Von Prof. em. Dr. Josef Bayer
Ich verfolge mit hohem Interesse die Artikel im Sonntagsblatt, welche sich um die Fragen der Identität der Ungarndeutschen kreisen. Die Erinnerungen, Lebensgeschichten, Rückblicke auf die Ereignisse, welche die Lebenslage des deutschen Volkstums in Ungarn beeinträchtigten, die Zukunftsaussichten auf ein Gemeinschaftsleben, die noch möglich sind – oder auch nicht.
Am Anfang des Systemwandels in Ungarn, im Jahre 1990, schrieb ich selbst einen Aufsatz, der sich mit diesen Fragen beschäftigte. Der Titel hieß „Nationalismus und Verfassungspatriotismus“ und erschien sowohl auf Ungarisch als auch auf Deutsch (in einem Buch mit dem Titel: „Der Schock der Freiheit“, herausgegeben vom Suhrkamp-Verlag in Frankfurt am Main, 1993). Auch später kehrte ich noch zum Thema zurück, als ich über die doppelte oder sogar „mehrhafte Identität“ und das Schicksal des Ungarndeutschtums reflektierte, was damals in eine der Nummern des Deutschen Kalenders seinen Weg gefunden hat.
Was hat mich dazu bewegt, über meine Herkunft und Identität zu räsonieren? Mich störte der rasch auftretende Neo-Nationalismus, den ich für die Entwicklung unserer frischgebackenen Demokratie hinderlich fand. Denn ein historisch stark vertretener Nationalismus in unserer mitteleuropäischen Region hat zu vielen gewaltsamen Konflikten geführt. Das freie Bekenntnis zur eigenen, von der Titularnation abweichenden Identität wurde dadurch äußerst erschwert. Viele haben leider vergessen, dass dieser Nationalismus nicht gleich mit dem Zweiten Weltkrieg verschwunden ist. Ganz im Gegenteil: Diese Ideologie spielte in der Nachkriegszeit eine große Rolle in der Entscheidung über die Vertreibung – der Madjaren aus der Tschechoslowakei und der Deutschen aus Ungarn. Es genügt, die historischen Dokumente vor sich zu nehmen, um zu sehen: Es waren vor allem nationalistisch gesinnte Parteien und Politiker, vor allem die der Bauernparteien, die sich entschieden für die Vertreibung der Ungarndeutschen einsetzten. Noch ein so hervorragender Geist wie István Bibó, Vertreter der Nationalen Bauernpartei, äußerte später sein schlechtes Gewissen dafür, dass er als damaliger ungarischer Staatssekretär die Frage, was mit den hiesigen Deutschen geschehen soll, überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Es ist eine Verfälschung, die Schuld darüber nach außen zu verlagern. Denn der Potsdamer Vertrag von 1945 besagte nicht, dass die Deutschen oder Madjaren vertrieben werden müssen. Die alliierten Mächte haben nur die Möglichkeit freigesetzt, indem sie die Entscheidung darüber den nationalen Regierungen überließen. Nationalistische Gesinnung und der Druck der bodenlosen, verarmten ungarischen Bauern auf die Regierungsparteien haben letztlich zur Vertreibung der Ungarndeutschen beigetragen.
Als Sozialwissenschaftler hat mich im Jahre 1990 vor allem die erneute starke nationalistische Gesinnung erschreckt, die in gewissen „volksnationalen“ Kreisen der neuen politischen Gruppierungen zu sehen war. Ich habe dafür argumentiert, dass die neue Republik nicht auf einer ethnischen Basis, sondern auf eine verfassungsmäßige politische Gemeinschaft der gleichberechtigten Mitbürger gründen sollte. Dafür übernahm ich den Begriff des Verfassungspatriotismus, der den Staat als eine Rechtsgemeinschaft und keine auf Blut und Boden fundierte, ethnisch homogene Entität versteht.
Um meine Einsichten zu untermauern, versuchte ich auch meine spezifische Lebenserfahrung einzubringen, und habe daher einiges erzählt. Meine Ahnen sind seit 300 Jahren in Ungarn, ein Land, das ethnisch immer schon sehr bunt gewesen ist. Erst mit der Entwicklung des modernen Nationalstaats im 19. Jahrhundert begann der staatliche Druck zur Homogenisierung, die im 20. Jahrhundert zur forcierten Assimilation geführt hatte. Und nach 1945 hat der ungarische Staat unser Recht auf Existenz völlig in Frage gestellt.
Meine Eltern standen im Juni 1946 auch auf dem Bahnhof von Schaumar, als die ersten Viehwagonen, mit deutschen Leuten aus Großkovatsch vollgestopft, auf ihren langen Weg ausrollten nach Deutschland, ins Ungewisse. Und ich war selbst dabei – als dreimonatiger Säugling im Bündel, als einer der Gründe, warum sie nicht mit ihrer Familie mitfuhren – sie fürchteten, ich würde die Reise nicht überleben. Mein älterer Bruder ist mit 12 Jahre wegen der Explosion einer auf dem Feld gefundene Handgranate ums Leben gekommen, sie wollten daher nichts riskieren. Der zweite Grund war nicht weniger gewichtig: Mein Vater als Bergarbeiter in der Sanktiwaner Kohlengrube musste nicht gehen. Manchmal entscheiden sich das Schicksal und die Identität eines Menschen durch solche Zufälle.
Meine Verwandten wurden in Deutschland auf verschiedene Dörfer verteilt, die meisten in Baden-Württemberg, woher sie stammten. Sie erzählten mir später von den anfänglichen Umständen. In der allgemeinen Not nach dem Krieg wurden sie nicht gerne empfangen. Die noch Volkstracht tragenden Flüchtlinge wurden als „ungarische Zigeuner“ bezeichnet von den deutschen Bauern, die nur unwillig, auf Geheiß der örtlichen Behörden, ihnen Zuflucht im Hinterhof anboten. Später sind alle jüngeren Jahrgangs langsam zurechtgekommen in ihrer neuen Heimat, und haben während der deutschen Wirtschaftswunder Arbeit, gute Gehalt, Hilfe beim Hausbau erfahren. Aber die Alten, die quälte ein schreckliches Heimweh bis zum Tode. Ich las die Briefe meines Großvaters, in einem schrieb er: „Ich will in Deutschland nicht bleim, mein Land ist Ungarn… Amen. Vatter Bayer József.“ Trotzdem ist er in Schlierstadt gestorben. Ich besitze noch ein Bild von ihm, wo er völlig trostlos neben dem Sterbebett seiner Frau sitzt, begreifend, dass er nie mehr nach Ungarn zurückkehren kann. Mein Großvater mütterlicherseits schaffte es jedoch, heimzukehren nach Sanktiwan, um in seiner alten Heimat zu sterben.
Aber den hier Gebliebenen ist es anfangs auch nicht besonders gut gegangen. Mein Vater durfte nicht ins verlassene Elternhaus einziehen in Großkowatsch, er wurde sogar durch Gewehr verjagt und mit Erschießung bedroht, sollte er wieder auftauchen. Wegen einer böswilligen falschen Anzeige wurde er in einer Nacht aus der Grube geholt und für ein halbes Jahr ins Gefängnis gesteckt, wobei meine Mutter mit vier Kindern nur aus Gnade der Verwandten überleben konnte. Ich bin in einem Bergarbeiterviertel im Schafflerhof aufgewachsen, mein Vater konnte erst gegen Ende seines Lebens sein eigenes Haus bauen.
Wir waren nicht arg arm, haben das Nötigste nie vermissen müssen, aber waren äußerst mittellos. Als Kind besaß ich nur Spielzeuge, die ich mir selbst gebastelt habe. Zu Hause wurde anfangs deutsch gesprochen, Ungarisch habe ich erst im Kindergarten erlernt. Später sprachen meine Eltern und Verwandten untereinander immer deutsch, aber zu uns Kinder immer mehr auf Ungarisch. In der Schule hatte ich viele Mitschüler, von denen ich erst später erfuhr, dass auch sie aus schwobischen Familien stammen, da sie ungarische Namen hatten. Es herrschte einfach Schweigen über unser Deutschtum. Es war zwar nicht verboten, aber eben nicht ratsam, die Sprache öffentlich zu nutzen. Der Bergbau machte mein Dorf eh zu einem Dorf mit gemischter Bevölkerung. Es gab zwar noch Deutsche in der Mehrheit, aber allerhand Leute kamen vor, Slowaken, Madjaren aus verschiedenen Teilen des Landes; wir hatten sogar einen rumänischen Nachbarn. Ich habe jedoch nie die Erfahrung gemacht, dass Menschen wegen ihrer unterschiedlichen Herkunft einander gegenüber feindlich gegenüberstünden. Das war eine gute Lektion für mich für mein ganzes Leben.
In der Schule gab es zwar Deutschunterricht, zwei Stunden pro Woche, zusammen mit ungarischen Kindern. Obwohl unsre liebevolle Deutsch-Lehrerin, Frau des örtlichen Kantors, ihr Bestes tat, um uns die deutsche Sprache beizubringen, kann man sich vorstellen, wie effektiv das sein konnte. Zum Glück war unsere Dorfschule von gutem Niveau – sie ist das heute noch, kann ich sagen – und das hat mir weitergeholfen. Als guter Schüler gelangte ich in eine technische Oberschule in Budapest und meine Beziehungen zu meinen Dorfleuten beschränkten sich immer mehr auf Verwandtschaftsbesuche. Die Industrialisierung und Urbanisierung des Landes und meine spätere berufliche Karriere haben mich ebenso eingezogen und sozusagen aufgesogen in die breitere ungarische Gesellschaft wie die meisten meiner Generation. Mein Vater hat mir einmal gesagt, „du wirst deine schwobische Herkunft leugnen, wenn du mal höher kommen willst“. Ich wurde zum Glück nie auf die Probe gestellt, aber hätte mit Gewissheit auch nie verleugnet, wenn ich gezwungen gewesen wäre, woher ich stamme. Immer in einer ungarischen Umgebung lebend, bin ich natürlich mit der ungarischen Kultur tief verbunden, aber arbeitete viel dafür, um auch in der deutschen Kultur zu Hause zu sein.
Die erste Voraussetzung dafür bestand darin, „ordentlich“ Deutsch zu lernen. Da ich nicht Germanistik studieren konnte, musste ich autodidaktisch vorgehen, da ich aus allen normalen Deutsch-Kursen einfach entfernt wurde, um die anderen Studierenden nicht zu stören. Ich begann damit, zunächst ein Vokabular aufzustellen, um zu verstehen, worin sich das Hochdeutsche von meinem originalen schwobischen Dialekt unterscheidet. Denn die Differenz der Aussprache ist beträchtlich. Wer weiß schon z. B., dass Kiewuß auf Deutsch Kürbis heißt? Praumbe Brombeere? Oufe kommt schon leichter an als Ofen. Diese Übung im Vergleichen half mir, andere deutsche Dialekte gut zu verstehen.
Während meiner dreijährigen Gastprofessur an der Uni Wien ließ ich einmal in meinem Seminar für Studierende den wunderbaren Film „Exiles“ („Száműzöttek“) von den ungarischen Regisseuren Gyöngyösi – Kabai auf Video abspielen. Darin geht es um das Schicksal der wolgadeutschen Volksgruppe, die während des Zweiten Weltkrieges auf Stalins Order nach Kasachstan versetzt und die Männer nach Sibirien in die Gulag-Lager verschleppt wurden. Alle Personen im Film benutzten ihre Muttersprache. Auf meine Überraschung konnten meine österreichischen Studenten die Hauptdarstellerin, eine weise alte deutsche Frau gar nicht verstehen, wobei ich, der ungarische Schwobe, sie vollständig verstanden habe. Die Darstellung wäre eine völlige Katastrophe gewesen, wenn keine englischen Untertitel ihnen geholfen hätten, zu verstehen, worum es geht.
Unsere hiesigen deutschen Mundarten werden von vielen Menschen, die Hochdeutsch können, oft als unschön und provinziell abgetan. Es gibt aber keine unschönen Sprachen. Für diejenige, die sich ihrer Muttersprache bedienen, sind alle Sprachen schön und ausdrucksreich. Als ich unlängst begann, Holländisch zu lernen, war ich völlig verblüfft, wie weit sie ihre ursprünglich germanische Sprache genauso biegen und „verdrehen“, als wir es in unseren örtlichen Dialekten gewohnt sind, als wir so üppig Diphthonge gebrauchen. Aber Niederländisch ist, zwar bereichert durch Übernahme mancher englischer Wörter, eine hoch angesehene Staatsprache. Daran kann man ablesen, wie wichtig der politische Hintergrund einer normierten Sprache ist.
Nun zurück zur Identitätsfrage: Wer bin ich jetzt? Macht mich meine ungarische Identität weniger zum guten Deutschen in Ungarn und meine deutsche (wenngleich ungarndeutsche) Identität weniger zum guten Ungarn?
Ich glaube, wir sollten keine ausschließenden Identitäten pflegen. Auch der Jammer über gelittenes Unrecht hilft uns gar nichts. Die ehemalige deutsche Siedlungsstruktur ist durch die Vertreibung in Ungarn zerstört worden, und auch die bäuerliche Lebensweise und die einstigen deutschen Dorfgemeinschaften sind dahin. Darin teilen wir das Schicksal vieler Millionen Menschen, deren autonome Lebensweise und Sprache in einer immer weiter integrierten, sich globalisierenden modernen Welt verloren geht.
Es ist aber nicht gleichgültig, unter welchen Umständen dieser Prozess vorangeht. In einer Demokratie ist die Wahl der Identität frei, niemand zwingt uns, unsere Identität als Minderheit aufzugeben. Es steht uns frei, auf unsere Rechte zu bestehen, unsere Wurzeln und kulturelle Überlieferung und Sprache zu pflegen und unsere gemeinschaftliche Gesinnung aufrechtzuerhalten, wenn wir nur wollen. Aber, wie Herr Georg Krix in seinem Aufsatz richtig betont, all das ist nicht vom Staat zu erwarten. Das liegt vor allem an uns selbst, ob wir das wollen, ob wir dafür was tun und dafür Opfer zu bringen bereit sind.