Merkwürdige Reisenotizen: Zeugnisse vergangener Zeit?

Zum Apropos eines Spaziergangs

Von Richard Guth

Friedhöfe, als erklärtermaßen „Orte der Ruhe”, wie man es in Siebenbürgen vielfach lesen kann -, hatten schon immer eine magische Anziehungskraft für mich. Womöglich liegt es an meinem Aszendenten Skorpion, aber da werden Kenner von mir wieder sagen: „Wieder du mit deinem Astrologiezeug!” Der rege Friedhofsbesuch in der Vergangenheit – meine Ahnen in unterschiedlichen Friedhöfen begraben – als Kind, nahm mit der Zeit merklich ab und nahm leider vor anderthalb Jahren wieder an Intensität zu.

An einem Julitag führte mich mein Weg zur Ruhestätte meines lieben Bruders Christoph in den Werischwarer Friedhof. Kein unbekannter Ort, denn Mitte der 1990er Jahre mussten wir hier von meiner Großtante, die für uns wie Oma war, und dann von einem guten Freund der Familie Abschied nehmen. Ich erinnere mich noch an die Leichenhalle, an die aufgebahrten Verstorbenen und ältere Frauen rundherum, die in Deutsch und Ungarisch beteten. Mein Vater sagte damals, das sei die Generation meiner Großeltern (1910er Jahrgang), – noch deutsch beziehungsweise donaubairisch sozialisiert sprachen sie ein Leben lang im Alltag die Mundart. Es gibt noch diese Menschen – in ihren späten Achtzigern, frühen Neunzigern -, allerdings sind sie aus dem Ortsbild verschwunden. Damals, also in meiner Kindheit in der Wendezeit hörte man noch viel Donaubairisch in Werischwar: nach dem Kirchgang, auf der Straße, bei Verwandten- und Bekanntenbesuchen (so auch Mitte der 1990er beim Ausräumen der Wohnung meiner Großtante nach ihrem Tod) oder eben auch im Friedhof.

Ich horche beim Spaziergang im Friedhof, – er ist an diesem Dienstagvormittag spärlich besucht: Meist Menschen mittleren und fortgeschrittenen Alters halten sich dort auf. Ein Ehepaar ist gerade dabei die Ruhestätte der Familie auf Vordermann zu bringen. Ende 70, Anfang 80 dürfen sie sein, laut Grabinschrift eine deutsche Familie. Sie reden aber nicht schwowisch, sondern ungarisch. Auch sonst höre ich keine Mundart – ganz anders als noch vor 20, 30 Jahren. Ich komme mit dem etwas schwerhörigen Mann – im „Liget”, also im jüngsten Ortsteil von Werischwar, ansässig – ins Gespräch. In der Tat ein Schwabe, das hört man am donaubairischen Akzent. Hier würden deutsche Leute liegen, darüber hinaus hinten deutsche, vorne sowjetische Soldaten, sagt der Mann. Er scheint nicht zu wissen, dass ich eigentlich kein Fremder bin, sondern Halb-Werischwarer.

Er muss wieder weiter, die Orweit (Arbeit) wartet ja. Ich ziehe weiter und beobachte die Grabmäler. In der Tat überwiegend deutsche Familiennamen: Manhertz, Spiegelberger, Hasenfratz, Breier, Guth, Gechter und, und, und. Die Reihe könnte man beliebig fortsetzen. In einigen wenigen Familien kam es zu Namensmadjarisierungen und man sieht auch madjarische Familiennamen – meist mit Angehörigen, die wiederum einen Werischwarer deutschen Familiennamen tragen. Der Friedhof ist wahrlich ein Abbild der Entwicklung der letzten hundert Jahre (bis auf wenige Ausnahmen stammen die Gräber laut Aufschrift aus der Zeit ab 1915) – immer mehr Mischehen, jedenfalls wenn man sich ganz oberflächlich auf der Ebene der Familiennamen bewegt. Eine Wahrnehmung, die auch der Blick in die Werischwarer Zeitung bestätigt! Man muss wissen, dass Werischwar seit Eröffnung des Bergwerkes Ende des 19. Jahrhunderts Leute angezogen hat, die sich mehrheitlich im Ortsteil „Bányatelep”, Bergmannskolonie, niedergelassen haben. Nach dem Krieg wurde der dritte Ortsteil „Liget”, wo früher die Kühe weideten – deswegen die alte Bezeichnung der Hauptstraße, (Kuh)Trieb – immer mehr erschlossen. Die Suburbanisierungstendenzen nach der Wende taten ihr Übriges, so dass man heute von einer herkunftsmäßig stark vermischten Bevölkerung sprechen kann, wobei aufgrund der Besitzstruktur und deren Historie in Alt-Werischwar, also im Stadtzentrum, die Dominanz der deutschen oder deutschstämmigen Bevölkerung immer noch gegeben ist. Dass das nicht ganz ohne ist, zeigt das Beispiel eines ehemaligen Schülers von mir, der aus einem anderen ungarndeutschen Dorf stammt: Er trägt einen ungarischen Familiennamen, aber pflegt immer zu sagen, dass drei der vier Großeltern Schwaben (gewesen) seien.

Noch interessanter ist der Blick auf die Grabinschriften und den dortigen Sprachgebrauch. Da tut sich ein ähnliches Bild auf wie vor zwei Jahren in Bawaz oder bei unserem Gründer und Ehrenvorsitzenden Georg Krix in Tarian: Gräber mit deutschen Inschriften muss man mit der Lupe suchen. Es gibt die aber: Selbst in den 1950ern wurden Jahreszahlen eingemeißelt, wenn ein Familienmitglied in der Grabesstätte der Sippe zur Ruhe gesetzt wurde. Einige wenige Grabmäler mit deutschen Insignien aus der jüngsten Zeit finden sich auch: so ein „Vater unser” oder ein Zitat aus dem Te Deum am Grabmal des aus Wudigess stammenden Pfarrers Jakob Geiger, der seit Mitte der 1990er Jahre bis zu seinem Tode 2001 in Werischwar diente und die deutsche Messe mit seiner klaren deutschsprachigen Predigt bereicherte. Die meisten deutschsprachigen Inschriften stammen aber aus der Vorkriegszeit, wo Deutsch oder Donaubairisch noch Teil des Alltags war, auch wenn die állami iskola (staatliche Volksschule) „natürlich“ ungarischsprachig war.

Es stellt sich die Frage, warum die deutsch beschrifteten Gräber peu á peu verschwunden sind? Es ist so, dass sie, wenn der Erlös für die Grabstätten nicht geleistet wird, von der Friedhofsverwaltung nach einer gewissen Zeit freigegeben werden. Nach meinen Beobachtungen scheint dies in Werischwar eher eine Randerscheinung zu sein, denn die Verbundenheit mit den Grabstätten der Ahnen scheint groß zu sein, zumal wir uns immer noch in einem ländlichen Umfeld bewegen. Häufig sieht man `was anderes: Herausgeputzt wirkende Grabmäler, wo man am unteren Rand der „Großeltern” gedenkt – es ist davon auszugehen, dass man zum Zeitpunkt des Ablebens der Großeltern (also wohl die heutige (Ur)Urgroßelterngeneration) vielfach noch deutsche Aufschriften angebracht hat, inklusive deutscher Vornamen. Aber dass diese Praxis nicht omnipotent war, zeigen ältere Grabmäler mit ungarischen Aufschriften. Irgendwann wurden aber die deutschen Aufschriften bei der Erneuerung durch ungarische ersetzt, als trauriges Spiegelbild des Verlustes der deutschen Muttersprache, die keine mehr war.

Im gleichen Zug verschwanden die alten schwäbischen Frauen aus der Leichenhalle, so dass 15 Jahre nach dem Ableben des Freundes der Familie bei der Beerdigung der Witwe die Vorbeterin nur noch ungarische Gebete murmelte. In einem solchen Moment beschäftigt einen die Frage, wie man diese Entwicklung hätte abwenden können!? Viele sprechen ja von einem natürlichen Prozess, zumal in der Nähe einer Großstadt. Der Begriff „natürlich” ist ja bekanntlich relativ, die Präsenz einer deutschen Schule, einer deutschen Intelligenz, einer festen Identität (die ja die Batschkaer und Banater hatten) und einer Volkskirche wie bei den Siebenbürger Sachsen, aber auch bei den Banater Schwaben, hätte eine Chance geboten.

Nun überkommt einen beim Friedhofsspaziergang notgedrungen das Gefühl, man betrachte  Zeugnisse einer vergangenen Zeit. Aber ist es denn wirklich so? Vieles mag vergangen sein, aber sicher nicht alles. Und vor allem eins: Solche Entwicklungen werden von Menschen getragen, das bedeutet im Umkehrschluss: Es ließe sich vieles wiederbeleben, wenn man nur wollte. Also raus aus der Position des passiven Beobachters oder des ewigen Relativierers unter dem Motto „Ja, aber wir sollten froh sein, dass wir das noch haben. Anderswo…” Deutsche Grabinschriften mit deutschen Familiennamen wären einfach zu bewerkstelligen, aber selbst der Anspruch, die geliebte Person auf Deutsch zu beerdigen, ist eine Selbstverständlichkeit. Im Bistum Temeswar, nicht einmal 250 Kilometer entfernt, geht es: deutschsprachige Rundum-Seelsorge selbst nach dem Exodus der Schwaben, vornehmlich getragen von madjarischen Priestern. Wo ein Wille, da auch ein Weg – so auch im Falle von unserem Erbe, damit es wieder Teil unseres Alltags wird!

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