Tief ist der Brunnen der Vergangenheit

Von Prof. em. Dr. Josef Bayer

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit” – so beginnt Thomas Mann seinen großen Roman, „Joseph und seine Brüder“. Dieser viel zitierte Satz erklärt, warum sich alle um ihre Herkunft interessieren.

Heute recherchieren viele Menschen ihre Verwurzelung in der Vergangenheit. Dafür gibt es in unserer Zeit der vermehrten Informationen viele neue Möglichkeiten. Genetische Untersuchungen erstellen zu lassen, ist heute nicht nur im Falle von Erbkrankheiten oder Kinderwunsch eine Option, sondern ist auch für die Ahnenforschung in Mode gekommen. Es wird im Internet von verschiedenen Unternehmen für einen bestimmten Preis angeboten, aufgrund genetischer Marken die Abstammung eines Menschen aufzuklären, wenn man nur eine entsprechende Blutprobe oder Speichelprobe einschickt. Manchmal führt das zu einer echten Überraschung. In einer aufklärenden Youtube-Video wurde eine Gruppe von Studenten vorgeführt, denen das Ergebnis einer solchen genetischen Untersuchung vorgetragen war. Es stellte sich heraus, dass zwei in der Gruppe miteinander verwandt gewesen waren, wovon sie gar nichts wussten; von einem Studenten, der antisemitische Vorurteile hatte, stellte es sich heraus, dass er teilweise jüdischer Herkunft ist; andere hatten Ahnen aus fernen Geländen, wo sie nie gewesen sind und wovon sie nichts wussten, und so weiter. Alle saßen in der Gruppe verblüfft da.

Ich ahnte immer, dass dies entweder ein pädagogischer Versuch war oder eine Werbung für genetische Ahnenforschung oder auch beides. Soviel ich weiß, ist die genetische Forschung noch nicht so weit, dass sie die Ahnenlinie eines Menschen exakt bestimmen könnte. Man arbeitet mit statistischen Daten und stellt prozentuale Verhältnisse auf, zwischen für typisch gehaltenen Marken, die eine vorher untersuchte Menschengruppe charakterisieren.

Die Ergebnisse von wissenschaftlichen Untersuchungen von genetischen Marken einzelner Volksgruppen zeigen aber einen starken Einfluss der einstigen Völkerwanderung auf, besonders in Eurasien. Archeogenetiker fanden z. B. heraus, dass die mitteleuropäische Bevölkerung so sehr gemischt ist, dass man keinen echten Unterschied zwischen Menschen der hier lebenden Nationalitäten aufzeigen kann. Ein ethnischer Nationalismus ist deshalb faktisch nicht zu begründen, es ist nur ein sogenanntes „politisches Produkt“, zum Zweck von Manipulation der Menschen.

Die historische Ahnenforschung, die aus Urkunden einen Familienstammbau erarbeitet, scheint immer noch viel präziser zu sein, auch wenn diese nur bis auf einige Generationen zurückgreift. Denn oft ist hier eben die Abwanderung einer Familie aus einem Ort, welche die Kontinuität der Recherche unterbricht. Diese Urkunden sind meist in kirchlichen Archiven aufzufinden oder stehen in lokalen standesamtlichen Büchern verborgen.

Unlängst hatte ich eine interessante Erfahrung mit einer solchen Ahnenforschung, die eine exzellente und gewissenhafte Ortshistorikerin erkundet und aufgestellt hat. Es ging um zwei Zweige meiner Familie, deren erste Ahnen Anfang des 18. Jahrhundert aus Deutschland ausgewandert sind und in Ungarn angesiedelt wurden. Die erste Aufzeichnung bezeugt eine Hochzeit im Jahre 1711 in einem Dorf in der Umgebung von Ofen. Der Mann wurde einfach als „colonist“ (Siedler) bezeichnet, die Frau kam auch aus Deutschland. Nach zwei Generationen zweigten sich zwei gesonderte Familienreihen ab, die dann nach vier weiteren Generationen wieder zusammenfanden. Dazwischen stand eine Reihe genetischer Bereicherung mit anderen ungarndeutschen Familien aus Nachbardörfern. Und plötzlich tauchte ein neuer Ehebund im Jahre 1939 zwischen Mann und Frau mit dem gleichen Familiennamen auf. Ich war immer erstaunt, wie es dazu kam, jetzt erhielt ich die Antwort darauf. Es mochte wohl keine Seltenheit gewesen sein in jenen Zeiten.

Vieles ist aus einer solchen Ahnentabelle abzulesen. Ich war selbst verblüfft, mit welchen Familien aus meinem Dorf ich fernverwandt gewesen bin, wovon ich überhaupt nichts wusste. Es gab vier Familien, mit deren Abkömmling ich in derselben Schulklasse saß, ohne irgendetwas von unserer Vergangenheit zu wissen.

Mich interessierte die Ahnenreihe meiner Vorfahren nicht als Selbstzweck. Unsere Verwandtschaftsbeziehungen hat die Vertreibung/Ausweisung der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg erneut zerrissen. Ein Teil musste weg, sie wurden in der amerikanischen Besatzungszone angesiedelt, ungefähr in der Gegend, woher sie einst gekommen sind. Der andere Teil durfte aus Gottes Gnade (und dank der örtlichen Kohlengrube, die Arbeitskräfte brauchte) in Ungarn verbleiben. Die Ausgewiesenen waren am Anfang auch in Deutschland nicht gerne gesehen, wurden als fremde Einwanderer eingestuft, obgleich die Sprache und Religion dieselbe war. (Die noch in Volkstracht einziehenden Ungarndeutschen wurden von deutschen Bauern anfangs sogar als „ungarische Zigeuner“ denunziert. Die für deutsche Flüchtlinge aufgestellten Barackenviertel am Rande einiger Großstädte wurden als „Korea“ bezeichnet, um ihre Fremdheit zu betonen.) Dieses Schicksal teilten alle Flüchtlinge, die aus Ost- und Südosteuropa vertrieben wurden, aus dem Baltikum, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, teilweise auch aus dem Balkan, als Folge des grausamen Krieges, den Hitler und seine Gefährten angefochten und letztlich verloren hatten. In seinem Werk „Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“, erschienen beim Siedler-Verlag beschreibt der Historiker Andreas Kossert die Umstände und die miserable Lage der etwa 12 Millionen Vertriebenen, die alles verloren hatten und ihr Leben ganz von neu wieder aufbauen mussten.

Ältere Leute konnten die Situation kaum aufarbeiten; so hat auch mein Großvater bis zu seinem Tod von der Rückkehr nach Ungarn geträumt. „Ich will in Deutschland nicht bleim, mein Land ist Ungarn“, schrieb er mehrmals in seinen Briefen an meinen Vater. Die Jüngeren mussten sich aber anpassen und einordnen. Und durch ihren Fleiß und Geschick, durch ihre harte Arbeit haben sie dann weitgehend zum deutschen Wirtschaftswunder in den fünfziger Jahren beigetragen. Sie machten ein Fünftel der Bevölkerung der Bundesrepublik aus und haben so fast den Kriegsverlust an Menschen in Deutschland aufgeholt – eine Tatsache, die oft außer Acht gelassen wird.

In den sechziger Jahren standen meine Verwandten schon viel besser, sowohl materiell als auch nach sozialem Status, als die hier gebliebenen; sie konnten ihr Haus bauen, hatten Auto oder Motorrad und ein stabiles Einkommen. Meinem Vater ist erst 1962 möglich geworden, nach sechzehn Jahren seinen Vater und Geschwister in Deutschland zu besuchen. Seit den siebziger Jahren begannen dann die Verwandten aus Deutschland zu Besuch nach Ungarn zu reisen. (Nicht alle – mein ältester Cousin hat sich versteift, sagend: ich wurde von denen rausgeschmissen, dort geh ich nimmer hin.)

Die Alten schieden langsam hin – in den örtlichen Friedhöfen fand ich nicht einmal ihre Grabsteine mehr auf – und die Beziehungen sind loser geworden in der nächsten Generation. In der Europäischen Union sind die Grenzen durchlässig geworden, aber die Verwandtschaftsbeziehungen bedeuten heute eh viel weniger als früher. Vielleicht infolge tiefsitzenden Traumas der Nachkriegszeit, oder womöglich auch wegen den zweifelhaften Segen der Modernisierung, haben sie auch weniger Kinder. Man hat den Eindruck, die Nachkommenschaft verliert das Interesse an jedweder Beziehung.

In meiner Generation steht die Sache noch nicht so schlecht. Der erwähnte Familienstammbaum sollte als Geburtstagsgeschenk meinem 80-jährigen Cousin gegeben werden. Die Erinnerung auf die gemeinsame Familiengeschichte hat in uns allen starke Emotionen erweckt. Der Jubilar hat das erste Mal erfahren, wann und wo sein Vater ums Leben gekommen war: in einem Gefangenenlager in der Ukraine, Kadiewka, wo er 1945 beerdigt wurde.

Ich habe in Wikipedia nachgesucht: Diese Ortschaft gehört heute dem „Volksrepublik Luhansk“ an, und hat sogar einen anderen Namen angenommen: Stachanov. Diese Kleinstadt liegt also in einem Gebiet, welches die dortigen russischen Einwohner mithilfe von Russland der Ukraine abgezwungen haben. Der Sezessionskrieg schwelt immer noch und ermahnt einen daran, dass Krieg und Verwüstung heute noch eine bedrohliche Realität in Europa darstellen, und der Frieden ist keine Selbstverständlichkeit, sondern erheischt unser Engagement.

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit – sie holt uns ein, und falls wir daraus nichts lernen, könnten die schlimmsten Dinge sich wiederholen.

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