Das Erbe (3)

FUNDSACHE

Guttenbrunn (Hydegkwth, Edekút)

 

Von David Lakner, erschienen in der zweitgrößten Wochenzeitschrift für Politik und Gesellschaft „Magyar Hang”, Ausgabe 19 vom 7. Mai 2021, Veröffentlichung in deutscher Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Deutsche Übersetzung: Richard Guth

Ich war nie in Guttenbrunn, ungarisch Temeshidegkút, rumänisch Zăbrani. Die Zeit der Quarantänen hat es einem nicht wirklich ermöglicht, zu reisen, aber selbst in  Zeiten der großen Freiheiten kam es recht selten vor, dass ich Gebiete jenseits der Grenze besuchen konnte. Das angehängte Foto hat mich aber dazu motiviert – wenn möglich – diese Anrainergemeinde am Mieresch im Banat aufzusuchen. Auch dann, wenn ich auf viele Familienreliquien wohl nicht mehr stoßen werde – bis auf eins-zwei Grabsteine im Friedhof!

Auf dem Bild sind nämlich mein Ururgroßvater und seine Familie zu sehen, nach meiner Berechnung ungefähr Anfang der 1890er Jahre.  Das weiß man deshalb, weil man auf dem Bild die jüngeren Schwestern meiner Ururgroßmutter, Eva Gel(c)z – geboren am 8. Februar 1879 –, die einige Jahre jüngere Barbara (mit einem Blumentopf in der Hand) sowie Kathi (oberhalb des Stuhls) erkennen kann. Die Familienerinnerungen besagen, dass sie später in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind. Eva Gelcz hatte auch einen älteren Bruder, der jedoch im Teenageralter aufgrund eines tragischen Unfalls ums Leben kam (er wollte über einen Zaun klettern, verunglückte aber und man konnte sein Leben nicht mehr retten). Wenig später schied auch ihre Mutter, also meine Ururgroßmutter, Eva Eckert, von den Lebenden. Meine Urgroßmutter erklärte das so, dass wegen des Verlustes des Sohnes ihr Herz gebrochen sei. Dies soll vor der Fotoaufnahme geschehen sein, da auf dem Bild die zweite Frau meines Ururgroßvaters, Mathias Gel(c)z, zu sehen ist. Die anderen abgelichteten Personen kenne ich nicht. Auf dem Bild ist die damals etwa zwölfjährige Eva Gel(c)z nicht zu sehen. Zehn Jahre später, am 26. Juni 1902, vermählte sie sich mit meinem Ururgroßvater Nikolaus Keil. Meine Urgroßmutter Adelheid Keil ist am 11. Juni 1914 bereits in Arad geboren. (Sie hatte eine 1911 geborene ältere Schwester bzw. zwei ältere Brüder – die beiden haben aber das Kindesalter nicht mehr erreicht.)

Guttenbrunn bildet mit den beiden anderen wichtigen Städten – mit Arad und Temeswar – ein schönes Dreieck und liegt näher zum Ersteren, deshalb ist es nicht verwunderlich, dass meine Verwandten öfters dort verkehrten bzw. dass meine Urgroßeltern bereits in Arad eine Familie gründeten. Guttenbrunn war deutschsprachig: Von den 3000 Einwohnern der Jahrhundertwende waren etwa 2600 deutsch, die Zahl der Rumänen betrug 250 und die der Madjaren 190. In den Dokumenten meiner Vorfahren finden wir folgende Namen: Mathias Gelz, Eva Gelz und Eva Eckert; als Geburtsort wird Guttenbrunn genannt. Hier wurde 1852 der Schriftsteller und Theaterdirektor Adam Müller-Guttenbrunn geboren, „der Nationalschriftsteller der Banater Schwaben”, der den größten Teil seines Lebens in Wien verbrachte, wo er auch seine größten Erfolge erzielte.

Erstmalig wurde der Banater Ort 1463 erwähnt, noch unter Hyydegfew bekannt, damals trug es auch die Namensformen Hydegkwth, Sedekut, Guttenbrunn, Edekút és Hajdekút. Elek Fényes schrieb 1851: „Hier gibt es 2544 Katholiken, 195 Griechisch-Katholiken, 91 Orthodoxe, drei Juden; fünf ganze, 182 halbe, 88 Viertel-, eine Achtelhufe, 19 Kleinhäusler, 62 Vertragskleinhäusler, 135 Bewohner, 87 Meister, fünf Händler, anständige katholische Pfarrkirche, schönes Pfarrhaus, große Gastwirtschaft, Postamt. (…) Endlich ist es nach seiner herrlichen kalten Quelle berühmt, um die sich die ersten Ansiedler aus Sachsen und Österreich 1724 versammelten und diese überdachten, sie ist auch in ihrem Siegel enthalten.”

Wenn wir uns das Foto genauer anschauen, dann können wir in der Hand meines Ururgroßvaters ein Exemplar der Temesvarer Zeitung vage erkennen. Es kann durchaus sein, dass es sich dabei um ein anderes Blatt handelt, aber aufgrund des „Zeitung”-Wortteils, der Entsprechung der Kopfzeile, des Ortes und der Zeit ist diese Zeitung das Wahrscheinlichste. Das deutschsprachige Blatt aus dem Banat erschien zwischen 1852 und 1948, erster Verleger war der Schriftsteller, Dichter und Journalist Karl Nikolaus Hirschfeld. Das Blatt hatte einen Autor unter dem Pseudonym Dioscorides, der 1869 hier seine Utopie mit dem Titel „Temeswar 2069” veröffentlichte. Discorides ging davon aus, dass die Stadt in der Zukunft von einer riesigen Glaskuppel überdacht wird, die Pferdebahn von schwarzen, rohrartigen und automatischen Verkehrsmitteln abgelöst wird und die Gasleuchten von photovoltaikbasierten Lichtquellen ersetzt werden. Er stellte sich eine ideale Welt vor, in der es keinen Krieg zwischen den Ländern gibt und die Menschen auf erneuerbare Energiequellen bauen. (Er benutzte ganz konkret die Begriffe „neue, erneuerbare Energiequellen” und „unerschöpflich”, R. G.).

Das Blatt erneuerte sich in den 1910er Jahren und fusionierte dann mit der neugegründeten „Neue Temesvarer Zeitung”, die äußerlich eine konservative, aber liberal-kosmopolitische Zeitung war; zum 80. Jubiläum 1930 schickte Thomas Mann aus München sogar eine Glückwunschkarte. Nach Hitlers Machergreifung berichtete das Blatt über die Rassenverfolgung in Deutschland, später über die Konzentrationslager. Nach dem Machtantritt Ion Antonescus wurde das Blatt sogar verboten.

Der Historiker István Berkeszi, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte, schrieb über das zeitgenössische Blatt: „Karl Hirschfeld wurde am 1. November 1866 von Rechtsanwalt Michael Niamesny, dem Sekretär der Industrie- und Handelskammer, als Schriftleiter abgelöst. Niamesny übernahm insbesondere auf Anweisung von Schatzmeister Pál Freiherr Sennyey die Schriftleitung und zwar deshalb, um die Temesvarer Zeitung im Geiste des Osterartikels von Ferenc Deák zu führen. Niamesny entsprach dabei dem Auftrag, aber die Regierung wurde inzwischen vom konservativen Geist erfasst, der immer mehr zur Rückkehr zu den Prinzipien von 1847 drängte. So konnte es geschehen, dass Niamesny, der sich für die Deák-Partei einsetzte, über das damalige Polizeipräsidium von der Regierung gerügt wurde. Letztendlich siegten die Deák-Partei und der damalige Standpunkt der Temesvarer Zeitung, da inzwischen das Andrássy-Ministerium ernannt wurde, das im Geiste von Ferenc Deák den Ausgleich von 1867 vorbereitete.” (Historische Perspektiven: Wir sind weiter von der Wende entfernt als die Familie bei der Fotoaufnahme von dem Ausgleich.)

Meine Ururgroß- und Urgroßmutter sprachen auch später deutsch untereinander, zuerst in Arad, dann gut zwei Jahrzehnte nach der Übersiedlung in Ungarn. Meine Urgroßeltern haben noch in Arad geheiratet, am 6. November 1937. Aber sechseinhalb Jahre später wurde meine Großmutter bereits in Raab geboren.

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