Seit 500 Jahren im ungarischen Voralpenland daheim

Im Gespräch mit der ungarländischen Kroatin Mirjana Steiner aus Siegersdorf/Hrvatski Židan

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SB: Mirjana Steiner – der Vorname klingt kroatisch, der Nachname hingegen deutsch – darf ich um Aufklärung bitten? Stehen Sie auch als Mirjana im Personalausweis?

MS: In meinem Personalausweis steht Mirjana Steiner; ich habe keinen zweiten Vornamen. Der Name Mirjana ist slawischen Ursprungs – nach einigen Quellen in den Anfängen hebräischen Ursprungs. Jedenfalls begegneten meine Eltern dem Namen im kroatischen Kontext, daher bringen wir ihn mit dem kroatischen Ursprung in Verbindung. Das steht unserem Herzen nahe, denn wir bekennen uns zur kroatischen Volkszugehörigkeit, unsere Muttersprache ist kroatisch. Was den Familiennamen Steiner anbelangt: Er klingt tatsächlich deutsch, was aufgrund der Nähe zur österreichischen Grenze nichts Ungewöhnliches ist, aber dessen Geschichte beziehungsweise Ursprung ist ungeklärt. Also, was hinsichtlich meiner Herkunftsgeschichte feststeht: Ich bin kroatischer Muttersprache, lebe in Ungarn (wie meine kroatischen Vorfahren seit 500 Jahren) und in unserem Stammbaum finden sich mehr deutsche als kroatische oder madjarische Nachnamen.

SB: Sie stammen aus einer gradišće-kroatischen Gemeinde in Westungarn namens Siegersdorf/Hrvastksi Židan/Horvátzsidány – erzählen Sie ein bisschen über Ihre Gemeinde!

MS: Siegersdorf liegt in der Nachbarschaft der Stadt Güns/Kőszeg. Es wird von fleißigen, hilfsbereiten Menschen bewohnt. Ich denke, der Ort bietet zahlreiche Möglichkeiten, die den Dorfbewohner einen Komfort bieten, wie zum Beispiel Tante-Emma-Läden, Kneipen, Hausärzte, freiwillige Feuerwehr, körpernahe Dienstleistungsbetriebe, Schule, Kindergarten, Pfarramt, Magistrat, Gemeinschaftshaus und Seniorenclub. Es freut uns, dass der Kreis der Institutionen breiter wird… Der Seniorenclub als soziale Einrichtung wird im Laufe des Sommers (das Interview wurde Anfang Juni geführt) um den Schwerpunkt Krankenversorgung erweitert, was eine große Hilfe für unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger sein wird. Darüber hinaus wird im Laufe des nächsten Jahres der Kinderhort eröffnet. Siegersdorf wird von Jahr zu Jahr schöner, es entwickelt sich stets, ich könnte sagen, hier passiert immer etwas.

Siegersdorf ist noch mehrheitlich kroatisch bewohnt, aber es gibt immer mehr Zugezogene, auch aus anderen Gegenden des Landes oder gar vom anderen Ende Ungarns. Das Dorf ist sowohl bei Ungarn als auch bei Ausländern beliebt, die hier entweder ihren Haupt- oder Nebenwohnsitz haben, zu Urlaubszwecken. In den letzten Jahren konnten die Beziehungen zu den benachbarten Gemeinden Bleigraben/Plejgor/Ólmod, Roggendorf/Kiszsidány und Prössing/Prisika/Peresznye ausgebaut werden, sowohl auf der Ebene der Verwaltung als auch im Kulturleben. Was die Veranstaltungen anbelangt, so sind diese zweisprachig – kroatisch-ungarisch. Auf der Straße hört man noch viel Kroatisch – durchsetzt von deutschen und ungarischen Begriffen, was für die Einheimischen völlig selbstverständlich ist, aber für die Nichtortskundigen umso ungewöhnlicher und witziger.

SB: Das Dorf mit 800 Einwohnern liegt unweit der Grenze zu Österreich – welche Rolle spielt (die Nähe) Österreich(s) im Leben des Ortes?

MS: Viele der Dorfbewohner nutzen die Arbeitsmöglichkeiten im nahen Österreich, um für sich und ihre Familienangehörigen einen besseren Lebensunterhalt zu sichern. Das hat naturgemäß sowohl kulturell als auch gesellschaftlich Auswirkungen. Durch den Pendelverkehr zwischen den beiden Ländern sind mittlerweile freundschaftliche Beziehungen zu den dortigen Gemeinschaften entstanden, sowohl auf der privaten Ebene als auch auf der von Kommunen, was ein sehr erfreulicher Mitbringsel des Pendelns ist.

SB: Wenn man durch Siegersdorf fährt, sieht man viele zweisprachige Aufschriften und Schilder – wie präsent ist die kroatische Sprache im Alltag?

MS: Neben den Aufschriften ist die Zweisprachigkeit auch Teil des öffentlichen Lebens, also in der Kirche, das heißt in den Gottesdiensten, auf den Veranstaltungen, im Kindergarten, der Schule, auf dem Amt, im Geschäft, der Kneipe… Zugegebenermaßen erlebt die kroatische Sprache nicht mehr ihre Glanzzeit, die ist mittlerweile vorüber und verschwindet zunehmend aus dem öffentlichen Leben. Wenn wir die historischen Hintergründe und die Einwirkungen der Gegenwart berücksichtigen, dann kann man gewissermaßen von einem natürlichen Prozess sprechen. Eine Sprache lebt, solange einer deren Sprecher lebt, und bleibt ewig erhalten, wenn sie aufgezeichnet wird.

SB: Trifft das auch auf den Sprachgebrauch in den Familien und im Kreise der Jugendlichen zu?

MS: Es gibt nur noch wenige Familien, in denen täglich Kroatisch gesprochen wird, was dadurch den kroatischen Sprachgebrauch der Jugendlichen und die Tradierung der Sprache beeinflusst. In Gruppen und Freundeskreisen wird nicht mehr kroatisch gesprochen; unter den jungen Leuten gibt es kaum noch welche, die Kroatisch als Muttersprachler sprechen. Im Rahmen des Unterrichts und in AGs, auf Veranstaltungen, beim Tanz oder im Musikunterricht werden die Jugendlichen häufig mit dieser Sprache konfrontiert. Trotz des sehr eingeschränkten Gebrauchs ist es für sie natürlich, dass die kroatische Sprache auf lokalen Veranstaltungen und im öffentlichen Leben einen wichtigen Platz einnimmt.

SB: Seit 1978 dient in Ihrer Gemeinde ein kroatischer Priester, Pfarrer Štefan Dumović, dem – wie meine Frau und ich während unserer Trauung beobachten konnten – die muttersprachliche Seelsorge und die Pflege der kroatischen Identität sehr am Herzen liegt. Wie bewerten Sie seine fast 50-jährige Tätigkeit und in welchem Zustand befindet sich die kroatische Seelsorge in Siegersdorf und Umgebung?

MS: Das Jahrzehnte lange Lebenswerk von Pfarrer Dumović ist unglaublich komplex. Er ist einer derjenigen, die für die Pflege der kroatischen Identität tiefe Wurzeln legten, starke Pfeiler errichteten, nicht nur auf dem Gebiet der Seelsorge, sondern auch in kulturellen Belangen. Er hat unter anderem einen Verein gegründet, der seit 30 Jahren tätig ist und einen Teil der örtlichen Kulturgruppen unterstützt. Dem zu verdanken haben wir die Gründung einer Amateurtheatergruppe, das katholische Waldjugendlager „Peruška” und noch vieles andere. Und es bedeutet sehr viel, dass die Gemeindemitglieder in der Kirche den Heiligen Messen auf Kroatisch beiwohnen und in ihrer Muttersprache beten können. Die Siegersdorfer sind in einer glücklichen Lage, jedenfalls solange Pfarrer Dumović noch tätig ist. Es wäre wichtig, dass das noch lange so bleibt, denn solange ein Volk sich Gott in seiner Muttersprache zuwenden kann, ist noch nichts alles verloren, weil es ein fester Punkt ist. Im benachbarten Bleigraben hält auch der Pfarrer die Messen, sie sind in der gleichen Situation wie wir. Die Situation in Prössing, der anderen kroatischen Nachbargemeinde ist hingegen eine etwas andere. Dort ist die Sprache der Liturgie bereits seit längerem Ungarisch, auch die Predigten. Lediglich bei den Messliedern hat man die kroatische Sprache bewahren können.

SB: Pfarrer Dumović feierte letztes Jahr seinen 80. Geburtstag und betreut die Pfarre seit seiner Pensionierung als Administrator; wie sind die Aussichten, bekommen Sie wieder einen kroatisch(sprachig)en Pfarrer für Siegersdorf und Umgebung?

MS: Wir wünschen uns sehr, dass wir einen Pfarrer kroatischer Muttersprache erhalten, denn es wäre wichtig für die Bewahrung der Muttersprache im Leben der Menschen, auch wenn unsere Chancen nicht besonders groß sind. Wir haben noch keinerlei Informationen über den neuen Pfarrer, aber bis dahin hoffen wir auf das (fast) Unmögliche.

SB: Es ist kein Zufall, dass ich nach der Seelsorge gefragt habe – Sie sind aktives Mitglied des Religions- und Kulturvereins der Kroatischen Katholischen Jugend und organisieren Ferienlager (Peruška) sowie Fahrten ins Mutterland. Wie empfänglich sind Jugendliche für solche Angebote? Welche Rolle spielt die kroatische Sprache in den Aktivitäten und im Vereinsleben?

MS: Der Verein wird weiterhin vom Vater geleitet, wobei die Aufgaben von mehreren Mitgliedern erledigt werden. Die Organisation und Durchführung des kroatischen katholischen Jugendwaldcamps „Peruška” hat er uns Jugendlichen anvertraut. Jedes Jahr, auch in diesem planen wir ein Jugendlager, heuer zum 28. Mal – falls uns das Pandemiegeschehen es erlaubt. Ich kann vielleicht behaupten, dass unser Ferienlager sehr beliebt geworden ist; die Kinder von nah und fern kommen gerne zu uns. Wir tun alles dafür, dass die kroatische Sprache ein fixer Bestandteil der Campwoche wird. Die Anmeldung setzt keine Kroatischkenntnisse voraus – wir müssen ja die Umstände wie Sprachkenntnisse berücksichtigen -, aber wenn sich jemand anmeldet, dann muss er sich im Klaren sein, dass er an kroatischsprachigen Programmen teilnehmen muss. Jedes Jahr versuchen wir die jeweilige Sprachkompetenz der Teilnehmer zu berücksichtigen und jedem ein passgenaues Angebot zu unterbreiten. Dies bedarf viel mehr Vorbereitung seitens der Organisatoren, aber kommt sowohl ihnen als auch den Kindern zugute.

SB: Vor einigen Jahren habe ich in Großwarasdorf/Veliki Borištof eine Reportage über die Burgenlandkroaten gemacht – wie eng sind Ihre Beziehungen zu den Burgenlandkroaten?

MS: In den vergangenen Jahren wurden die Kontakte zunehmend intensiviert. Wir nehmen gegenseitig teil an kulturellen Veranstaltungen, sowohl als Gast oder als geladener Teilnehmer, und die Jugend der Umgebung nahm des Öfteren an dortigen Kroatenbällen und -partys teil und umgekehrt. Der Sport ist auch verbindendes Glied, denn bei den Mitgliedern der dortigen Fußballmannschaft finden sich etliche Siegersdorfer, was zur Folge hat, dass Siegersdorfer Fans öfters zu Spielen des Großwarasdorfer Clubs fahren. Man könnte sagen, dass wir jeweils heimfahren. Dieses Bindeglied entstand sowohl entlang der Vereine als auch auf der privaten Schiene.

SB: Im Januar haben Sie als Gradišće-Kroaten eine Unterstützungsaktion für die vom Erdbeben betroffene Region gestartet – ist das ein Zeichen Ihrer engen Bindungen zum Mutterland?

MS: Eindeutig! Unser Herz schlägt im Gleichschritt. Die Sammelaktion bedurfte keinerlei Erklärungen und Begründungen. Gleichzeitig setzten sich Jung und Alt, Arm und Reich, Kroatischsprachige und Ungarischsprachige in Bewegung. Diese Reaktion konnten wir in uns nicht löschen, wir hatten das Gefühl, dass ein Teil von uns da ist und gerade leidet. Das war nicht nur mein persönliches Empfinden, sondern konnte auch woanders in der kroatischen Bevölkerung in Siegersdorf und der Umgebung vernommen werden.

SB: Wenn wir ein wenig in die Zukunft blicken – was sind die größten Herausforderungen für die Gemeinschaft?

MS: Im vorliegenden Fall könnte ich vielleicht sagen, dass die weltweite Pandemie, die uns zu einem Lockdown zwang, die Herausforderung Nummer 1 darstellt, in der Gestalt, dass wir das gemeinschaftliche Leben neu starten müssen, mit neuen Zielen und einem neuen Elan. Zum Glück bot diese besondere Situation eine Chance, neue Ideen und eine neue Sichtweise zu entwickeln, die wir peu á peu, beim Neustart einsetzen können.

Wenn wir die Pandemie ein Stück weit außer Acht lassen, dann gehören eindeutig die Bemühungen für die Bewahrung der kroatischen Sprache zu den Herausforderungen. Womöglich ist es gottgegeben, dass eine Sprachgemeinschaft, die ihre angestammte Umgebung verlässt und sich fern des Mutterlandes niederlässt, nur eine Zeit lang ihre Eigenarten bewahren kann (weniger als 500 Jahre). Aber was wir auf alle Fälle bewahren wollen, ist das Bestreben, diese Sprache zu benutzen, zu unterrichten und bekannt zu machen, so lange es geht, und in Buchform, niedergeschrieben, ihr eine Chance zu geben, damit sie ewig erhalten bleibt.

SB: Frau Steiner, vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Richard Guth.

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