Von Prof. em. Dr. Josef Bayer
Mit Freude und einer gewissen Genugtuung habe ich den Beitrag von Johann Till im Sonntagsblatt gelesen (Rückfall in dunkelste Propagandazeiten, SB 01/2022), als Riposte auf eine ärgerliche Verfälschung einer Sendung des ECHO TVs über die Ursachen der Vertreibung der Deutschen aus Ungarn nach 1945. Als jemand, dessen Familie von diesem traurigen Ereignis zutiefst betroffen war, mich empört auch solche Reinwascherei. Was nutzt es, nach mehr als 70 Jahren des Vorfalls historisch belegte Tatsachen zu verdrehen?
Leider scheint es so, dass allzu vielen Ungarn es immer noch schwerfällt, den von ungarischen Behörden während und nach dem Krieg begangenen Missetaten aufrichtig ins Auge zu sehen. Nicht nur die kitschige Skulptur am Freiheitsplatz von Budapest zeugt davon, wie stark die Neigung zur Abwälzung jeglicher Verantwortung für böse Geschichten ist. Es ist vielsagend, dass sich diese Skulptur die Behörden nur unter dem Schleier der Nacht aufzustellen trauten, als hätten sie sich geschämt, solche Geschichtsfälschung bei Tageslicht zur Schau zu stellen. Dabei geht es darum, Ungarn als einen Engel, als unschuldige Opfer der deutschen Besatzung (symbolisiert durch einen bösen Adler) darzustellen, um die Verantwortung für die Judenverfolgung und ihre Vernichtung allein in die Schuhe des Deutschen Reiches zu schieben, als hätten die Ungarn damit gar nichts zu tun gehabt. Das schlechte Gewissen der herrschenden Politiker zeigt sich auch daran, dass sie nicht wagen, die vor der Skulptur aufgestellten Reliktensammlung von ermordeten Juden, als ein „lebendiges Denkmal“, vom Platz zu entfernen. Diese kleine Ausstellung ist in Wirklichkeit ein Mahnmal von begangenen Gräueltaten, wofür die eigene Verantwortung bis heute nicht gerne zugegeben wird. Das „lebendige Denkmal“ widerspricht völlig dem Geist der Skulptur. Kein Wunder, dass es eine dauernde Attraktion für ausländische Touristen ist, zum Erstaunen über die freche Lüge der Skulptur.
Die Verbannung der Ungarndeutschen nach dem Krieg wird ebenfalls allzu oft in ein falsches Licht gerückt. Es ist zwar Teil einer größeren Fluchtbewegung gewesen, die aus dem Baltikum und Ost-Mitteleuropa nach Kriegsverlust des Dritten Reiches deutsche Volksgruppen nach Deutschland zurückwarf – ein Prozess von historischem Ausmaß, der über 13 Millionen Menschen betraf. Aber die Umstände und Ursachen dafür waren nicht gleich in den betroffenen Ländern.
Eine weitverbreitete Erklärung für die Vertreibung ist, dass der Potsdamer Vertrag es vorsah. Aber das stimmt nicht so ganz. Es wurde dort tatsächlich verhandelt, aber der Entschluss war, dass die Entscheidung darüber, was mit den deutschen Volksgruppen in der ganzen Kriegsregion geschehen soll, den betroffenen nationalen Regierungen überlassen wird. Darauf kann man also die Verantwortung für die hiesige Vertreibung nicht zurückführen. Die Möglichkeit für Vertreibung bestand, war aber nicht vorgeschrieben. Man hätte auch anders entscheiden können. Welche Gründe spielten dann eine entscheidende Rolle?
Eine Ursache war gewiss die Teilnahme am Krieg – aber dies betraf die Ungarn, Verbündeten des Dritten Reiches, nicht weniger als ihre deutsche Minderheit. Es stimmt zwar, dass Hitlers Handlanger aus den Reihen der ungarndeutschen Volksgruppe Soldaten werben durften. Aber das geschah aufgrund einer Vereinbarung zwischen Horthy und Vertretern des Dritten Reiches. Es steht zwar fest, dass der faschistisch orientierte Volksbund Jungen für die deutsche Armee bewarb, aber ihre Tätigkeit war damals legal und von den ungarischen Behörden toleriert, wenngleich die militärische Führung Ungarns, aus verständlichen Gründen, es nur ungerne akzeptierte. So konnte es geschehen, dass in ein und derselben Familie der ältere Sohn, der früher einrückte, ungarischer Soldat war, während der jüngere schon in die deutsche Armee einbezogen wurde. (Wäre es wirklich zu einem gelungenen Absprung aus dem Krieg gekommen, hätten die Gebrüder womöglich aufeinander schießen müssen…)
In Ungarn gab es bekannterweise keinen breit angelegten antifaschistischen Widerstand, und es entsteht der Eindruck, dass die Entscheidung über die Vertreibung der Ungarndeutschen teils dadurch motiviert gewesen sein mochte, im Auge der russischen Besatzungsmacht ins bessere Licht zu geraten. Vorwand für die Entscheidung war auch der von der tschechoslowakischen Regierung forcierte Bevölkerungsaustausch. Da nicht genügend Slowaken für die Umsiedlung bereit waren, sollten für die von dort verjagten Madjaren durch die Ausweisung von Deutschen Platz bereitet werden. Eine weitere Motivation mochte auch das Versprechen der Nationalen Bauernpartei gespielt haben, den verarmten, bodenlosen ungarischen Kleinbauern Boden und Hof zu gewähren. Sie forderten als Koalitionspartei am lautesten die Vertreibung der Deutschen, während die Sozialdemokraten am entschiedensten dagegen waren. Viele solche Bauern wurden dann wirklich in die Häuser der verbannten Deutschen eingesetzt. (Es gab noch spezifischere Fälle, wie die Ansiedlung der Flüchtlinge aus Bukowina, die in die Häuser der hinausgedrängten deutschen Eigentümer eingesetzt wurden, von denen viele noch im Land verweilten.)
Aus dem Zusammenfluss solcher Motivationen entstand die politische Entscheidung der ungarischen Regierung über die Entrechtung und Verbannung der Ungarndeutschen, die oft schon seit Jahrhunderten im Land verwurzelt waren und gute Bürger des ungarischen Staates gewesen sind. Es war eine tragische Entscheidung, mit viel Leid verbunden. Dieses Verdikt war auch gesellschaftspolitisch gesehen sehr unklug. Wie es einmal mein vertriebener Onkel ausdrückte, den ich in seiner neuen Heimat in Illingen aufsuchte: „Wir waren doch alle Bauer und Handwerker, warum hat man uns rausgeschmissen? Das war dumm. Wir hätten wohl mit unserem Fleiß und Geschicke auch Ungarn beim Wiederaufbau des Landes mitwirken können, genauso, wie wir es hier in Deutschland getan haben.“
Ich gebe zu, dass es nicht leichtfällt, solche Irrtümer und Sünde als solche zu bekennen, besonders, weil das eine kollektive Entscheidung und Verantwortung für eine politische Fehlentscheidung voraussetzte, wobei diese nicht alle Menschen im Lande geteilt haben. In Ungarn herrschte unter der kommunistischen Herrschaft lange Zeit ein Schweigen darüber, was eine solche Reflexion ausschloss.
Nun werden heutzutage gerade die Deutschen für eine gelungene „Aufarbeitung der Vergangenheit“ vorgeführt. Aber es ging auch dort nicht von heute auf morgen. Es bedurfte einer ganzen Generation von Selbskritik. Historiker bestätigen, dass die 12 Millionen einstigen Flüchtlingen viel dazu beigetragen haben, der eigenen Geschichte ins Auge zu sehen. Das deutsche Wirtschaftswunder und der Geist der 68er Generation haben auch das Ihrige getan, um Deutschland zu einem der demokratischsten Länder von Europa zu machen.
In Ungarn bot erst der Systemwandel eine echte Chance für eine ähnliche Denkarbeit. Leider, bevor es sich voll entwickeln konnte, hat eine neu auftretende starke „volks-nationale“ – d. i. extrem nationalistische – Gesinnung diesen Prozess gehemmt und erschwert. Ich hatte schon 1991 darauf reagiert in einem Essay, den ich sowohl auf Ungarisch als auch auf Deutsch (1993, beim Suhrkamp-Verlag) unter dem Titel Nationalismus und Verfassungspatriotismus publizierte. Diese Unterscheidung schien mir sehr wichtig, nachdem der tobende Nationalismus so viel Untaten – von Ausgrenzung und Verfolgung von Minderheiten bis hin zu vernichtenden Kriegen – in unserer Region verursacht hatte. Um meine Argumente zu untermauern, führte ich sogar Erfahrungen aus der Leidensgeschichte meiner Familie vor, die ich jetzt nicht wiederholen möchte. Aber mein theoretisches Argument finde ich bis heute gültig und nach wie vor aktuell.
Ich schrieb: „Eine auf demokratischer Selbstbestimmung beruhende politische Ordnung muss sich von jeder Idee einer ethnischen oder kulturellen Schicksalsgemeinschaft abgrenzen. Die Loyalität dem Nationalstaat gegenüber wird an die Realisierung der verfassungsrechtlich verankerten Menschen- und Bürgerrechte, der sozialen Rechte und allgemeiner Werte gebunden. Sind diese missachtet, verdient der Nationalstaat keine Loyalität, im Gegenteil, ist ziviler Ungehorsam am Platz. In dieser Vorstellung wird die undifferenzierte Auffassung von einer unteilbaren Nation zurückgewiesen, und sie duldet nicht, dass die Vertretung nationaler Interessen von einer politischen Gruppierung allein beschlagnahmt wird. Dieses Konzept strebt eine Nation der Staatsbürger an, in der sich die demokratische Beteiligung der Bürger in Selbstverwaltungen und Bürgerinitiativen verwirklicht, und verwirft die autoritäre Vorstellung von der „Volksnation”.“
Gegen die falsche Mythisierung der Nation, habe ich meine persönliche Bekenntnis zur Identität als gleichzeitig Deutscher und Ungar so bestimmt: „Mein „Ungarntum“ ist vor allem eine kulturelle und politische Identität im obigen Sinne, keines, das sich aus einer romantisierten Geschichte ableitet; es gründet auch auf keinem Mysterium von Blut und Boden oder der heiligen Krone oder ähnlichen Mythen. Nicht nur, weil meine Ahnen erst vor dreihundert Jahren in dieses Land gekommen sind. Als sie die entvölkerten Steppen und Heiden besiedelten, sich durch Rodung von Wäldern Platz verschafften, an verwilderten Hängen Reben anpflanzten, ihre Betriebsamkeit und ihre industriellen Fertigkeiten ins Land mitbrachten, haben auch sie die ungarische Nation mitgeschaffen; nicht weniger als andere Nationalitäten auch, darunter die Magyaren. Meinem Empfinden nach habe ich genauso ein Recht auf diese Heimat, wie jeder andere.“ Und ich bestand darauf, ein zeitgemäßer Patriotismus „muss sich auf die Gegenwart beziehen: auf das friedliche Zusammenleben von Völkern und Nationalitäten in einem freien, demokratisch verfassten Rechtsstaat, in dem Differenzen nicht ausgegrenzt, sondern respektiert und gar als Wert betrachtet werden.“
Ich finde diese Gedanken heute leider aktueller, denn je. Obwohl Ungarn inzwischen Mitglied der EU geworden ist, scheint der Gespenster des Nationalismus nicht verschwunden zu sein. Gegen die Schleier einer ideologisierten, nationalistischen Propaganda, gegen selbsttrügerische Lügen die Wahrheit herhalten und einen echten Patriotismus aufzeigen ist Bürgerpflicht.