Reisenotizen (11): Elsass/ Alsace

Oktober 2020 „Sauerteisch”, erhalte ich die prompte Antwort auf die Frage, was „levain naturel“ bedeutet: also „Sauerteig“. Die Antwort kommt von einer Dame Ende Fünfzig – vorangegangen waren lange Minuten des Rätselns unter Beteiligung zweier Bäckereifachverkäuferinnen Mitte 20, eine davon mit afrikanischem Migrationshintergrund, mit unsicheren Englischkenntnissen und meiner Wenigkeit mit rudimentärem Französischwissen. Schauplatz des Gesprächs ist eine Bäckerei in Petit France, dem Touristenmagnet von Straßburg/Strasbourg. Ich wollte lediglich wissen, woraus die von mir in Augenschein genommene Baguette (die sehr gut schmeckte) hergestellt wurde, und erhielt einen Einblick in eine sprachliche Entwicklung, die man schlechthin Romanisierung eines über Jahrhunderte hinweg heiß umkämpften Gebietes namens Elsass (- Lothringen) nennt. Gerade in der Zeit nach den Weltkriegen verfolgte der französische Staat eine rigorose Sprachpolitik zuungunsten des Deutschen bzw. der germanischen Dialekte. Erst in den 70ern und 80ern fing man an den Wert des Elsässischen und der Mehrsprachigkeit zu erkennen und zweisprachige Schulen zu errichten. Dem versetzten die Reformen der letzten Jahre einen Dämpfer.

Auch die Statistiken sprechen hierbei eine klare Sprache: Während 1946 noch 91 % der Elsässer die alemannischen, süd- bzw. rheinfränkischen Dialekte Elsässisch(deutsch) sprachen, – ein germanisches Idiom – sank dieser Anteil bis 1997 auf 63 % und bis 2012 auf 43 %. Besonders gravierend war dieser Rückgang im Kreise der 18-bis 29-Jährigen: Der Anteil sank auf 12 % (2012). So spricht Untersuchungen zufolge weniger als ein Prozent der Kleinkinder Elsässisch, was mittel- und langfristig das Verschwinden der Dialekte bedeuten wird. Kommt einem irgendwie bekannt vor, nicht wahr?

Besser ist es nach Eindruck einer Käseverkäuferin in der Markthalle von Kolmar/Colmar um die Hochdeutschkenntnisse bestellt, denn jeder könne sich irgendwie – auf welchem Niveau auch immer – auf Hochdeutsch verständigen. Die frankophone ältere Dame im Hintergrund nickt dabei. Die junge Käseverkäuferin hat es aber leicht, denn sie hat nach eigenem Bekunden in Berlin ihr Abitur gemacht, was man sofort merkt. „Im Rest von Frankreich ist es anders, da würde mehr Englisch gesprochen (da kommen mir die beiden Kolleginnen aus der Bäckerei in den Sinn, ohne zu behaupten, dass ich selber perfekt in Englisch wäre), aber im Elsass würde viel Deutsch gesprochen”, erzählt die Frau Anfang 30.

Deutschkenntnisse hin und her, dominiert wird die Landschaft von französischsprachigen Aufschriften, Verkehrsschildern und Werbetafeln. Lediglich die Straßenschilder in den Innenstädten zeugen von der germanischsprachigen Vergangenheit (eher so) der Region und die Familiennamen, die allesamt Deutsch klingen.

Himbeer, Erdbeer, Caramel” – der liebliche französische Akzent der Verkäuferin im Süsswarengeschäft im pittoresken Winzerdorf Reichenweier/Riquewir deutet auf deutsche Präsenz hin, jedenfalls in Form von Tagestouristen aus Baden-Württemberg und der Deutschschweiz, hier in der Gestalt der Baseler.

Dieser Austausch, in Corona-Zeiten etwas gedämpft, ist aber nicht einseitig – davon zeugen die Baseler Nummernschilder im Kreis Lörrach und die französischen in den Landkreisen Hochschwarzwald-Breisgau und im Ortenaukreis. Der Einkaufstourismus floriert in den baden-württembergischen Landkreisen; die verhältnismäßig moderaten Preise, gerade im Vergleich zu denen in der Schweiz, locken viele über die Grenze.

Aber zurück ins Elsass. In Reichenweier scheint – trotz touristischer Vermarktung – die Weinbaukultur noch lebendig zu sein. Gerade fährt ein älterer Weinbauer mit seinem mit Fässern gefüllten Miniwagen vorbei, an anderer Stelle wirbt ein Weingut mit einem Inhaber, der einen französischen Vornamen und einen deutsch klingenden Familiennamen besitzt, um Kundschaft. Die Wirtschaftsregion ist neben der Hauptstadtregion Île de France die zweitstärkste in Frankreich und das merkt man auch am äußeren Erscheinungsbild der Städte und Dörfer – durchweg herausgeputzt und aufgeräumt, gerade im ländlichen Raum. Der Tourismus, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige, hat in diesen Monaten schwer zu kämpfen, davon zeugen die nahezu touristenleeren Straßen in Straßburg und Kolmar sowie die verwaisten Terrassen der Restaurants, von denen an diesem Oktoberfreitag viele geschlossen haben.

Es fehlt an Touristen, was in Corona-Zeiten nicht verwunderlich ist, war doch die 2015 geschaffene Großregion Grand Est Mitte März die Region in Frankreich, die am schwersten von COVID-19 betroffen war. Auch wenn Grand Est, zu der auch das Elsass gehört, in der „zweiten Welle” zur einzigen Region in Kontinentalfrankreich gehört, die nicht als Risikogebiet ausgewiesen ist (bis Mitte Oktober jedenfalls), ist man vorsichtiger geworden. Ob sich die Plätze, Cafés und Restaurants wieder mit Gästen füllen werden, werden die nächsten Monate bzw. Jahre zeigen. Viele sprechen von einer nachhaltigen Veränderung unseres Reiseverhaltens.

Was jedoch bleibt, ist das Phänomen Pendeln. Hierbei ist Untersuchungen zufolge ein Pendeln aus Frankreich nach Deutschland (und dann insbesondere aus Frankreich und Deutschland in die Schweiz) viel charakteristischer als umgekehrt, was die Stärke des Industriestandorts Baden-Württemberg mit zahlreichen Weltmarktführern (so genannten Global Players) zeigt. Aber auch hier zeigen Studien eine rückläufige Tendenz, was die Autoren möglicherweise mit dem Rückgang der Deutschsprachkenntnisse mit in Verbindung bringen. Dies trifft jedenfalls auf den Herrn Mitte Fünfzig nicht zu, der mir im Parkhaus netterweise den Weg weist, denn er spricht schönstes Deutsch. Ob er auch Berufspendler war oder nur ein Alteingesessener, dies kann ich nicht mehr in Erfahrung bringen, denn einer hupt, damit ich den Weg vor der Schranke freimache. Da merkt man: Wir sind doch in Frankreich.

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