Grundsatzfragen aus gegebenem Anlass
Von Dr. Jenő Kaltenbach
Bei der letzten Wahl wurde Emmerich Ritter zum ungarndeutschen Abgeordneten des ungarischen Parlaments gewählt. Theoretisch würde das bedeuten, dass er die Interessen der Gemeinschaft im Gesetzgebungsorgan des Landes einbringt und vertritt. Nun sehen Beobachter schon lange, dass Herr Ritter sich von seinen Kollegen in der Regierungsfraktion überhaupt nicht unterscheidet. Er benimmt sich, als ob er Mitglied der Regierungsfraktion wäre. Kenner der Verhältnisse behaupten, dass er weder vor einer Abstimmung die Meinung der Gemeinschaft einhole noch Rechenschaft über sein Abstimmungsverhalten ablege. Dies würde – bei wohlwollender Betrachtung – bedeuten, dass er davon ausgeht, dass die Interessen der Gemeinschaft deckungsgleich mit jenen der Regierung sind.
Dies wirft die Frage auf, wie eigenständig bzw. autonom eine Gemeinschaft in einer demokratischen Gesellschaft sein darf? Die prompte Antwort lautet: im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ordnung total. Dies gilt für jede Art von Gemeinschaften, einschließlich einer nationalen Minderheit. Sie kann Organisation, Personal, Finanzen usw. frei bestimmen und ihre Meinung über öffentliche Angelegenheiten frei gestalten und auch nach außen vertreten.
Es gibt dazu mehrere Beispiele nicht nur im Westen mit einer längeren demokratischen Tradition, sondern auch in manchen Neudemokratien des Ostens. In Rumänien zum Beispiel gibt es eine Dachorganisation der Madjaren und in der Slowakei mehrere madjarische Parteien, die sich genauso selbstständig und selbstbewusst benehmen wie diejenigen der Mehrheitsnation. Ihren Abgeordneten im dortigen Parlament käme es nie in den Sinn sich bis zur Unkenntlichkeit der jeweiligen Regierung anzubiedern – ihre Wähler würden sie dafür auch bestrafen.
So eine, zwar eher zarte Tradition gab es zwar noch in Zeiten der K.u.K.-Monarchie auch in Ungarn, aber danach nicht mehr. Der tragische Held des Ungarndeutschtums, Jakob Bleyer, war der letzte, der eine Art Semiautonomie versuchte, aber kläglich scheiterte.
Ritters Benehmen und dessen Duldung seitens der LdU folgen aber der verheerenden Tradition der Unterdrückung durch die nationalistisch gesinnte ungarische politische Elite. In der ethnisch monolithischen ungarischen Gesellschaft wird eine Eigenständigkeit einer nationalen Minderheit anscheinend nicht gewünscht, ja nicht geduldet. Oder ist das nur die falsche Annahme seitens der Minderheit? Ist dies, nach so vielen Jahren der Unterdrückung, der fehlende Glaube daran, die Feigheit, etwas Neues auszuprobieren, sich als politisch erwachsen und nicht als Bittsteller zu betrachten? Für Herrn Ritter ist die Antwort anscheinend einfach: Anzubiedern, „Abstimmungslieferant“ zu sein zahlt sich mehr aus als nach den Interessen der Gemeinschaft zu fragen und sie mutig zu vertreten.
Aber dient das Anbiedern auch dem Wohl der Gemeinschaft oder nur Herrn Ritter und seinen Gesinnungsgenossen? Man sollte diese Frage mal stellen und auch versuchen zu beantworten, solange eine mehr oder weniger eigenständige ungarndeutsche Gemeinschaft noch existiert. Damit würde man möglicherweise nicht nur der ungarndeutschen Gemeinschaft, sondern auch der demokratisch gesinnten ungarischen Gesellschaft einen Dienst erweisen.