.
Zu wissen ist, dass mein Urgroßvater bereits seit den frühen 30er Jahren Mitglied der Ungarischen Kleinlandwirtepartei war, weshalb er spätestens seit der Gründung der Ortsgruppe des Volksbunds mitsamt seiner ganzen Familie Spott, Schimpfen und Atrozitäten ausgesetzt war. Die deutsche Gesinnung in unserer Familie hat durch diesen Umstand jedoch nicht gelitten, eine von Ämtern forcierte Magyarisierung kam nie in Frage.
Vertrieben worden sind meine Urgroßeltern zwar nicht nach deutschen Landen, sie landeten aber nach ihrer Enteignung in einer Bergbausiedlung nahe Fünfkirchen, damit mein Urgroßvater im Kohlebergbau zu arbeiten hatte. Sobald sie das nötige Geld erwirtschaftet hatten sowie nach einem Unfall unter Tage, erwarben meine Urgroßeltern in den fünfziger Jahren ein kleines Häuschen (nicht das ehemals eigene) in ihrem verlorenen Heimatdorf .
Eines Tages trug mein Urgroßvater zwei Brotlaibe bei sich nach Hause. Dies sah ein Neusiedler, der mit den Worten: „Was zum Teufel?! Der Drecksschwabe frisst noch immer vom ungarischen Brot?!“ – zu einem Prügel griff, meinen Urgroßvater dann so gewaltig schlug, dass er Tage darauf seinen Verletzungen erlag. Die Sache verlief im Sand, da ja nur ein Schwabe betroffen war, und wurde behördlich nie verfolgt. Selbst dieses Ereignis bedeutete jedoch nicht, dass man in der Familie die deutsche Sprache nicht mehr gesprochen hätte.
Ein ähnliches Erlebnis, entrechtet und aus angestammter Heimat vertrieben worden zu sein, hätte zu gegebenen Augenblicken aus der Schicksalsgemeinschaft Verbündete schmieden können; ein Positionsvorteil hätte nicht unbedingt den einen zum Opfer, den anderen zum höhnischen Aggressor machen müssen, sondern es hätte sich wie auch immer eine Solidarität herausbilden können.
Andererseits (was in meinen Augen vielleicht gar noch schlimmer ist) wurde bei uns dieses Ereignis nach dem Prinzip; „Nicht vor dem Kind!“ gehandhabt, sodass das Geschehene wie ein abzutötendes Tabu, uns Nachkommen, fast mit Erfolg vorenthalten wurde. So, als ob es ein zu vertuschender Schandfleck unserer Familie, oder pur unsere eigene Schuld gewesen wäre, zu einer Zeit alleine der Abstammung und der Muttersprache willen vogelfrei gejagt, gedemütigt und erniedrigt worden zu sein.
Vergangenes Jahr bei einer von unserer örtlichen Selbstverwaltung organisierten internen Veranstaltung zum Thema Zeitgeschichte ergab der Zufall, dass ich gerade neben dem ebenfalls eingeladenen seit bereits fünfzig Jahren nicht mehr in unserem Dorf wohnenden Sohn besagten Mannes saß, der meinen Urgroßvater tüchtig belehrt und ihm jene endgültige Lektion erteilt hatte. Das Thema der Runde, als es um die Nachkriegsjahre ging, kommentierte der Mann – sich des Umstands wohl nicht einmal bewusst – welchen Zusammenhang es unter unseren Vorfahren gegeben hatte, mir gegenüber und mir zuzwinkernd, dass die Schwaben nur bekommen hätten, was sie verdient gehabt hätten.
Ohne etwas zu sagen, stand ich daraufhin auf und verließ den Saal. Die Lehre für mich ist, dass seit jenen stürmischen Tagen der Geschichte zwar Zeit genug verstrichen ist, damit man vergibt, was zu vergeben ist, dass aber scheinbar manche „Schwoowefresser“ ihre Gesinnung leider doch auch den nächsten Generationen vermacht haben.
Ich denke ganz sicher nicht, dass man alte Wunden aufreißen soll oder darf, aber ein Vakuum an Bewältigung ist noch nie heilsam gewesen; es konserviert nur altes Leid, alte Verfehlungen und altes Unrecht. In Gesellschaften – falls sie gewissermaßen als progressiv gelten wollen – muss nämlich ein Zusammenhalt heraufbeschworen werden: Es hat bis in kleinste Ortschaften eine Gemeinschaft zu entstehen, die stärker ist als historisches Leid, als Neid und Hass, damit man nicht noch einmal teilnahmslos zulässt, dass aus den eigenen Kreisen oder aus seiner Nachbarschaft eventuell erneut Menschen entrissen, abgestempelt, entrechtet oder deportieret werden, wobei man sich alleine nur den eigenen Nutzen vor Augen hält, aus fremdem Hab und Gut sich noch zu bereichern.
Wie viel Recht habe ich auf meine Heimat? – stelle ich mir die höchst theoretische Frage. Verhindere ich genug Unrecht in meiner eigenen Umgebung? Beschütze ich entsprechend Mitmenschen, denen Unrecht widerfährt, um gegebenenfalls darauf zu hoffen, dass auch nur jemand im Fall der Fälle für mich selbst nur ein einziges Wort einlegen würde? – Oder bin ich selbst auch nur ein Wegschauer? – Sich diese Fragen zu stellen und zu beantworten, ist jedermanns Aufgabe – ja Pflicht. Denn die Geschichte wiederholt sich gerne – und so lange, bis ihre Lehre sich allgemein einprägt und vielleicht ganze Gesellschaften auf eine höhere Stufe der Entwicklung hebt.
In Ungarn wimmelt es unter dem Teppich. Dies ist ein Ergebnis jener eher fahrlässigen Art einer Bewältigung, die vielleicht von einer falschen Höflichkeit herrührt, die gegenüber einer möglicherweise schmerzhaften Ehrlichkeit die komplizenhafte Schönrederei bevorzugt. Die eventuelle Schuld lässt sich so von sich weisen oder stark relativieren. Das Ergebnis davon sind aber unter sterilem Pflaster stets stickige, eiternde Wunden, die nur die vorgetäuschte Befriedung einer Heilung zum Ergebnis haben.
Es gibt bis zur Endgültigkeit gemiedene Themen, die die Mehrheitsnation wie auch die in ihrem Kreise lebenden Volksgruppen, Minderheiten, aber auch Religionsgemeinschaften angehen. Diesen Themen hätte man sich in aller Offenheit zu stellen, meidet sie aber Generationen lang und weicht ihnen stets aus. Auch die Deutschen in Ungarn (selbst als es nach der Wende theoretisch bereits möglich gewesen wäre) sind nicht über ihren eigenen Schatten gesprungen. Sie haben lieber ihre Sprache und Identität in einen puren Daseinsschein gerückt – wodurch sie sich kampflos und zufrieden in einem als kulturell gekürten Schein ansiedeln ließen, in einem Marginalreservat aufgegebener Ansprüche eigener Definition und Bestimmung. Man hätte forcieren müssen, mit der Mehrheit alles Nötige in der vollen Dimension, in der Tiefe und Breite auszudiskutieren, um schließlich zu einem auf der Gleichberechtigung aller Beteiligten basierenden historischen Konsens zu gelangen. In dessen Rahmen könnte man sich in gegenseitiger Achtung allzeit respektieren, und in gesundem Verhältnis zusammenleben – und zwar so, dass wir zur Bereicherung aller, all jenes beibehalten hätten, was uns zu besseren Zeiten charakterisiert und ausgemacht hat.
Aus jenem Dreck, in den wir – von wem und wann auch immer – hineingetreten worden sind, haben wir uns nicht in Einheit und Zusammenhalt erhoben. Wir sind zwar- in der Form einer Maskengestalt, die stets und zu allem lächelt – unter argwöhnischer Beobachtung von außen aus dem Dreck selber herausgekrabbelt, aber sind doch beladen durch die teilweise Mitschuld allen gegenüber, die aus unseren eigenen Reihen in dem Dreck schließlich erstickt sind, denn für sie ist keine Gerechtigkeit mehr eingefordert worden.
Unsere Rehabilitation haben wir selber verjährt: bereits für immer. In diesem Zusammenhang haben wir uns die Initiative aus der Hand nehmen lassen. So sind wir als Ergebnis dieses Umstands zu falschen Widerspiegelungen unseres Selbst geworden. Wir tragen nicht nur dadurch Mitschuld, dass wir mehrfach zu Mitläufern geworden sind, sondern auch dadurch, dass wir zu Mittätern an uns selbst geworden sind.