Verbundheit in zwei Richtungen – Szabolcs Bárdos-Blatt (23) über Wurzeln, Treue und Identität
Meine Identität war lange Zeit nicht klar, auch jetzt entwickelt sie sich noch. Obwohl ich immer wusste, dass ich über einen deutschen Hintergrund verfüge, war diese Tatsache ein schwieriger Punkt für mich.
Warum? Lassen Sie mich das bitte erklären!
Meine Mutter ist eine Ungarin, die aber Siebenbürger sächsische Wurzeln hat. Väterlicherseits habe ich fast ausschließlich donauschwäbische Vorfahren, die alteingesessene Kimlinger (Dunakömlőd) und Pakscher (Paks) sind. Trotz alledem haben weder mein Vater noch meine Mutter ein deutsches Selbstbewusstsein – ja beide haben eine starke Liebe nicht nur zu Ungarn, sondern auch zum madjarischen Volk, als dessen Teil sie sich definieren.
Ich spürte aber keine Vollkommenheit in diesem Bereich – ich dachte, als ich noch ein Kind und Teenager war, dass ich madjarisch werden soll – ohne jemals eine familiäre Verbindung mit der “schwäbischen” Kultur oder Sprache gemacht zu haben. Meine Muttersprache ist ungarisch, ich habe erst ab der vierten Klasse Deutsch gelernt. Das Dorf, wo ich aufgewachsen bin (Fadd – Komitat Tolnau), hatte nie eine deutsche Gemeinschaft. Als ich jung war, vermied ich jeglichen deutschen Einfluss – nicht nur unbewusst, sondern auch bewusst: Ich wollte immer ein Madjare und kein Deutscher sein.
Die erste große Änderung brachte die Wahl der weiterführenden Schule. Ich besuchte sechs Jahre lang das Evangelische Gymnasium „Sándor Petőfi” in Bonnhard (Bonyhád). Von dem nordöstlichsten Rand der Schwäbischen Türkei zog ich ins Herz dieses Gebiets um. Diese sechs Jahre verbrachte ich in einem ausgeprägten deutschen Milieu – und nach einer Weile wurde dies für mich sehr lästig und frustrierend. Ich begegnete einer ungarndeutschen Mentalität, die auch mich prägt, obwohl ich zu 100 Prozent assimiliert war. Ich war auch arbeitsfreudig und ambitiös, eckig und ungroßzügig, fast wie eine Karikatur – wollte es aber nicht wahrhaben. Ich beobachtete diese Merkmale bei den anderen – bei mir natürlich nicht – und ich hielt es für peinlich und abstoßend. Ich wollte anders sein!
Diese Abgrenzung führte zu einer Verklärung des Madjarenseins. Ich merkte nicht, dass diese Identität nicht besser oder anders ist als die “Pußta-Romantik” der deutschen Touristen, die Ungarn besuchen und derweil die Retro-Band „Dschingis Khan” hören. Ich sollte “bestrebt” sein, ein echter Madjare zu sein – es wies darauf hin, dass ich meine Nationalität gar nicht als natürlich empfand.
Die zweite und die größte Änderung brachte der Kontakt zu meiner Frau zu Beginn der Universitätszeit. Wir studieren auch jetzt noch reformierte Theologie. Sie ist meine Kommilitonin und ich wusste sofort, dass wir irgendwann als Ehepaar zusammenleben und arbeiten werden. Sie kommt aus dem serbischen Teil des Temeswarer Banats, aber sie ist eine Madjarin. Sie hat keine deutschen Vorfahren, eher kumanische. Sie hatte aber einen ganz anderen Blick auf dieses Thema als ich. Sie fand meine Herkunft eher exotisch und reizvoll als abstoßend. Dort, woher sie stammt, lebten viele Banater Schwaben – sie wurden unmittelbar nach dem Weltkrieg vertrieben und ermordet. Die Serben und Madjaren erinnern sich aber auch heute noch mit großer Liebe und Ehre an die ehemaligen Mitbewohner. Dies zu erfahren, war für mich erstaunlich und schockierend. Ich erkannte, dass ich meine Gabe – mein Erbe – bislang kaum geschätzt habe.
Ich wusste immer – meine Oma erzählte stets -, dass unser Nachname ursprünglich nicht „Bárdos” war, sondern „Blatt”. Anstatt weiter vor meiner Herkunft zu fliehen, wollte ich nun dazustehen: Im vergangenen Jahr nahm ich unseren ursprünglichen Nachnamen wieder an, in der heutigen Form: „Bárdos-Blatt”. Ich interessierte mich immer mehr für die Herkunft – und nunmehr kann es sich in eine gute Richtung entwickeln. Ich machte eine Familienforschung. Es stellte sich heraus, dass mein Urgroßvater, der als Schiffer an der Donau arbeitete, seinen Nachnamen vor 80 Jahren änderte. Ein anderer Urgroßvater marschierte in einer Kolonne des deutschen Heeres mit und verschwand während der Kämpfe in Deutschland – für immer. Sein Heimatdorf wurde nach dem Weltkrieg zu einem Auffanglager für die deutsche Bevölkerung. Die Bewohner wurden fast alle vertrieben und Madjaren kamen ins Dorf – von der Tiefebene. Meine Oma musste als Halbwaise in äußerster Armut aufwachsen. Aber sie – und die anderen auch – arbeiteten für ein besseres Leben und wir können schon feststellen, dass es ihnen gelungen ist.
Nach mehreren Generationen und politischen Umbrüchen habe ich noch wichtige Aufgaben mit meinen Ungarndeutschtum: Zum einen muss ich mir der Tatsache bewusst werden, dass meine Familie einen Assimilationsprozess durchgemacht hat. Danach: Trotz dieser Begebenheit soll ich mich aus voller Kraft meinen Wurzeln, meinen Stärken zuwenden. Mein Ungarndeutschtum wurde zum Teil meiner Selbsterkenntnis, so ist es Teil meines Lebens geworden.
Aus der Sicht der Nationalität halte ich mich für deutsch. Ich bin noch nicht am Ziel angekommen, ich will mein ganzes Leben lang meine Identität weiterentwickeln, den seit Jahrhunderten andauernden Assimilationsprozess umkehren. Diese Identität war wertlos in den Augen meiner Vorfahren, für mich ist sie aber wertvoll. Langfristig gesehen will ich die deutsche Sprache zur “zweiten Muttersprache” machen. Ich möchte immer mehr Mitgliedern deutscher Gemeinschaften begegnen und das Deutschtum auch dort vertreten, wo ich der einzige Deutsche bin. Ich möchte diese in einem Entwicklungsprozess begriffene Identität auch an meine jetzt noch nicht geborenen Kinder weitergeben. Gott sei Dank unterstützt mich meine Frau dabei voll und ganz.
Gelegentlich spüre ich zu Deutschland kein besonderes seelisches Verhältnis. Ich bin nicht nur Deutscher, sondern ein Deutscher aus Ungarn – meine Heimat, mein Mutter- bzw. Vaterland ist dieses Land. Deutschland ist allerhöchstens Teil des kulturellen Gedächtnisses, die Urheimat, ein Land, das für mich nie zur Heimat werden kann.
Ich halte mich für einen Deutschen, aber auch für einen Ungarn – aber für keinen Madjaren. Wenn ich mich als Ungar definiere, verstehe ich darunter: Ungarn ist meine Heimat und in diesem Land sind alle andere Nationalitäten auch Ungarn. In diesem Sinne: Der Madjare aus Kleinkumanien, der Serbe aus dem Süden und alle Ungarndeutschen sind meine Brüder und Schwestern. Unsere Heimat ist gemeinsam, wir sollen ihr treu sein. Es ist die eine Seite meines Treueverständnisses.
Die andere Seite – nicht weniger wichtig als die erste – ist die Nationalität, worüber wir verfügen: in meinem Fall die deutsche Nationalität. Ich bin davon überzeugt, dass sich unsere ungarländische deutsche Nationalität von der der Menschen in Deutschland und Österreich unterscheidet. Wir haben einen anderen Lebensweg bzw. eine andere Sozialisierung und Geschichte erfahren – seit mindestens 300 Jahren. Wir leben in einem ganz anderen Land, mit ganz anderen Begebenheiten. Wir haben mit mehreren Nationalitäten zusammenzuleben, in Deutschland gibt es eine ganz andere Situation. Wir haben nicht nur eine andere Geschichte und Gegenwart, sondern auch unsere Zukunft – unsere Lebensaufgabe im Karpatenbecken als Teil der ungarischen Nation – ist auch verschieden. Das Blut ist eins, die Sprache hat auch eins zu sein und wir sollen unsere eigene Kultur bewahren und weiterformen – aber in dieser Umgebung. Wir Ungarndeutsche sind einzigartig – aber nicht nur im Vergleich zu den Madjaren, sondern auch im Vergleich zu den Menschen in den deutschsprachigen Ländern.