Deutschsprachiges Interview mit Dr. jur. Rozália Lakatos, Bürgermeisterin des mehrheitlich von Roma bewohnten Halmajugra
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SB: Frau Dr. Lakatos, Sie sind von Roma-Herkunft, haben zwei Hochschulabschlüsse, sind unverheiratet, haben keine Kinder und leiten eine Gemeinde – dieser Lebensweg ist alles andere als gewöhnlich für eine Roma-Frau wie Sie, jedenfalls wenn man nach der öffentlichen Meinung geht – wie kam es dazu?
RL: Es ist richtig, es gibt sehr wenige Frauen, die als Roma eine solche Position haben, aber meiner Meinung nach ist die Zahl der Frauen in Leitungspositionen generell sehr gering – unabhängig von der Herkunft. Eigentlich habe ich mich schon sehr früh – ca. in meinem 11.-12. Lebensjahr – dafür entschieden, dass ich lernen will, wie auch, dass ich ein anderes Lebensziel habe als die anderen. Es gab zwei Filme, die mich als Kind sehr stark beeinflusst haben, einen mit dem Titel „Kramer gegen Kramer”, in dem es um einen Anwalt geht, und einen anderen über Mata Hari, in dem es um eine berühmte Spionin geht. Infolgedessen wollte ich auf jeden Fall Anwältin oder Diplomatin werden, so habe ich erstmal das Fach Internationale Studien belegt, später habe ich ein Jurastudium abgeschlossen. Meine Eltern haben es auch geliebt zu lernen, aber sie konnten nicht weiterstudieren, da sie arbeiten mussten. So hat meine Mutter als Putzfrau gearbeitet, mein Vater war Schweißer, aber sie haben immer sehr viel gelesen, wie ich auch. Da die Traditionen für mich als Zigeunerin schon immer wichtig waren, dachte ich mir, dass die vielen Reisen, das Arbeiten, des Öfteren auch abends, oder wenig Zeit zu Hause zu sein nicht mit dem Familienleben kompatibel sind. Ich habe keinen Zigeuner-Mann gefunden, für den Familie und Karriere so wichtig sind wie für mich, und ich war – bin – keine, die ein Leben lang nur zu Hause sitzt.
SB: Ihre Eltern, wie man es aus einem „Népszava”-Interview erfährt, haben im Kraftwerk von Visonta gearbeitet. Statistische Daten belegen, dass vor der Wende 90 Prozent der Roma-Männer sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Das Phänomen „Arbeitslosigkeit innerhalb der Werkstore” unkommentiert gelassen – denn dies betraf Nichtroma genauso -, waren aber auch die Frauen – immerhin zu einem geringeren Teil – beschäftigt. Traf das auch auf Ihre Musikerfamilie aus der Volksgruppe der Rumungros zu?
RL: Wie ich mich an diese Zeit erinnere, 90 – 95% der Roma-Männer (Nichtroma auch) hatte mindestens einen Arbeitsplatz. In den 1970er, 1980er Jahren war das Mátra-Kraftwerk noch „jung” und hat viele Leuten beschäftigt. Natürlich war Diskriminierung schon damals allgegenwärtig, aber bei weitem nicht so bedeutend wie nach 2000. So haben auch viele Roma-Frauen im Kraftwerk gearbeitet, ich denke ca. 50-60% der Roma-Frauen von Halmajugra als Putzfrau oder Aufzugsbetreiber (die Stufen der Kohlenblöcke konnten mit einem Aufzug erreicht werden). Dieser Arbeitsplatz entsprach den Roma-Frauen und Roma-Familien, da er sehr nahe zum Dorf war und der Verdienst war auch nicht so schlecht (im Drei-Schicht-Betrieb) und die Frauen konnten zusammen mit ihren Männern im gleichen Betrieb arbeiten. Das war wichtig. In meiner großen Familie haben fast alle Verwandten gearbeitet – meistens im Kraftwerk/Tagebau und am Wochenende als Musiker auf Hochzeiten.
SB: Wenn wir bei den Statistiken bleiben: Die Wende brachte einschneidende Veränderungen. Worin sehen Sie die Gründe?
RL: Meiner Meinung nach können die Veränderungen nach der Wende nicht in ein paar Sätzen beschrieben werden, aber es ist die Tatsache, dass die Zigeuner einer der größten Verlierer der Wende waren. Bis ca. 1980-1985 war Arbeitslosigkeit so gut wie unbekannt. Nach der Wende konnten die Zigeuner den Anforderungen einer marktorientierten Gesellschaft nach einer Zeit der vertrauten und sicheren Staatskontrolle nicht so einfach entsprechen. Bis zur Wende mussten die Zigeuner mit den Nicht-Zigeunern nicht um die Arbeitsplätze „kämpfen”: Wer arbeiten wollte, konnte arbeiten, da es die ungarische Planwirtschaft ermöglichte. Danach konnten die Leute besser leben, die als Unternehmer weiterarbeiten konnten oder eine berufliche Qualifikation hatten, die den Anforderungen des westlichen Wirtschaftsmodells auch entsprach. So etwas hatten nur sehr wenige Roma….
SB: Es gibt unzählige Vorurteile gegenüber den Roma in Ungarn, die ja auch eine recht heterogene Gruppe bilden. – Sind die Roma in Ungarn wirklich so viel „anders” als Nichtroma?
RL: Nicht so viel „anders”! Ich würde lieber sagen: Die größte Angst der meisten Leute ist der „Unbekannte”. Im 21. Jahrhundert sind die Verschiedenheiten zwischen Roma und Nichtroma nicht mehr bedeutend. Wir leben schon sehr lange unter den Nichtroma, aber sie kennen uns, unsere Kultur und Traditionen nicht. Andererseits denke ich, dass Politik und Medien dieses Gefühl der Angst vor dem „Unbekannten” bereits mehrfach verstärkt haben.
SB: Sie haben in vielen Bereichen gearbeitet: in einem Reisebüro, dann im Kraftwerk als Fachübersetzerin für Deutsch und nun als Bürgermeisterin mit juristischer Ausbildung – sind Sie im Laufe der Zeit Vorurteilen seitens der Mehrheitsbevölkerung begegnet?
RL: Als ich in den Firmen mit ungarischen Leuten zusammengearbeitet habe, bin ich mehrmals Vorurteilen begegnet, aber auf dieser Stufe war das nicht so stark wie z. B. im Falle eines Hilfsarbeiters, da es nicht vom Arbeitgeber kam, sondern von den Kollegen oder im Bewerbungsgespräch. In diesem Hinblick hatte ich Glück, da ich nur solche Arbeitsstellen hatte, wo die Arbeitgeber oder Eigentümer Ausländer waren, meistens aus Deutschland oder der Türkei. Für sie war nur wichtig, was für ein Ergebnis meine Arbeit hatte; es war für sie egal, ob dieses Ergebnis von einem Zigeuner oder einem Nichtzigeuner erzielt wurde. Bei einer Übersetzung über einen Schaufelradbagger oder einem Protokoll über eine Sitzung oder bei einem österreichischen Reiseangebot kann man nicht sagen, wer das gemacht hat… Beim Bewerbungsgespräch im Kraftwerk um die Stelle einer Sekretärin habe ich nur eine Aufgabe bekommen: Ich musste einen Text über den Tagebau und die Stromerzeugung ins Deutsche übersetzen – und es war eine Voraussetzung, dass die Sekretärin Steno kennen muss. Es war 1996. Zehn Jahre später war es nicht mehr so einfach (zwischen 2001 und 2006 war ich arbeitssuchend), denn meine Erfahrungen und Qualifikationen (deutsche Sprachkenntnisse und Steno) waren nicht mehr so wertvoll, dass ich mit einer Nichtroma hätte mithalten können.
SB: Sie sind Bürgermeisterin einer 1300-Seelen-Gemeinde im Komitat Hewesch, wo sich 2011 ein Drittel der Bevölkerung als Roma bekannte – wie ist das Zusammenleben von Roma und Nichtroma in Ihrer Gemeinde?
RL: Zurzeit beträgt dieser Anteil ca. 80%, d. h. heutzutage sind Dreiviertel der Bevölkerung von Halmajugra Roma. Unter den Jüngeren gibt es nur noch fünf bis zehn Nichtroma. Das Problem beim Zusammenleben ist nicht die Herkunft: Diese Leute leben schon sehr lange zusammen. Das größte Problem verursachen die verschiedenen Drogen und die für die Beschaffung von Drogen begangenen Diebstähle. Dieses Phänomen erschwert nicht nur das Leben der Menschen in Halmajugra, sondern führt dazu, dass die örtlichen Nichtroma und die anderen auch denken, dass nur die Roma Diebstähle begehen und nur die Roma Drogen nutzen – davon ausgehend haben wir Schwierigkeiten.
SB: In den letzten dreißig-vierzig Jahren ist in vielen Gemeinden Nordostungarns der Anteil der Romabevölkerung deutlich gestiegen, was oft von Segregationstendenzen begleitet wird – ist Halmajugra davon betroffen?
RL: Wie Sie oben geschrieben haben, der Anteil der Romabevölkerung von Halmajugra betrug 2011 nur ca. 33%, heute 80% oder höher. Vor 30 Jahren gab es nur zwei Straßen im Dorf, wo nur Zigeuner wohnten, jetzt wohnen in jeder Straße von Halmajugra Roma. Als die Regierung sich für die freie Schulwahl entschied, haben die Eltern ihre Kinder in verschiedenen Schulen – wie in Visonta, Detk, Ludas, Gyöngyös – registriert und die jungen Nichtroma sind auch meistens nach Gyöngyös oder Visonta umgezogen. Ich war noch jung in dieser Zeit, lebte als Fachoberschülerin in Erlau/Eger und habe nicht verstanden, warum die vielen Nichtroma von Halmajugra wegziehen. Ich habe es damals nicht bemerkt, dass es Probleme zwischen Roma und Nichtroma gibt oder es ist eine so schlechte Erinnerung für mich gewesen, die ich aus meinem Kopf löschen wollte. Danach blieben sehr wenige Nichtroma in der Schule in Halmajugra und es war für die Romakinder nicht vorteilhaft. Von dieser Zeit an gingen die schulischen Ergebnisse der Romakinder Jahr für Jahr zurück. Viele Kinder haben eine Mittelschule gewählt und wählen sie auch heute noch. Wenn sie jedoch mit der Tatsache konfrontiert werden, dass die anderen Schüler eine ganze andere Kultur haben, als sie sie bisher kannten, wollen sie nicht mehr in dieser Gemeinschaft bleiben und hören auf die Schule zu besuchen.
SB: Womit beschäftigen sich die Bewohner? Ist Arbeiten in anderen Teilen Ungarns oder im Ausland charakteristisch? Gibt es diesbezüglich Unterschiede zwischen Roma und Nichtroma?
RL: Ich denke, es gibt keine Unterschiede diesbezüglich zwischen Roma und Nichtroma. In den letzten zehn Jahren gab es ca. drei-vier Familien, die ins Ausland gezogen sind, aber es gab auch solche junge Menschen, die nur zwei-drei Monate als Gastarbeiter in der Bauindustrie in Deutschland verbracht haben. Die Roma von Halmajugra arbeiten entweder bei einem international tätigen Unternehmen (P&G, Rosenberger, Apollo Tyres usw.) – vermittelt von einer Zeitarbeitsfirma (Trenkwalder, Adecco) – oder im Kraftwerk/Tagebau über ein Subunternehmen aus Halmajugra. Im Dorf gibt es drei-vier Roma-Unternehmer, die im Kraftwerk oder an einer Baustelle Aufträge annehmen und bei ihnen arbeiten ca. 60-70 Roma aus Halmajugra. Die Roma-Frauen, die Kinder haben oder deren Gesundheit nicht so gut ist, arbeiten im Dorf als Straßenreiniger (in Form einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme) oder im Kindergarten in der Küche, in der Schule als Putzfrau oder als Objektmanagerinnen – ihre Zahl beträgt ca. 30-35 Personen.
SB: Inwiefern ist/war Halmajugra von der Corona-Pandemie betroffen?
RL: Im vorigen Jahr hatten wir nicht so viele Probleme mit der Corona-Pandemie. Es gab einige Erkrankungen, aber nicht so weitreichend. Anfang 2021 war aber die Hälfte des Dorfes krank, deswegen habe ich den Bürgern mit verschiedenen Unterstützungsleistungen beim täglichen Leben geholfen. Wir hatten Glück, da die Verordnung von der Halbierung des Gewerbesteuerhebesatzes unser Dorf nur in geringem Maße betroffen hat. Wir mussten nur auf die Kfz-Steuer verzichten, die Gewerbesteuereinnahmen gingen zwar ebenfalls zurück, aber es war auf Umsatzrückgänge im vergangenen Jahr zurückzuführen.
SB: Halmajugra ist dank der Gewerbesteuereinnahmen, die größtenteils vom Kraftwerk Visonta stammen, kein armes Dorf. Dennoch haben Sie mit der Sozialpolitik Ihrer Vorgänger gebrochen – warum?
RL: Ich war immer eine vorsichtige Person bei Geldsachen. Ich liebe es, für das „Heute” zu leben, aber wenn ich eine Verantwortung für mehrere Personen habe, werde ich zweimal darüber nachdenken, was morgen passieren wird. Als ich mich im August 2019 entschieden habe, dass ich als Bürgermeisterkandidatin an der Wahl antrete, habe ich das Budget des Amtes im Internet studiert. Ich bin keine Finanzexpertin, aber ich habe gesehen, dass etwas nicht in Ordnung ist: Es gab keine finanziellen Rücklagen wie zuvor. Das Budget in meinem ersten Jahr reichte kaum für die allgemeinen Amtsausgaben (Straßenbeleuchtung, Pflege von Friedhöfen, Müllentsorgung, Löhne usw.): Ich konnte die frühere Sozialpolitik nicht mehr weiterführen. Diese Maßnahme hat ein ziemliches Problem im Dorf verursacht: Die Einwohner dachten, ich wollte ihnen nichts geben, ich wäre eine sehr schlechte Bürgermeisterin und es ist sicher, dass ich das Geld des Dorfes für meine Familie ausgebe. Sie glaubten nicht, dass das Dorf kein Geld mehr hat, obwohl die vorherige Bürgermeisterin dies in einer öffentlichen Anhörung anerkannt hat. Das war ein Alptraum für mich. Wer mich aus früheren Zeiten kannte, wusste, dass ich nie lügen würde. Dann kam ich zum Schluss, dass ich es nie wieder erleben will, dass die Gemeinde fast Konkurs anmeldet, deswegen habe ich das Budget im nächsten Jahr so geplant, dass immer erstmal die notwendigen Ausgaben des Dorfes gedeckt werden und wenn Geld noch übrigbleibt, nur dann dürfen wir zusätzliche soziale Unterstützung gewähren. Die Einwohner glaubten, dass all diese Sozialhilfe subjektiv sei und dass die Gemeinde verpflichtet sei, sie zu gewähren, auch wenn die Menschen darauf gar nicht angewiesen seien. Ich denke so, wenn eine Person in einer schwierigen Situation ist, keine Arbeit hat oder aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten kann, dann muss die Selbstverwaltung helfen, da das Einkommen den Bewohnern des Dorfes gehört. Ich glaube jedoch nicht, dass es wirtschaftlich und sozial nachhaltig ist, langfristig ein Dorf mit 100 Millionen HUF pro Jahr an Hilfe zu unterstützen, ohne etwas dafür tun zu müssen.
SB: Wenn wir ein wenig in die Zukunft blicken – was halten Sie für die größte Herausforderung für Ihre Gemeinde und das Land?
RL: Ehrlich gesagt, ich habe Angst als Bürgermeisterin vor der Zukunft, da ich verantwortlich für die Leute in Halmajugra bin, und es ist schon geplant, dass das Mátra-Kraftwerk umstrukturiert und der Tagebau geschlossen wird, was bedeutet, dass viele Leuten ohne Arbeit bleiben. Ich halte im allgemeinen Arbeitslosigkeit für eine große Herausforderung auch für das Land. Die Pandemie ist eine nächste Herausforderung, die Leute können nicht mehr planen, sie sind unstabil und fühlen sich nicht sicher.
SB: Frau Bürgermeisterin, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Richard Guth.