Von Dr. Jenő Kaltenbach
Ich möchte am Ende des Jahres 2021 eine Bilanz der Tätigkeit der ungarndeutschen Gemeinschaft zu ziehen. Dazu halte ich mich als Nicht-Insider eigentlich nicht wirklich geeignet, weil diese Tätigkeit nur für Insider zugänglich ist. Man kann Informationen kaum von außen erhalten, bis auf die offiziellen Verlautbarungen der LdU, die dann in der Neuen Zeitung zu lesen sind. Die zu wiederholen hat, glaube ich, nicht viel Sinn.
So beschränke ich mit auf ein Thema, was aber, davon bin ich überzeugt, brandaktuell ist, darüber hätte schon längst eine öffentliche Diskussion stattfinden sollen. Dies ist die Frage, wie es denn mit der Demokratie bei der Ungarndeutschen steht?
Dazu erst einmal ein Zitat aus Wikipedia: „Als geflügeltes Wort wird in der Linguistik ein auf eine konkrete Quelle zurückführbares Zitat bezeichnet, das als Redewendung Eingang in der allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat.“
Eines dieser geflügelten Wörter ist auch der Titel dieses Schreibens. Es kommt von dem berühmten deutschen Sozialdemoraten, Antifaschisten und ehemaligen Bundeskanzler Willi Brandt, der diesen Satz am 28. 10. 1969 in seiner Antrittsrede als neugewählter Bundeskanzler gesagt hat. Das war auch eine Reaktion auf sie sog. 68er Bewegung, die zur grundsätzlichen Demokratisierung und Modernisierung der deutschen politischen Landschaft geführt hat. Ohne die 68er und ohne W. Brandt wäre jetzt Deutschland nicht eine der führenden Demokratien Europas, ja der Welt.
Jetzt mehr als 50 Jahre danach wäre es, meines Erachtens, höchste Zeit auch bei den Ungarndeutschen über eine ähnliche Demokratisierung zumindest nachzudenken. Ich weiß, bei einer Minderheit ist Einheit ein hohes Gut, also fürchtet man sich grundsätzlich immer vor einer Spaltung. Das soll aber nicht bedeuten, dass alle Entscheidungen immer hinter geschlossenen Türen, von einem Gremium gefällt werden sollen. Das war aber bis jetzt immer, bei jeder Entscheidung der Fall. Die Landeselbstverwaltung als allmächtige Instanz hat immer die Entscheidungen getroffen, so z. B. auch darüber, wer die Gemeinschaft im ungarischen Parlament vertreten sollte. Es gab nie ein offener Wettbewerb, eine Kampagne, mit mehreren Kandidaten, die noch dazu sich mit einem Programm angemeldet hätten. Da könnte natürlich der amtierende Abgeordnete auch teilnehmen, aber nur danach, nachdem über seine Tätigkeit eine Bilanz gezogen wurde, also seine Arbeit von der ganzen Gemeinschaft bewertet wurde.
Mehrere Kandidaten mit verschiedenen Programmen würden eine richtige Wahlkampagne führen, ihre Ansichten kundtun, dafür werben. Das Ganze von der Landeselbstverwaltung organisiert und von der ungarndeutschen Presse begleitet. So etwas wäre ein richtiges Novum, ja ein Meilenstein in der Geschichte des Ungarndeutschtums. So ein Wettbewerb würde auch eine Grundlage für die Rechenschaftspflicht des ungarndeutschen Abgeordneten schaffen, damit die Gemeinschaft in der Lage wäre seine/ihre Arbeit zu beurteilen und dementsprechend zu bewerten. Es sollte nicht nur am Ende der Legislaturperiode geschehen, sondern regelmäßig, mindestens einmal im Jahr.
Die Beurteilungsgrundlage ist natürlich das Programm bzw. die Reaktion auf Ereignisse, die die Gemeinschaft betreffen. Die Frage ist, was sind eigentlich diese Ereignisse? Dazu könnte die LdU eine Art Richtlinie erarbeiten. Ich habe den Eindruck, dass bis dato darüber keine Diskussion stattfand, oder wenn doch, dann, wie üblich, hinter verschlossenen Türen. Ohne solch ein Instrument ist aber höchst wage, was eine Rechenschaft, als Grundprinzip jedes demokratischen Handels, bedeutet. Durch so ein lebendiges Verhältnis zwischen den Abgeordneten und der Gemeinschaft könnten auch eventuell nötige Korrektionen in die Wege geleitet werden.
Diese Demokratisierung sollte, meines Erachtens, nicht nur bezüglich des Abgeordnetenfindungsprozesses stattfinden. Ein politisches Amt sollte in einer Demokratie grundsätzlich immer durch eine anständige Wahl besetzt werden. Es muss natürlich nicht immer eine Art „Urwahl“, mit breiter Beteiligung, sein, aber irgendeine Legitimierung ist immer wichtig.
Nun ja, wie gesagt, es wäre an der Zeit, endlich „mehr Demokratie wagen“.