Über Zukunftsängste und Zukunftsperspektiven

Von Prof. em. Dr. Josef Bayer

In Krisenzeiten häufen sich immer Ängste verschiedenster Art. Die naheliegenden beziehen sich auf den Alltag: um die existenzielle Sicherheit der Familie, Arbeitsplatz und Einkommen, um Gesundheit in dieser um sich greifenden Corona-Virus-Seuche, um die Stabilität der sozialen oder auch politischen Verhältnisse. Es gibt aber Gründe genug, sich auch um weitreichendere Sachen zu kümmern. Die Welt ändert sich so rasch, dass unsere Anpassungsfähigkeit oft überfordert wird. Da stellen sich erneut Fragen nach unserer Identität, unserer Verwurzelung in einer gefährdeten Tradition, überhaupt um den Sinn des Lebens und um die Zukunft unserer Nachkommenschaft oder sogar unserer ganzen Menschengattung.

Beim Lesen der vielen besorgten Artikel über die Zukunft des Ungarndeutschtums in diesem (Sonntags-)Blatt, finde ich mich genötigt, kurz darauf zu reagieren. Wir bangen rechtens um unsere Identität, beklagen unseren Sprachverlust und sind besorgt über unseren zukünftigen, schwindenden Status als Minderheit in der ungarischen Gesellschaft. Teils mit Nostalgie, teils mit Groll schauen wir zurück auf die wechselvolle Geschichte des deutschen Volkstums in unserem Lande. Der überaus starke Assimilierungsdruck des Nationalstaates, die Vertreibung nach dem Krieg, die spätere Drangsalierung und Einhegung der autonomen Selbstbestimmung einer in ihrer Existenz bedrohten Volksgruppe, all das sind reale Beschwerden. Ich habe selbst all dies als Kind schon mitbekommen und persönlich erfahren. Als Schulkind half ich meinem Vater den Briefwechsel zu absolvieren mit seinem Vater, der aus Kouwatsch (Nagykovácsi) samt seiner ganzen Verwandtschaft ausgesiedelt wurde. Ich las die Briefe des Großvaters meinem Vater vor und schrieb seine diktierte Antwort nieder. Großvater, den ich nie persönlich kennen lernen konnte, plagte schreckliches Heimweh. „Meine Heimat ist Ungarn“, hat er immer geschrieben; er wollte unbedingt zurück, um in seinem Heimatdorf zu sterben. Das wurde ihm nicht gegönnt. Ich besitze ein Bild, auf dem er neben dem Sterbebett seiner Frau trostlos vor sich blickt; auf seinem Gesicht sieht man den tiefen Schmerz eines Alten, der begriff, dass, wenn seine liebe Frau im örtlichen Friedhof bestattet wird, er die letzte Hoffnung auf eine Rückkehr in die verlorene Heimat verliert.

Den politischen Druck, als Sündenbock für den Krieg hingestellt und mit Misstrauen behandelt zu werden konnte man noch aushalten, besonders, weil es in den sechziger Jahren nachließ. Aber die rasche Industrialisierung und Urbanisierung, die allgemeine Modernisierung aller Lebensbezüge, die breiteren Horizonte des Schulbesuchs und der Weiterbildung haben die galoppierende Integration der Minderheiten weiter beschleunigt. Die Eltern sprachen untereinander noch deutsch, aber zu den Kindern immer mehr auf Ungarisch. Sie wollten vielleicht ihren schulischen Fortschritt oder ihre Berufschancen nicht gefährden. Auch sie waren doch darauf angewiesen, außerhalb des Familienkreises mit ihren madjarischen Nachbarn, Arbeitskumpeln, mit den Behörden schon sowieso, auf Ungarisch zu sprechen. In den Medien hatte man kaum Gelegenheit, deutsche Sendungen zu hören. In der Kirche und dem Wirtshaus ging es noch auf Deutsch zu, ansonsten sind langsam alle Leute zweisprachig geworden. In ausgewählten Dorfschulen war der Deutschunterricht noch erhalten, etwa zwei Stunden pro Woche, zusammen mit den madjarischen Kindern. Kein Wunder, dass innerhalb von zwei Generationen der Gebrauch der deutschen Sprache sehr zurückgefallen oder fast völlig verschwunden ist. Die schwäbische Mundart verkam zur Küchensprache und die Volkskultur zur musealen Folklore.

Man kann all das gewiss bejammern, aber im Hinblick auf den Verlauf weltweit ähnlicher Prozesse ist das nicht ein universelles Schicksal von Menschen in Minderheit in einer sich globalisierenden Welt? Jährlich verschwinden hunderte originelle Sprachen. Jeder kennt das Schicksal des letzten Mohikaners, eine wiederholt vorgekommene Tragödie nicht nur unter den amerikanischen Indianerstämmen. Aber Sprachen können auch ohne Aussterben der Menschen versinken, die sie einst gebraucht hatten. Der Sprachwechsel von Volksgruppen ist eine bekannte linguistische Erfahrung, eben deshalb kann man aus der Sprache nicht unmittelbar auf die Abstammung einer Ethnie zurückfolgern. Sprachlich und ethnisch homogene Völker sind eigentlich eine Rarität und nicht die Regel in der Menschheitsgeschichte. Nur der moderne Nationalstaat will sprachlich homogen erscheinen, und ihre entschlossenen nationalistischen Befürworter denken, es sei auch unerlässlich. Dieser Anspruch ist aber kaum älter als zwei Jahrhunderte.

Mit der immer engeren Verflechtung der menschlichen Beziehungen in der modernen Welt verschwinden trotzdem rasch viele einst gebrauchte lokale Sprachen, und die üppige Sprachvielfalt der Welt reduziert sich von Jahr zu Jahr. Schon heute dominieren große regionalen Sprachen als allgemein gebrauchte Verkehrssprachen in einzelnen Weltteilen, so das Englische, Chinesische, Indische, Spanische und Portugiesische, Arabische, Französische, Russische und dergleichen, die von über hundert Millionen Menschen gesprochen werden. Dass Englisch auf den Status einer Art Globalsprache (Globish) gehoben wurde, ist wohl auf das Britische Imperium, und später auf den raschen ökonomischen Aufstieg und technischen Fortschritt sowie das politische Gewicht der Vereinigten Staaten zurückzuführen. In Wissenschaft und Technik, Finanzwelt und Internet ist English die „lingua franca“ der Moderne geworden, eine allgemeine Verkehrssprache wie Latein im Mittelalter. Außer den etwa 500 Millionen Menschen, die sie als Muttersprache bedienen, sind noch einmal so viele, die English als zweite Sprache benutzen. All das beweist, dass die Norm der Zukunft in die Richtung einer allgemeinen Zweisprachigkeit weist und die Benutzung einer einzigen homogenen Nationalsprache eher eine Ausnahme bleibt.

Es ist bekannt, dass „Globish“ auch die am meisten gebrauchte Verkehrssprache in der EU ist. Gleichberechtigt, aber nicht gleich viel benutzt ist die französische, als die mit anderen südeuropäischen Sprachen verwandte neulateinische Sprache. Mit dem Ausscheiden des „Vereinigten Königreichs“ werden nun Stimmen laut, wonach diese Vormachtstellung des Englischen geändert werden sollte. Ich bezweifle zwar, dass es dazu kommt, glaube jedoch, dass der von etwa 100 Millionen Menschen gesprochenen deutschen Sprache – das ist die höchste Zahl in der Europäischen Union – in der Zukunft eine höhere Rolle zukommen wird.

Das mag eine wichtige Botschaft für unsere besorgte nationale Minderheit sein. Wir sollten weder im Gestern noch in unseren nationalen Beschwerden verharren, sondern sollten eher in die Zukunft blicken. Es ist nicht verboten, sondern dringend  dazu zu raten, neben der genormten ungarischen Nationalsprache, die wir ohnehin aneignen und gebrauchen, unsere ursprüngliche deutsche Sprache gründlich zu erlernen und zu pflegen. (Das ist hilfreich auch beim Studium des Englischen, das in ihrer Tiefenstruktur ja eine germanische Sprache ist.)

Heute gibt es dafür viel bessere Möglichkeiten als in den vorigen Jahrzehnten. Wir sollten darauf bestehen, die Zahl von sporadisch vorhandenen Kindergärten und Schulen mit Deutschunterricht weiter auszubreiten. Dabei dürften wir nicht ausschließen, sondern eher willkommen heißen jene ungarischen Mitbürger, die in diesem Kurs mitkommen wollen. Jeder weiß, dass die deutsche Sprache in unserer mitteleuropäischen Region einst viel weiter verbreitet und gebraucht war. Der Eiserne Vorhang hat die Wirtschaftsbeziehungen abgeschnitten, aber heute sind die Grenzen offen, und wir sind in einen breiteren Wirtschaftsraum eingebunden. Das Internet kann auch behilflich sein bei der Aneignung der deutschen Sprache, es gibt mehrere günstige Internet-Plattformen für Sprachlerner. Auch die Reisefreiheit ermöglicht es, Erfahrungen in einer deutschsprachigen Umgebung zu sammeln. Eltern, für die ihre deutsche Wurzeln wichtig sind, sollten Wert darauf legen, die Sprache ihrer Vorfahren den Kindern beizubringen. (Oder auch sich selbst weiterbilden, wenn ihre Sprachkenntnisse schon verblasst sind.) Das ist die einzige sichere Grundlage, auf der unsre ungarndeutsche Identität weiter gepflegt und unsere Tradition aufrechterhalten werden kann.

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