Im Gespräch mit Franz Schaffner, einem der Vizepräsidenten des Bündnisses der germanischen Regionalsprachen in Frankreich (Elsass, Ostlothringen und Flandern)
Von Richard Guth
Mein Kurzbesuch im Elsass (siehe Reisenotizen im SB 4/2020) ließ noch viele Fragen offen. Wie es heutzutage so ist, griff ich zur Laptoptastatur, um mich über die Lage der deutschen Sprache und der deutschen bzw. deutschsprachigen Bevölkerung zu informieren. Ich bin schnell fündig geworden, denn einer der Artikel aus dem Jahre 2017 widmete sich den Herausforderungen des Deutschunterrichts. Die beiden Autoren, Monique (Monika) Matter und François (Franz) Schaffner, vertreten ein Bündnis, das sich für die Belange der Deutschsprachigen im Elsass und in Lothringen, aber auch fürs Flämische und seine Standardsprache, das Niederländische in Frankreich einsetzt – Matter als Vorsitzende und Schaffner als Vizevorsitzender. Der Comité Fédéral, wie die Organisation auf Französisch heißt, will nach eigenen Angaben die Koordinationsstelle sämtlicher Verbandsmitglieder sein, „für unsere Sprache in der Öffentlichkeit und bei öffentlichen Stellen werben”, die elsässische Bevölkerung über den Zustand unserer Sprache informieren, Anregungen zur Schaffung einer regionalen Sprachpolitik liefern und gegen die Missachtung elementarer Sprachrechte juristisch vorgehen. Gegründet wurde das Bündnis, damals als Verband Anfang der 1990er Jahre. Aber wie Franz Schaffner im Gespräch mit dem Sonntagsblatt aufzeigte, begann der Kampf um den Fortbestand der deutschsprachigen Gemeinschaft viel früher – in einem Landstrich, der seit dem Mittelalter bzw. vielmehr seit dem 16 Jahrhundert sowohl vom zentralistischen Frankreich als auch von den deutschsprachigen Ländern unter dem Dach des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (zu dem das Elsass lange gehörte) beansprucht wurde.
Bereits 1648, als das Elsass an das Königreich Frankreich kam, führte man in der Verwaltung Französisch ein, auch im Kreise des Adels und der Bourgoisie forcierte man den Gebrauch der französischen Sprache. Aber: „Es fing mit den Jakobinern um 1792 an”, erklärt Franz Schaffner, denn die hätten die Ideologie „eine Nation, eine Sprache” erfunden. So galten fortan Anderssprachige als Feinde. Bis sich dieser Gedanke durchsetzen konnte, dauerte es nach Angaben des 77-Jährigen noch einige Jahrzehnte: 1860 hatte man ein System eingeführt, in dem Deutsch in 2,5 Stunden unterrichtet wurde, der Fachunterricht fand hingegen fast ausschließlich auf Französisch statt. Den nächsten großen Meilenstein stellte das Jahr 1871 dar, als Frankreich nach dem verlorenen Krieg Deutsch-Lothringen und das Elsass an das Deutsche Kaiserreich abtreten musste. Danach wurde Hochdeutsch obligatorische Schulsprache, doch in den französischen Teilen von Elsass-Lothringen fand der Unterricht in den ersten zwei Jahren auf Französisch statt. Das erste Weltbrennen 1914-18 sorgte wieder für gravierende Veränderungen: Elsass und Lothringen wurden wieder französisch und „Deutsch wurde in die Ecke gedrückt”, so Schaffner. In der Praxis bedeutete das 3-4 Stunden in der Woche Deutschunterricht, „gerne am Ende des Tages, sonst alles auf Französisch.” Wie wir im Gespräch schmunzelnd feststellen müssen: Muster von „mustergültigen Minderheitenpolitiken” ähneln einander gespenstisch. 1927 führten die Bemühungen der Vertreter der deutschsprachigen Elsässer um mehr Deutsch in der Schule zu einem Kompromiss (ein Begriff, den die französische Schulpolitik im Elsass bis heute begleitet): vier Stunden Deutsch mit Lesen, Schreiben und Rechnen, dazu Religionsunterricht in weiteren vier Stunden auf Hochdeutsch.
Der deutsche Angriff auf Frankreich zeichnete 1940 die Karten wiederum neu: Elsass und Lothringen wurden annektiert, alles Französische verboten. „Es fand ein Unterricht mit rassistischen Einlagen statt”, so der Verlagschef aus Straßburg. Im März 1945 wurde das Elsass befreit und „die alten Methoden fingen wieder an”, ergänzt um eine „Idee der Schulverwaltung, wonach alles, was Deutsch ist, Nazideutsch sei”: Die Jugend hatte fortan keinen Deutschunterricht mehr, die vier Jahre der Besatzung musste man nach Angaben von Schaffner nachholen. Anfang der 1950er Jahre wagte man sich wieder an den Deutschunterricht heran, ähnlich wie in Ungarn: Das bedeutete zwei Stunden pro Woche, wenn Eltern und Lehrer zustimmten. Laut einer Umfrage unter den Eltern waren 75 bis 85 % der Eltern für den Deutsch-Unterricht. „Sie haben ihre Sprache nicht über Bord geworfen”, bringt Franz Schaffner es auf den Punkt und spricht allerdings davon, dass viele Lehrer die Einführung des Deutschunterrichts in den 1950ern sabotiert hätten. So fiel der Deutschunterricht nach Angaben von Schaffner ab dem 7. Schuljahr mit der Einführung der Collège „ins Wasser”. Die 68er Bewegung „schüttelte die Jugend durch”, so die Erinnerungen des Zeitzeugen, Jahrgang 1943, und es kam zur Gründung eines Vereins für Zweisprachigkeit – benannt nach dem Schriftsteller René Schickele. Diese Gesellschaft gab Broschüren heraus und unterbreitete ein freies Deutschunterrichtsangebot, mit mittwochs und samstags 2-3 Stunden, das ganz schnell 1500 – 1800 Kinder erreichte. Der Staat witterte nach Erinnerungen von Schaffner aber Konkurrenz und 1971/72 wurde in den Grundschulklassen 4 und 5 der Deutschunterricht eingeführt: 2,5 Stunden auf freiwilliger Basis. Dieses magere Angebot konnte laut Schaffner der negativen Entwicklung aber nicht entgegenwirken: Die Sprachverwendung ging rapide zurück. Es bedurfte wohl anderer Wege: Ein Zusammentun von Eltern und einem Beamten aus dem Oberelsass brachte nach Schaffner den Durchbruch: Die ABCM wurde gegründet und 1991 wurde an drei Schulen ein bilinguales Projekt mit vorerst 75 Schülern gestartet: 50 % des Stundendeputats wurde auf Deutsch erteilt – beginnend in der Vorschule mit 3 Jahren. Der leitende Aufsichtsbeamte der Schulverwaltung, der bis 1999 im Amt blieb, war nach Erinnerungen von Franz Schaffner positiv gesinnt und so wurde das Angebot jährlich auf 12 Schulen ausgeweitet, wo Kinder und Jugendliche zwischen 3 und 16 Jahren zweisprachig unterrichtet wurden. Deren Zahl erreichte 2015 35.000-40.000.
Auch hier musste man aber die Erfahrung machen, dass der Anteil der Collége (7-9 Stunden statt 12) nicht dem „paritätischen Prinzip” entsprach bzw. entspricht. Es fehle an Lehrern, heißt es, die „pädagogisch auf Trab sind und gut Deutsch können” – Schaffner sieht dabei auch die Nachwuchsarbeit, die vernachlässigt worden sei, als eine Ursache. Darüber hinaus wären immer noch viele (vornehmlich frankophone) Entscheidungsträger der Meinung, Zweisprachigkeit sei eine Sache der Elite und schade dem Französischunterricht. Dennoch zeigt sich Schaffner weiterhin kämpferisch: „Wir sind dran, die Sache ins Lot zu bringen”, was aber nicht einfach sei, zumal die Zahl der Mundartsprecher in den letzten Jahrzehnten rapide zurückgegangen ist, was Statistiken belegen. So hätten sich die Verhältnisse umgekehrt. Man pflege deshalb zu sagen: „Wenn Du gut Hochdeutsch kannst, dann kannst du dich, wenn du willst, mit einem der Dialekte beschäftigen.” Durch das Verschwinden der Dialekte, die von den Offiziellen immer noch oft als minderwertig angesehen würden, würde dem Hochdeutschen der Boden unter den Füßen weggezogen. Dies führe auch im Kreise der Elsässer zu (für uns wohlbekannten) Tendenzen einer „Folklorisierung” des Elsässerseins.
Auch jüngste Pläne der Schulverwaltung bargen nach Eindruck des Verlegers Gefahren: „Alle Studenten müssen in den ersten vier Jahren beweisen, dass sie gut Englisch können. Das kann dazu führen, dass viele Gymnasiasten Englisch wählen, was wiederum zur Verschärfung des Lehrermangels in Deutsch führen könnte. Wir tun alles dafür, dass es mit dem zweisprachigen Unterricht weitergeht.” Das sei eine Form, die in vielen Fällen ohnehin einen Kompromiss darstelle: Während es in der Grundschule noch recht gut klappe mit der Bilingualität – es gebe dabei neben den zweisprachigen Klassen noch welche mit 3 Stunden Deutschunterricht, so sehe es an den Oberschulen nicht mehr „paritätisch” aus: Neben Deutsch würden die Fächer Mathe, Geschichte, Sport oder Naturwissenschaften auf Deutsch unterrichtet, so komme man statt auf 12 (was der Hälfte der Gesamtstundenzahl entspräche) auf 7 bis 9 Stunden.
Die neue Regionalisierung habe der Sache auch nicht geholfen – 2015 wurden die östlichen Departements zu der Großregion Grand Est zusammengefasst. Das habe zur Folge gehabt, dass die Leiter der Schulverwaltung im Elsass nicht mehr unabhängig sind, sondern der Verwaltung im frankophonen Nancy untergeordnet – in einem zentralistischen System, wo ohnehin „alles wie der Regen runterprasselt”. In Lothringen sei die Lage noch schwieriger: Es gebe zwar zweisprachige Klassen, aber die Schulverwaltung erkenne Hochdeutsch nicht als Regionalsprache an.
Es stellt sich dabei die Frage nach dem Erfolg des bilingualen Unterrichts: Schaffner gerät in Erklärungsnot, denn Umfragen existierten hierzu kaum. Nach seinem Eindruck führe der bilinguale Unterricht bei vielen zu „einem besseren Beherrschen einer Fremdsprache, die hier eine Regionalsprache darstellt, bei etwa der Hälfte sogar zu mehr (50 %). Wir dürfen dabei eins nicht vergessen: Deutschsprachige Familien seien auch hier eine Ausnahme, der Dialekt, vielfach als Küchensprache ohne moderne Funktion verhutzelt und spiele keine Vermittlungsfunktion mehr. Dennoch gebe es durchaus Familien, wo Dialekt oder Hochdeutsch bewusst gepflegt werde. Deutsch oder Dialekt werde dabei mehr im Elsass und bei den Evangelischen gesprochen, die noch Gottesdienste hätten, die zu drei Viertel auf Hochdeutsch stattfänden. Bei den Katholiken hingegen dominiere das Französische – eine für uns wohlbekannte Erfahrung. Auf einen Umstand weist Schaffner noch hin: Im Elsass handele es sich um eine gemischte Bevölkerung, die Altelsässer seien langsam in der Minderheit, so dass man die anderen für die Zweisprachigkeit gewinnen müsse. Hier kann Franz Schaffner durchaus von Erfolgen berichten: So besuchten den „paritätischen” Unterricht sogar Kinder, deren Großeltern aus Algerien, Polen oder Italien gekommen sind. Und noch etwas: Man mache oft die Erfahrung, dass die Eltern dieser Kinder mehr für den zweisprachigen Unterricht seien als „Stammelsässer”. So könnte nach Schaffners Eindruck der Deutschunterricht als ein Mittel dienen, die verschiedenen Teile der Bevölkerung zusammenzubringen. Die Kinder mit Migrationshintergrund könnten dann verstehen, dass die Großelternsprache einen Wert hat.
Auch Schaffner bestätigt die Aussagen der Käseverkäuferin aus Kolmar, dass fast jeder sich auf Deutsch verständigen könne. Dies liegt nach Ansicht des 77-Jährigen mitunter an dem Pendlerverkehr nach Deutschland und vor allem in die Schweiz, wo man mehr Dialekt spreche, was man aber schnell lerne. Dennoch habe die Zahl der Pendler abgenommen, was auch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen. Schaffner führt dies darauf zurück, dass die Eltern Dialekt sprächen und die vielen Jugendlichen von den nicht zweisprachigen Schul-Zügen Probleme bei der Einstellung bekämen; denn: Deutsche und Schweizer Firmen wollen Deutschsprachige, von der Konkurrenz aus Osteuropa ganz zu schweigen. Das Pendeln scheint dabei aber weitgehend einseitig zu sein: Schweizer kauften Bauernhöfe im Oberelsass, schmunzelt der Verleger.
Bildquelle:https://www.alsace-lorraine.org/blog/2017-2/126-zur-situation-des-deutschunterrichts-im-elsass.html, abgerufen am 26.05.2021