„Selig sind die Friedfertigen“

Von Prof. em. Dr. Josef Bayer

 Am 12. Mai 2023 fand in der Stadt Münster ein Friedens-Fest statt – für mich ein seltenes Erlebnis, aus zwei Gründen. Erstens, an der Bühne trat auch meine Enkelin auf – sie sang im Chor ein Friedenslied, gemeinsam mit ihren Kommilitonen aus dem Gymnasium „Paulinum“. Zweitens, dies geschah inmitten eines neuen europäischen Krieges – diesmal tobt er zwar in der Ferne, zwischen Russland und der Ukraine. Es gab schöne Reden von Politikern und Aktivisten, das Wetter war herrlich; das Donnern von Geschützen war weit weg, es gab viel Blumen und Freude am friedlichen Zusammensein.

Wie bekannt, waren Münster und Osnabrück die zwei Städte (die eine katholische, die andere protestantische Hochburg), in denen der weltberühmte Westfälische Friedensvertrag von 1648 ausgehandelt wurde, der dem achtzigjährigen (spanisch-niederländischen) sowie der Dreißigjährigen (religiösen) Krieg ein Ende setzte. Es gibt Grund genug, diese Tradition zu feiern. Der Religionskrieg zwischen Heeren von katholischen und protestantischen Lagern tobte dreißig Jahre lang, woran Söldner und Soldaten mehrerer europäischer Mächte teilgenommen haben. Die breiten und wiederholten Feldzüge haben ganze Gebiete in Deutschland zerstört und viele Bauern verarmt. Die deutsche Version der Wikipedia berichtet wie folgt: „Die Kriegshandlungen und die durch sie verursachten Hungersnöte und Seuchen hatten ganze Landstriche verwüstet und entvölkert. In Teilen Süddeutschlands überlebte nur ein Drittel der Bevölkerung (!). Nach den wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen benötigten einige der vom Krieg betroffenen Gebiete mehr als ein Jahrhundert, um sich von den Folgen des Krieges zu erholen.” Die Erfahrungen der Kriegszeit hat, nach dem Online-Lexikon, zur Verankerung eines Kriegstraumas im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung geführt.

Dieses traumatische Ereignis hat damals sicherlich viele verarmten Bauern zur Auswanderung bewegt. Als die türkische Besatzung Ungarns vorbei war, bot sich die Donau als Kanal für eine erst langsame, später beschleunigte Aussiedlung aus deutschen Gebieten nach Ungarn. So sind auch meine Ahnen väterlicherseits aus Hessen auf einem Floss nach Ungarn gekommen; in den örtlichen Matrikeln wurde die Ehe meiner Vorfahren im Jahre 1719 in Großkowatsch/Nagykovácsi aufgezeichnet. Auch meine Ahnen mütterlicherseits sind schon 1733 in Sanktiwan/Pilisszentiván aufgetaucht. Damals war Ungarn noch kein Nationalstaat, sondern ein dynastisches Reich, in dem viele Ethnien und Nationalitäten mit verschiedenen Sprachen lebten. Der Monarch kam aus der Habsburg-Dynastie; nach dem Ausgleich von 1867 entstand zwar ein Doppelstaat, aber bis zur Auflösung des Vielvölkerstaates der Österreich-Ungarischen Doppel-Monarchie in 1918, infolge des verlorenen Krieges, herrschte der österreichische Kaiser. Und danach? Kein ungarischer König wurde mehr gekrönt. (Der Titel von Miklós Horthy war bis 1945 nur „Regent“.)

Kriege verursachen immer immenses Leid der Menschen und führen zu tiefen Verwerfungen im sozialen Gefüge. Nach dem Ersten Weltkrieg kam eine Revolution, darauf eine Konterrevolution, und drauffolgend die Eingrenzung des Landes auf ihr heutiges Maß im sogenannten Trianon-Vertrag, was die Ungarn immer als eine Verstümmelung ihres Landes erlebten. Dieses Trauma führte zu einem extremen Nationalismus und Revisionspolitik, mit den bekannten Konsequenzen im Zweiten Weltkrieg. Holocaust, Niederlage im Zweiten Weltkrieg, und auch die verordnete Vertreibung der Ungarndeutschen, alle waren mit dem Krieg verbunden. Die internationale Staatengemeinschaft musste vor allem darum neuorganisiert werden, um zukünftige Kriege zu vermeiden. So entstand die UNO mit ihrer Charta für internationale Sicherheit und Frieden. Seitdem haben zwar viele lokale und regionale Kriege stattgefunden, aber ein neuer Weltkrieg konnte vermieden werden, nicht zuletzt aufgrund der gegenseitigen Zurückhaltung der beiden nuklearen Supermächte zu Zeiten des „Kalten Krieges“.

Der einstige Westfälische Friedensvertrag ist eben deshalb ein Vorbild geworden, weil er das Prinzip der souveränen Staatlichkeit als rechtliche Grundlage für die spätere Neuorganisierung der internationalen Staatenwelt verankerte. An seiner Ausarbeitung hat auch Hugo Grotius (de Grote), der berühmte Rechtwissenschaftler und Berater von Fürsten teilgenommen. Die UNO-Charta gründet bis heute auf dem Prinzip der staatlichen Souveränität; auf gegenseitige Anerkennung der Rechtshoheit einer Regierungsmacht über einem Staatsgebiet, die von anderen Staaten anerkannt und nicht verletzt werden darf. Der historische Vertrag sorgte damals sogar für den Schutz der religiösen und nationalen Minderheiten, denen gegenüber Toleranz geboten war. Wenngleich dieses Prinzip später oft missachtet wurde, insbesondere in Kriegszeiten und später auch in einigen engherzigen Nationalstaaten, dient es bis heute als Grundlage für friedliches Zusammenleben.

In meinem früheren Artikel im Sonntagsblatt habe ich schon mal vom schwelenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine seit der russischen Besatzung der Halbinsel Krim und zwei Komitaten im Donetsk-Becken geschrieben. Ihr Ursprung war ein Regierungs-Putsch in Kiew im Jahre 2014, welche von Russen als Beginn einer antirussischen Kampagne verstanden und sicherheitspolitisch als inakzeptabel gefunden war. Hinter dem Konflikt stand die Absicht der Ukrainer, in die EU und NATO einzutreten, anstatt eine engere wirtschaftliche Kooperation mit Russland und von ihm geleiteten GUS-Staaten einzugehen. Die russisch-ukrainische Beziehung entwickelte sich seitdem unheilvoll, trotzdem wenige haben vermutet, dass sich daraus ein regelrechter Krieg entfalten kann.

Als Russland am 24. Februar vorigen Jahres einen breit angelegten Angriffskrieg gegen die Ukraine lancierte, wurde die Souveränität der unabhängigen Ukraine, die früher in zahlreichen internationalen Vereinbarungen anerkannt und auch von Russland unterzeichnet war, völlig abgesprochen. Das zeugt davon, dass die russische Führung unter Putin sich das alte Reichsdenken eigen machte, das auf nicht auf Souveränität, sondern auf Suzeränität beruhte. Das bedeutet, dass vom Reich abhängige Länder in der Gestaltung der Innenpolitik frei sind, aber in der Außenpolitik nicht. Eine solche Teilautonomie genoss z. B. Finnland innerhalb Russlands. Nun wollte Putins Russland die unabhängige Staatlichkeit der Ukraine zerstören, womöglich eine Marionettenregierung einsetzen und das Land seinen Interessen unterwerfen. Dieser Plan widersetzte sich dem internationalen Recht, beruhte aber auch auf völlig falscher Einschätzung der Lage in der Ukraine. Düstere Prognosen von westlichen Beobachtern über einen schnellen Zusammenbruch des ukrainischen Staates unter dem Gewicht der russischen Kriegsmaschinerie haben sich auch nicht bewahrheitet. Die Ukrainer haben ihr Land verteidigt und um internationale Hilfe, vor allem Lieferung von Gewehren gebeten. Die Vereinigten Staaten, die NATO und einzelne EU-Staaten haben ihnen schnell moderne Waffen zur Verteidigung geliefert und haben Russland mit wirtschaftlichen Sanktionen belegt.

Russland musste danach ihre Kriegsziele mehrfach ändern, aufgrund des erfolgreichen Widerstands der ukrainischen Armee und der zivilen Bevölkerung. Seine Truppen konnten trotzdem wichtige Territorien besetzen, etwa ein Fünftel der Landfläche, so vor allem die Küstengebiete des Asowschen Meeres, wodurch ein Korridor zur Krim geschaffen wurde, sowie weitere Teile der Komitate Luhansk und Donetsk. Die Großstadt Charkiw im Osten, wo viele Russen lebten, konnten sie jedoch nicht erobern, ihre Bewohner sind der Ukraine treu geblieben.

Der Krieg dauert nun seit mehr als ein Jahr an und versteinerte sich zu einem Stellungskrieg, wobei keiner weitere wesentliche Vormärsche erzielen kann. Die Russen versuchen, durch Raketen und Anschläge, den Widerstand der Ukrainer zu brechen. Die Kriegsverluste sind sehr hoch auf beiden Seiten, nach Einschätzung läuft es auf hunderttausende Tote bzw. Schwerverletzte auf beiden Seiten an. Acht Millionen Menschen sind vor dem Krieg ins Ausland geflüchtet, teils in den Westen, davon etwa 3 Millionen nach Russland, und 5 Millionen Menschen sind innerhalb des Landes von ihrem Wohnplatz verdrängt.

Alle besorgten Menschen fragen sich, wohin wird es hinführen, wie wird dieser Krieg ausgehen? Die wirtschaftlichen Sanktionen sind zweischneidig, sie betreffen auch die europäische Bevölkerung durch erhöhte Energiepreise und wachsende Inflation, nicht zu sprechen von den wachsenden Lebensmittelpreisen für Länder der „Dritten Welt“, welche auf Getreideimport angewiesen sind. Je länger der Krieg andauert, desto schlechter sind die Aussichten auf eine friedliche Lösung des Konflikts. In moralischer Hinsicht ist die Frage klar: Man solidarisiert sich mit den rechtswidrig Angegriffenen. Aber ein jahrelang hingezogener Krieg kann solche Solidarität zerbröckeln. Aus militärischer Hinsicht mussten die gelieferten Waffen ebenfalls vor allem der Verteidigung und nicht einem potenziellen Angriff dienen, um eine Eskalation des Konflikts möglichst zu vermeiden. Putins wiederholte Androhung mit Einsetzung von taktischen Atomwaffen, falls russisches Territorium und Sicherheitsinteressen gefährdet sind, wenngleich dies oft als nur als Erpressung abgetan wird, gibt doch Grund genug zur Zurückhaltung, wollte NATO nicht einen Krieg mit Russland riskieren. Zu viel steht hier auf dem Spiel. Wie der Generalsekretär der UNO, Antonio Guterres, es ausdrückte, im Jahr 1914 sind die damaligen Großmächte wie Lunatiker, blind in den sich eskalierenden Krieg hineinmarschiert. Nun befürchtet er, dass die jetzigen Großmächte dasselbe mit offenen Augen tun.

Die militärische Hilfe des Westens mag die Ukraine retten, aber keiner kann mit Sicherheit im Voraus sagen, welchen Preis für den Frieden zu zahlen ist. Russland hat viel verloren, an militärischem Prestige und politischer Glaubwürdigkeit, aber vor allem an Material und teurem jungen Leben – ohne ihre vorgesetzten Ziele zu erreichen. Die Absicht der ukrainischen Führung, das ganze Gebiet des Landes zurückzuerobern, inbegriffen der Krim, wo doch 80 Prozent der Bevölkerung ethnisch russisch sind, scheint jedoch weit überzogen. Vieles hängt davon ab, ob die geplanten Gegenoffensiven in dieser Sonne erfolgreich die russische Armee zurückwerfen können. Der Stellungskrieg bietet keine guten Chancen dafür. Dann müssen auch die westlichen Unterstützer, von denen viele vor Wahlen stehen, auf Kompromisse drängen. Dauerhafte Friede kann zwar nicht auf mit Gewalt erpresste territoriale Gewinne gründen. Ein Waffenstillstand, beaufsichtigt von internationalen Behörden, könnte jedoch den Konflikt auf längere Sicht wenigstens einfrieren. Eine neue Generation, politische Veränderungen vorausgesetzt, mochte zu bessere Einsichten gelangen.

Denn Krieg ist nicht im Wesen des Menschen verankert – es hängt vielmehr von seiner sozialen Organisation ab. Immanuel Kant meinte in seinem Werk „Vom ewigen Frieden“, dass dazu alle Gesellschaften vor allem zu Republiken werden müssen. Heute würde er statt Republik wohl eher Demokratie sagen.

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