Reisenotizen (12): Erdély

Von Richard Guth

Hat sich jemand in der Kasse geweigert, ungarisch zu sprechen?”, fragt mich die Mittfünfzigerin, die ich im Lebensmitteldiscounter angesprochen habe. Meine Frage war eigentlich harmlos, ich wollte wissen, wie hoch der Anteil der Sekler in der Kleinstadt nahe der Komitatsgrenze zu Mieresch ist. „Die große Mehrheit sind Sekler”, lautet die Antwort der Frau, die dann doch noch den Hintergrund ihrer vormaligen Antwort erläutert: Vor einiger Zeit habe sich eine rumänische Kassiererin in die Seklergemeinde verirrt und sich mit ziemlich jedem an der Kasse überworfen, der nicht bereit war rumänisch zu sprechen. Und hier seien es ziemlich die meisten. Das Ergebnis war eine Entlassung der rumänischen Arbeitnehmerin.

Wir befinden uns im Herzland der Ungarischsprachigen, hier, in der Umgebung von Odorhellen/Odorheiu Secuiesc/Székelyudvarhely hält sich das Seklertum noch sehr gut. Wenn man aber Richtung Szeklerburg/Miercurea Ciuc/Csíkszereda fährt, hört man immer mehr rumänisches Wort. In den großen Einkaufszentren spricht man einen in der Regel auf Rumänisch an”, das erzählt bereits ein Imbissbetreiber an der Nationalstraße. Das Landschaftsbild in diesem östlichen Teil des Seklerlandes dominieren ungarische Aufschriften und dies gilt sowohl für offizielle und als auch kommerzielle Informationsträger. Auf den Straßen, in den Geschäften hört man fast nur ungarisches Wort, auch die Lautsprecherdurchsagen aus einem vorbeifahrenden Auto ertönen wie selbstverständlich auf Ungarisch. So sieht die in jedem Reiseführer beschriebene „kleine ungarische Welt” mitten in Rumänien aus. Jedenfalls auf der Oberfläche.

Das Speiseöl kostet das Dreieinhalbfache als vor der Pandemie, das Mehl das Doppelte. So musste wir den Preis für den Langosch mit Käse und Rahm um 50 % erhöhen, von 10 auf 15 Lei (1200 Forint, drei Euro)”, das erzählt bereits die Partnerin des Imbissbetreibers und weist auf Phänomene hin, die in letzter Zeit auch für uns bekannt vorkommen. Trotz der deutlich günstigeren Lebensmittelpreise, ungarische Produkte kosten beispielsweise ein Drittel weniger als im Produktionsnachbarland, was der deutlich geringere Mehrwertsteuersatz kaum erklärt, ist das Leben der Menschen vor Ort, so die Frau, alles andere als einfach. Der Mindeslohn beträgt weniger als die Hälfte des ungarischen, knapp 100.000 Forint (260 Euro), und gerade dieser Landstrich gilt als strukturschwach (dies zeigen auch verfallene Industrieruinen am Straßenrand), was eine stetige Auswanderung, in erster Linie von Jugendlichen, in die großen Städte und ins Ausland und eine Zuwanderung von Rumänen aus der armen Moldau nach sich ziehen würde. Dass das Mutterland Ungarn dabei nicht mehr das Endziel ist, zeigt das Beispiel des Bruders der Imbissfrau, der nach 15 Jahren Ungarn vor einigen Jahren nach Österreich übersiedelte.

Die Migrationsbewegungen – eigentlich nichts Neues, auch wenn in früheren Jahrzehnten dies als Mittel genutzt wurde, um die madjarische Minderheit zu schwächen – tauchten in mehreren Gesprächen auf, sei es in der Diaspora in und um Klausenburg als auch in Hauptsiedlungsgebieten in der Harghita, der Siebenbürgischen Heide/Câmpia Transilvaniei/Mezőség und der Țara Călatei/Kalotaszeg. Dabei zeichnet sich das Bild des Wegzugs von Alteingesessenen und des Zuzugs von mobilen Menschen aus dem Altreich oder eben auch Roma. Dabei werden die neuen Nachbarn durchaus differenziert wahrgenommen: So bezeichnen sie, in diesem Falle die Rumänen, zwei madjarische Verkäuferinnen in Klausenburg als clever, selbstbewusst, mobil und erfolgsorientiert, was nach Eindruck der beiden gerade die Madjaren bzw. Sekler nicht auszeichne: „Ein Madjare überlegt sich fünfmal, ob er nach Ungarn übersiedelt, der Rumäne hingegen packt seine Sachen und zieht einfach los”. Sie sprechen darüber hinaus von einen intakten ungarischsprachigen Schulsystem, was aber zu einer Segregation führe und durchaus eine Fahrkarte nach Ungarn bedeute. Etwas, was eine junge Frau in einer Bar bestätigt: Sie habe sich deshalb für ein rumänisches Gymnasium entschieden. Denn es stellt sich die Frage, wie man mit einer rein ungarischsprachigen Schulbildung in einer rumänisch dominierten und offenen Arbeitswelt zurechtkomme. Eine Frage, die sich auch viele Slowakeimadjaren stellen.

Der Zuzug von Rumänen und die Öffnung der Welt hätten nach Eindruck eines jungen Mannes, der aus der Siebenbürger Heide stammt und südlich von Klausenburg eine Pension mit Gatwirtschaft als Pächter betreibt, dazu geführt, dass viel mehr Madjaren rumänisch sprächen als noch zur Wendezeit. Dieser Zuzug der Rumänen wird von manchen Gesprächspartnern, so auch vom Pächter, dennoch nicht als Bedrohung wahrgenommen. Die wilden Jahre interethnischer Konflikte Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, als der ultranationalistische Bürgermeister von Klausenburg, Gheorghe Funar, die Parkbänke mit dem rumänischen Tricolor überziehen ließ, scheinen vorbei zu sein. Das zeigt sich allein dadurch, dass sie jeder, den ich angesprochen habe, ob er Ungarisch spricht, freundlich und nicht abweisend reagierte, auch wenn er der ungarischen Sprache, die in Siebenbürgen immer noch sehr viele Nichtmadjaren beherrschen, nicht mächtig ist.

Gerade in der Harghita berichtete mir der Imbissbetreiber, dass sich dorthin versetzte rumänische Polizisten immer noch zu 99 % die ungarische Sprache aneignen würden, gerade dann, wenn sie eine seklerische Partnerin fänden: „Der Schwiegervater verleiht dem Ganzen einen deutlichen Nachdruck”, so der Imbissbetreiber schmunzelnd. Aber nicht nur sie haben sich integriert, leider unter Aufgabe ihrer Herkunft, Sprache und Identität, sondern Jahrhunderte zuvor die Sachsen in Därsch/Dârjiu/Székelyderzs in der Westharghita: Davon berichtet eine Frau aus der Umgebung, mit der ich gemeinsam die Wehrkirche, Unesco-Weltkulturerbe, besuche. Und wie? Durch die unitarische Kirche, die zwar von einem Siebenbürger Sachsen gegründet wurde, aber dennoch ungarischsprachig war.

Trotz allem bleibt Siebenbürgen, Erdély, Transylvanien ein Ort, wo sich Völker, Nationen begegnen, einander bereichern oder einfach nur miteinander zusammenleben. Die rumänische Kassiererin aus dem Discounter hätte sich dies auch beherzigen sollen.

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